21. Oktober 2024
Nach Umfragehochs in den vergangenen Jahren träumte die Sinn Féin davon, bald zum ersten Mal die Regierung in Irland stellen zu können. Nun stehen Parlamentswahlen an – doch die Partei verliert an Unterstützung.
Die Vorsitzende der Sinn Féin Mary Lou McDonald bei einer Rede.
Im vergangenen Sommer hatte die irische Sinn Féin zwei bedeutende Wahlen zu absolvieren. Diese galten auch als Stimmungstest für die zukünftigen politischen Ambitionen der Partei. In Nordirland lief alles nach Plan: Sinn Féin überholte die Democratic Unionist Party (DUP) und wurde bei den britischen Parlamentswahlen zur führenden Partei der Region Nordirland. Damit gelang der Partei ein Hattrick, nachdem sie die DUP bereits bei den Wahlen zur nordirischen Nationalversammlung 2022 und bei den Kommunalwahlen 2023 hinter sich gelassen hatte.
Weiter im Süden, in der Republik Irland, hingegen erwiesen sich die diesjährigen Kommunal- und Europawahlen als herber Rückschlag. Angesichts der (spätestens) im Frühjahr 2025 anstehenden Parlamentswahlen hoffte man bei Sinn Féin, die frühere Position als in den Umfragen beliebteste Partei des Landes zu festigen. Stattdessen wurde sie hinter Fine Gael und Fianna Fáil, den beiden traditionell dominierenden Mitte-Rechts-Parteien, nur drittstärkste Kraft. Bei beiden Wahlen am 7. Juni lag der Stimmenanteil von Sinn Féin bei weniger als der Hälfte der 24,5 Prozent, die sie noch bei den Parlamentswahlen 2020 erreicht hatte.
Nun soll nicht nahegelegt werden, diese Ergebnisse könnten direkte Hinweise darauf geben, wer im kommenden Jahr die neue Regierung in Dublin führen wird. Beispielsweise lag die Wahlbeteiligung 2020 bei 63 Prozent, wohingegen sie bei den Kommunal- und Europawahlen dieses Jahr gerade einmal halb so hoch war. Dennoch bieten die jüngsten Ergebnisse sowie die Meinungsumfragen im Vorfeld der nächsten großen Herausforderung für Sinn Féin wenig Grund zur Freude.
In den vergangenen drei Jahren ist viel passiert. Im Juli 2021 zog Sinn Féin in den Meinungsumfragen erstmals an der Fine Gael vorbei, nachdem die beiden Parteien in der ersten Jahreshälfte um die Führungsposition gerungen hatten. Sinn Féin blieb in jeder nachfolgenden Umfrage bis Mai 2024 an der Spitze. Ihr durchschnittlicher Zuspruch in den Sonntagsfragen 2022 lag bei 34 Prozent; im Folgejahr sackte er leicht auf 32 Prozent ab.
Doch dann ging es abwärts. Zwischen Januar und Ende Mai 2024 lag Sinn Féin bei durchschnittlich etwas über 26 Prozent. In zwei Umfragen kurz vor den Kommunal- und Europawahlen zog Fine Gael dann mit Sinn Féin gleich; seit Juni liegen die Konservativen in jeder Umfrage vorne. Wenn Sinn Féin nicht bald die Trendwende schafft, wird sie ihr gutes Ergebnis von 2020 nicht wie geplant übertreffen können. Ihre Chancen, tatsächlich die nächste Regierung zu stellen, stehen derzeit schlecht.
Zum aktuellen Stand der Dinge gibt es zwei Punkte anzumerken. Erstens hatte Sinn Féin bis 2020 bei einer Wahl in der Republik Irland nie mehr als 14 Prozent der Stimmen erhalten. Als die Partei in den Umfragen regelmäßig bei 30 Prozent oder mehr stand, hatte mehr als die Hälfte derjenigen, die angaben, für Sinn Féin stimmen zu wollen, dies bei vorherigen Wahlen noch nie getan. In Zeiten politischer Wankelmütigkeit beim Wahlvolk sind Prognosen und geäußerte Wahlabsichten mit Vorsicht zu genießen. Eine Partei ist erst wirklich erfolgreich, wenn sie am Wahltag die Schäfchen ins Trockene holt. Zweitens – und andererseits – schien Sinn Féin nach den letzten Kommunal- und Europawahlen ebenfalls in einer sehr schwachen Position zu sein. Nur einige Monate später erzielte die Partei ihr bisher bestes Wahlergebnis. Die Führung von Sinn Féin dürfte aktuell aber nicht mit einer ähnlichen Wende rechnen wollen beziehungsweise rechnen können.
Um zu erklären, wie Sinn Féin in diese Lage geraten konnte, müssen wir uns die Pläne ansehen, die ihre Führung ausgearbeitet hat, als die Partei in den Umfragen noch auf dem Höhepunkt war. Ebenso müssen wir analysieren, wie ihre konservativen und rechten Gegner die Einwanderungspolitik und die entsprechenden Debatten so manipuliert haben, dass dies äußerst negative Auswirkungen für die Zukunft jeglicher linker Politik haben dürfte.
Für gewisse Kommentatoren ist das eigentliche Rätsel nicht die derzeitige Unterstützungsflaute für Sinn Féin, sondern vielmehr die Tatsache, dass so viele Menschen überhaupt einst geneigt waren, für die Partei zu stimmen. Nach Jahren des selbstgefälligen Hypes um das »keltische Comeback« konnte das politische Establishment in Irland seinen Augen kaum trauen, als die linksgerichtete Sinn Féin 2020 plötzlich die meisten Stimmen auf sich vereinigte.
Der Ökonom Terry McDonough fasste später zusammen, warum das tatsächlich recht konstante Wirtschaftswachstum die Stimmung in großen Teilen der Bevölkerung, die mit dem Status quo unzufrieden sind, nicht sonderlich verbessert hat: »Die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen für jüngere Arbeiter haben sich von der Finanzkrise immer noch nicht erholt. Die Arbeitslosigkeit unter den unter 35-Jährigen ist 2019 höher als 2006. Und das, obwohl auch die Erwerbsquote der unter 35-Jährigen erheblich gesunken ist. Junge Menschen sind [heute] darüber hinaus deutlich wahrscheinlicher in einer prekären Beschäftigungssituation. Etwa 30 Prozent der Arbeiter unter 30 Jahren arbeiteten 2019 in Teilzeit, fast doppelt so viel wie 2006. Mehr als jeder vierte Arbeiter unter 30 Jahren hat einen befristeten Vertrag [...] Der durchschnittliche Wochenlohn ist seit der Finanzkrise real um weniger als acht Prozent gestiegen, während die Durchschnittsmieten im gleichen Zeitraum um 36 Prozent gestiegen sind (in Dublin sogar um 44 Prozent). Die jungen Leute sind überproportional häufig Mieter, und nur wenige junge Arbeiter verdienen genug, um sich auch nur eine bescheidene Hypothek [für Investitionen] im irischen Wohnungsmarkt leisten zu können. Wer keinen unbefristeten Arbeitsvertrag hat, hat kaum Chancen auf eine Hypothek. Es ist daher nicht überraschend, dass 2017 fast die Hälfte aller 25- bis 29-Jährigen bei ihren Eltern lebte.«
Auch Aidan Regan betonte einige Jahre später, die vermeintlich rosigen BIP-pro-Kopf-Zahlen, die diverse irische Regierungen jahrelang wie eine Trophäe vor sich her trugen, würden wenig über die realen Lebensumstände vieler Irinnen und Iren aussagen: »Eine genauere Messgröße wäre der tatsächliche individuelle Verbrauch (AIC) pro Person. Denn dieser wird an die lokale Kaufkraft angepasst. Sprich: Er berücksichtigt, wie lange das Geld reicht. 2022 liegt Irland bei diesem Wohlstandsmaß 13 Prozent unter dem EU-Durchschnitt. Wir fallen in der EU-27 damit vom 2. auf den 15. Platz. Irland schneidet sogar schlechter ab als Rumänien. Diese Beobachtung hat verständlicherweise für Verwirrung gesorgt: Bedeutet dies also, dass Einkommen, Löhne und Beschäftigungsmöglichkeiten in Rumänien besser sind als in Irland? Nein. Aber die Zahlen zeigen an, dass das verdiente Geld in Rumänien, angepasst an die lokale Kaufkraft, länger reicht. Der Hauptgrund, warum Irland in der AIC-Rangliste nach unten rutscht, ist also, dass es hier so verdammt teuer ist. Die Preise in Irland liegen 42 Prozent über dem EU-Durchschnitt, während sie in Rumänien 54 Prozent unter dem EU-Durchschnitt liegen.«
Dieser Kontext erklärt, warum Sinn Féin mit einem sozialdemokratischen Wahlprogramm deutlich an Unterstützung gewinnen konnte. Insbesondere der Wohnungsmarkt war dabei ein Schlüsselfaktor. Viele Menschen sind unzufrieden angesichts der stetig steigenden Preise; der Erwerb von Wohneigentum ist für sie praktisch ausgeschlossen und sie sind auf einen privatwirtschaftlichen Mietsektor angewiesen, in dem Zwangsräumungen eine allgegenwärtige Bedrohung darstellen.
Man sollte die vermeintliche Radikalität des Programms von Sinn Féin nicht überbewerten, wie es einige Gegner der Partei zu tun pflegen. Ihr Ziel ist es lediglich, Reformen im Rahmen eines kapitalistischen Wirtschaftssystems durchzuführen. Das Gleiche könnte man von jeder nominell linken Partei oder Allianz sagen, die in den vergangenen zehn Jahren in Europa auch nur in Greifweite der Machtausübung gekommen ist, von Syriza in Griechenland über die britische Labour Party unter Jeremy Corbyn bis hin zur französischen Nouveau Front Populaire im Sommer 2024.
Tatsächlich ist das Regierungsprogramm von Sinn Féin jedoch weniger ehrgeizig als die Wahlversprechen, die die Linke im UK oder in Frankreich vorgelegt hat. Die wichtigsten Versprechen in Irland sind die Bewältigung der Wohnungskrise durch das Schaffen von 300.000 neuen Wohnungen in fünf Jahren (mit einer Mischung aus öffentlich-sozialem und privatem Wohnungsbau) und der Aufbau eines einheitlichen nationalen Gesundheitsdienstes anstelle der bestehenden Mischstruktur. Diese Vorhaben erscheinen moderat, wären aber dennoch ein ambitionierter Reformplan in einem Staat, in dem noch nie eine sozialdemokratische Regierung an die Macht gewählt wurde.
Selbst wenn Sinn Féin im Laufe des vergangenen Jahres keine derartigen Verluste in den Umfragen erlitten hätte und heute weiterhin gut dastände, wäre dies keine Garantie dafür, dass die Partei nach der nächsten Wahl tatsächlich das Regierungsruder übernehmen könnte. Denn das letzte Mal, dass Irland eine Einparteienregierung hatte, war in den 1980er Jahren. Jede Regierung seither war eine Koalition. Diesem Szenario würde sich auch Sinn Féin gegenübersehen – es sei denn, die Partei würde 2025 einen (höchst unwahrscheinlichen) Erdrutschsieg davontragen.
Im Großen und Ganzen hätte Sinn Féin dann zwei theoretische Optionen zur Auswahl. Eine davon wäre die Bildung einer moderaten Linksregierung, wenn die Wahlergebnisse dies zulassen. Auf dem Papier scheint das kein unrealistisches Ziel zu sein: 2020 wurden knapp 70 Abgeordnete ins irische Parlament gewählt, die in irgendeiner Form als »links der Mitte« stehend angesehen werden können. Für eine Mehrheit sind 84 Sitze erforderlich; es wäre also kein riesiger Stimmenzugewinn gegenüber 2020 nötig, um tatsächlich eine progressive Koalition möglich zu machen.
In der Praxis wären die Dinge jedoch weitaus komplizierter, als diese Zahlen vermuten lassen. Das zeigt ein genauerer Blick auf die Kräfte, aus denen sich die irische Linke zusammensetzt. Einerseits gibt es diejenigen, die im politischen Spektrum eine radikalere Position als Sinn Féin einnehmen. Dies sind hauptsächlich zwei trotzkistische Gruppen, People Before Profit und Solidarity, sowie einige unabhängige Abgeordnete wie Joan Collins und Thomas Pringle. People Before Profit hat seine Bereitschaft erklärt, über die Bildung einer linken Regierung zu diskutieren, wenn damit eine erneute Regierung unter Fine Gael und/oder Fianna Fáil ausgeschlossen werden kann. In diesem Szenario würden sozialistische Abgeordnete vermutlich lieber eine von Sinn Féin geführte Koalition von außen dulden als selbst Ministerposten anzunehmen. Diese Kräfte würden versuchen, ihren (relativ bescheidenen) Einfluss zu nutzen, um das Regierungsprogramm unter Sinn Féin weiter nach links zu verschieben.
Ähnliches kann man von der Labour Party oder den Grünen sicherlich nicht behaupten. Diese Parteien haben seit 2007 mit Ausnahme von vier Jahren stets als Juniorpartner von Fianna Fáil, Fine Gael oder beiden großen konservativ-liberalen Parteien abwechselnd Regierungsverantwortung getragen. Labour- und Grünen-Politiker waren nach dem Finanzcrash von 2008 nur allzu gerne bereit, Austeritätsprogramme umzusetzen, und zeigen keinerlei Willen, mit den konservativen Mustern in der irischen Politik zu brechen. Entsprechend sind sie immer höchst empfänglich für die Predigten von Medienkommentatoren, die sie an ihre vermeintliche Pflicht erinnern, die rechten Parteien in der Regierung zu unterstützen, statt zu kritisieren (dies sei schließlich im nationalen Interesse).
Maximal können Labour und Grüne dementsprechend nur als notwendige Stimmenbeschaffer für eine progressive Allianz dienen. Schlimmstenfalls wären sie in einer solchen Koalition ein gewaltiger Unsicherheitsfaktor – und ein willkommenes Einfallstor für Druck und Kritik seitens derjenigen Kräfte, die eine progressive Regierungspolitik stören wollen.
Bleiben noch die Social Democrats, eine von zwei Labour-Linksabweichlern im Zuge der Finanzkrise gegründete Truppe. Die Mehrheit der aktuellen Abgeordneten der Partei, einschließlich ihrer Vorsitzenden Holly Cairns, wurde erstmals 2020 ins irische Parlament gewählt. Was die Ideologie betrifft, so unterscheiden sich die Social Democrats nicht wesentlich von Labour oder den Grünen. Dass es die Partei in Reaktion auf die Turbulenzen der vergangenen 15 Jahre überhaupt gibt, zeigt allerdings, dass sie weniger gewillt ist, lediglich die Rolle des Steigbügelhalters für das konservative Establishment zu spielen. Bei der konservativen irischen Kommentatorenschaft sorgt das für erhebliche Irritation. Dort wünscht man sich, dass die Social Democrats wieder mit Labour fusionieren oder sich zumindest annähern, damit die Linksabweichler wieder »vernünftig« werden und sich ausreichend angepasst verhalten.
Wenn die zukünftige Parlamentszusammensetzung es unmöglich macht, eine linke Regierung irgendeiner Art zu bilden, wäre der andere mögliche Weg für Sinn Féin, ein Bündnis mit einer der Mitte-Rechts-Parteien einzugehen. Dies stünde natürlich nur dann zur Debatte, wenn entweder Fine Gael oder Fianna Fáil tatsächlich bereit wären, mit Sinn Féin zusammenzuarbeiten. Fianna Fáils durchschnittlicher Umfragewert lag im Jahr 2023 bei 18,5 Prozent – etwas mehr als die Hälfte des Wertes von Sinn Féin. Es ist schwer vorstellbar, welchen zwingenden Grund es für Fianna Fáil geben könnte, ihre derzeitige gleichberechtigte Partnerschaft mit Fine Gael gegen eine untergeordnete Rolle an der Seite von Sinn Féin einzutauschen. Das größte Hindernis für eine solch ungewöhnliche Koalition zwischen Sinn Féin und Fianna Fáil läge ohnehin nicht im Bereich der politisch-parlamentarischen Kompromissfindung, sondern vielmehr in den sehr konträren Klassenansichten und -verständnissen der beiden Parteien.
Nach dem überraschenden Wahlerfolg 2020 startete Sinn Féin umgehend eine Charmeoffensive, um die Geschäftswelt zu beruhigen (die freilich nicht auf Wählerstimmen angewiesen ist, um den politischen Prozess zu beeinflussen). Die Parteivorsitzende Mary Lou McDonald und ihr Finanzsprecher Pearse Doherty trafen diverse Unternehmenschefs und Lobbygruppen, um diesen zu versichern, dass man keinerlei Absicht habe, das bisherige irische Wirtschaftsmodell – das in hohem Maße auf ausländischen Direktinvestitionen (FDI), insbesondere von US-Unternehmen, beruht – zu verändern.
Wie McDonald gegenüber der US-amerikanischen Handelskammer in Irland 2023 versicherte: »Die Sicherung ausländischer Direktinvestitionen und die Stärkung unserer Geschäftsbeziehungen mit den USA werden auch weiterhin ein wichtiger Bestandteil der irischen Wirtschaftsstrategie sein.« Ein PR-Manager, der Treffen mit Unternehmensvertretern arrangiert hatte, sagte Joe Brennan von der Irish Times, diese Bemühungen trügen für Sinn Féin erste Früchte: »Viele hätten anfangs befürchtet, dass diese Leute [Sinn Féin] die Barbarenhorden vor den Toren Roms seien. Aber das Feedback ist inzwischen, dass sie hinter verschlossenen Türen viel pragmatischer sind, als sie in der Öffentlichkeit erscheinen – auch wenn bei der nächsten Wahl nicht erwartet werden sollte, dass die populistische Rhetorik abgeschwächt wird.«
Eine andere Quelle, die mit dem laufenden Dialog vertraut ist, erklärte gegenüber Brennan, einige in Irland tätige Unternehmen seien für die Botschaften von Sinn Féin empfänglicher oder zumindest entspannter als andere: »US-amerikanische multinationale Konzerne sind außerhalb ihrer eigenen Länder meist ohnehin nicht politisch. Sie passen sich im Ausland ständig an und kommen mit Regierungswechseln klar. Aber die irische KMU-Landschaft ist da ganz anders. Diese Unternehmen sind ziemlich politisch und die Menschen haben starke ideologische Ansichten. Bei größeren Unternehmen geht es mehr um die konkrete Politik, bei den KMU mehr um die Ideologie. Und ich bin mir nicht sicher, ob letztere schon überzeugt sind.«
KMU steht für kleine und mittlere Unternehmen, sprich: Firmen mit weniger als 250 Angestellten und einem Jahresumsatz unter 50 Millionen Euro. Diese Firmen mögen im Vergleich zu Google oder Facebook (beide haben ihren europäischen Hauptsitz in Irland) mickrig erscheinen, bilden gemeinsam aber einen bedeutsamen (Wirtschafts-) Faktor. Darüber hinaus hätten irische KMU mehr zu verlieren als die US-Giganten, wenn es einer progressiven Regierung gelingen sollte, ein erfolgreiches Reformprogramm umzusetzen.
Sinn Féin hat bereits ausgeschlossen, das irische Unternehmenssteuersystem zu ändern. Ebenso hat die Partei gegenüber einem einflussreichen Vermögensverwaltungsunternehmen deutlich gemacht, rein wirtschaftspolitisch stehe man eher Tony Blair als Jeremy Corbyn nahe. Andererseits gibt es Bereiche, in denen Sinn Féin sich ernst- und glaubhaft um Reformen bemühen muss, um bei den nächsten Wahlen keine Niederlage zu erleiden. Das Paradebeispiel ist die Wohnungskrise.
Anhand dieser lässt sich auch erklären, warum KMU-Eigentümer der Partei feindlicher gegenüberstehen als große Player im Bereich der ausländischen Direktinvestitionen. Es geht nicht nur darum, dass erstere ideologischer sind; sie sind auch viel stärker im irischen Wohnungswesen und Wohnungsmarkt involviert. US-amerikanische Tech-Unternehmen haben vermutlich kein besonderes Interesse daran, politische Maßnahmen zu behindern, die das Angebot an Sozialwohnungen erhöhen oder die Rechte von Mietern stärken würden. Vielleicht sogar im Gegenteil; schließlich machen es die überbordenden Wohnungskosten für sie schwieriger, qualifizierte Arbeitskräfte anzulocken.
Gleiches kann man sicherlich nicht von den einheimischen kapitalistischen Kräften behaupten, die ein sehr großes Interesse an Immobilien und ihren diversen Nebenprodukten haben. Darüber hinaus gilt dies auch für Geierfonds in ausländischem Besitz, die irische Häuser und Wohnungen en masse aufkaufen, um sie teuer zu vermieten. Es geht also nicht um einheimisches oder ausländisches Kapital an sich, sondern vielmehr darum, in welchen Branchen es seine Gewinne erzielt.
In seinem Buch Money (2018) bietet Conor McCabe einen hervorragenden Überblick über die relevanten Akteure und ihrer festgefahrenen Positionen innerhalb des irischen Staates: »Wir haben es nicht nur mit der Beziehung zwischen Immobilienspekulanten und politischen Parteien zu tun. Wir reden hier auch über Banken, Bodenspekulanten, Immobilienmakler, Versicherungsgesellschaften, das Finanzministerium, die Zentralbank, die Steuerbehörden, Steueranwälte, die Wohnungsagentur, Immobilieninvestmentfonds, das Amt des Taoiseach [des Regierungschefs] sowie das Ministerium für Wohnungswesen und Kommunalverwaltung […] Die wirtschaftlichen Klasseninteressen haben eine institutionelle, institutionalisierte Form: Sie werden durch den Staatsapparat und die Arbeitsweise des Staates unterstützt und aufrechterhalten. Sie sind tief in unseren Rechts- und Steuersystemen verankert, die beide den Interessen von Spekulanten und Finanziers Vorrang vor dem Gemeinwohl einräumen. Sie sind insgesamt in unseren Banken sowie in den Regulierungsbehörden und den politischen Referaten all unserer Regierungsabteilungen verankert.«
McCabe schrieb dies, bevor sich die Aussicht auf eine potenziell von Sinn Féin geführte Regierung konkretisierte, warnte aber bereits, dass jede ernsthafte Reform im Bereich Wohnen auf starken Widerstand stoßen würde: »In Irland gibt es seit 40 Jahren den Trend, den sozialen Wohnungsbau abzubauen. Und die Klasse, die davon profitiert, wird nicht zulassen, dass irgendeine Krise der einfachen Leute diesen Trend umkehrt. Tatsächlich war der Ausverkauf unseres öffentlichen Wohnungsbestandes, die fast vollständige Privatisierung des Mietsektors und die Schaffung des Mythos, dass Wohneigentum irgendwie in unserer DNA liegt, einer der großen ideologischen Erfolge dieser Klasse. Sie werden das für nichts und niemanden aufgeben.«
Diese Situation wäre auch das größte Hindernis für die Bildung einer stabilen Koalition zwischen Sinn Féin und Fianna Fáil (oder Fine Gael). Selbst wenn Sinn Féin seine Reformbestrebungen ausschließlich auf den Bereich Wohnen beschränken würde, käme es zu Kollisionen mit Interessen, die extrem eng mit den konservativen Parteien verwoben sind. Das sollte auch im Hinterkopf behalten werden, wenn wir uns später ansehen, wie sich diese liberal-konservativen Parteien in den vergangenen zwei Jahren in Bezug auf die Migrationsfrage und dem Aufkommen einer rechtsextremen Protestbewegung verhalten haben.
Nördlich der irisch-irischen Grenze gab der Belfast Telegraph diesen Sommer eine Umfrage zur Einstellung der Bevölkerung mit Blick auf Migration in Auftrag. Dies geschah kurz nach den Ausschreitungen in britischen Städten und Gemeinden, die über die Irische See teilweise auch nach Irland hinüberschwappten. Es zeigten sich auffällige Unterschiede zwischen Nationalisten [die ein vereinigtes Irland fordern] und Unionisten [die Teil des Vereinigten Königreichs bleiben wollen]: Nur 13 Prozent der Nationalisten waren der Ansicht, die derzeitige Zuwanderung sei zu hoch, verglichen mit 82 Prozent bei den Unionisten.
Das bedeutet nicht, dass irische Nationalisten gegen Rassismus oder Xenophobie immun wären. In der nordirischen Politik gibt es derzeit jedoch eine starke Verquickung aus Anti-Migrationsstimmung mit britischem Nationalismus. Das erklärt, warum die Meinung entlang dieser Linien derart gespalten ist. Die Umfrage erinnert dementsprechend auch daran, dass Feindseligkeit gegenüber Migrantinnen und Migranten nicht einfach davon abhängt, wie viele Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt in ein Land einreisen. Es bedarf vielmehr des Agierens gewisser politischer Kräfte und Ideologien, um Migration als ökonomische oder gar zivilisatorische Bedrohung wahrzunehmen.
Zwischen 2013 und 2023 war das Bevölkerungswachstum in Irland mit 14,4 Prozent nach Malta und Luxemburg das dritthöchste in der EU. Ab 2021 gab es einen deutlichen Anstieg der Migration von außerhalb der EU, wobei im Jahr 2023 knapp 76.000 Menschen nach Irland migrierten. (Das sind übrigens immer noch weniger als 1,5 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes.) Ausschlaggebend dafür waren vor allem die rund 100.000 ukrainischen Geflüchteten, die in den Monaten und Jahren seit Beginn der russischen Invasion nach Irland kamen.
Die Statistiken bieten politischen Scharfmachern, die Migrantinnen und Migranten für die Wohnungskrise verantwortlich machen wollen, eine Steilvorlage. Bezeichnend ist der Slogan »Ireland is full«. In Wirklichkeit liegt das Wohnungsproblem in der Struktur des Immobilienmarktes und den daraus resultierenden Gewinnmargen. Rechtsradikale Aktivisten in Irland haben aber sicherlich kein Interesse an wirklich effektiven Reformen im Bereich Wohnen. Schließlich würde das die sozialen Bedingungen, von denen sie derzeit profitieren, verändern.
Die Kräfte rechts vom politischen Mainstream lassen sich grob in drei Gruppen einteilen. Zunächst gibt es eine lose Truppe parteiloser Abgeordneter mit einem Rechtsaußenprofil. Viele von ihnen haben sich für die Kommunal- und Europawahlen in einem Bündnis namens Independent Ireland zusammengeschlossen. Hinzu kommen zweitens zwei etablierte rechtsradikale Parteien: die Irish Freedom Party (deren Vorsitzender Hermann Kelly einst als Pressesprecher für Nigel Farage im UK tätig war) und die offen neofaschistische National Party, die derzeit in zwei verfeindete Fraktionen gespalten ist, die beide Anspruch auf die Partei, ihre Markenzeichen und das Parteivermögen erheben. Das dritte Element bilden rechtsextreme Influencer, die ihre Kanäle auf Social Media nutzen, um rassistische Propaganda und Desinformation zu verbreiten.
Es handelt sich somit vielmehr um ein breit gefächertes, inkohärentes politisches Milieu als um eine strukturierte Bewegung. Die Trennlinien können durchaus verschwimmen. Bisher hat diese bestenfalls lose verknüpfte Rechte noch keinen derartigen Wahldurchbruch erzielt, wie ihn die radikale Rechte in anderen europäischen Ländern feiern kann. Dennoch haben auch sie bereits heute einigen Einfluss auf die Rahmenbedingungen für politische Debatten.
So spielten die Social-Media-Influencer eine wichtige Rolle bei der Verbreitung eines Aufrufs zu Protesten gegen Notunterkünfte für Asylsuchende. Diese Proteste begannen Ende 2022 in der nördlichen Innenstadt von Dublin und breiteten sich schnell auf andere Teile des Landes aus. Rechtsextreme Propagandanetzwerke wurden mit haarsträubenden Behauptungen überschwemmt, Flüchtlinge seien unter anderem für einen Anstieg der Kriminalität verantwortlich. Die Hetz-Welle erfuhr begeisterte Unterstützung und Beteiligung von hartgesottenen Mitgliedern der kriminellen Unterwelt Irlands.
Die irische Polizei (Gardaí) »reagierte« darauf, indem sie den Protestierenden freie Hand ließ. So konnten diese weitgehend ungestört Straßen und Plätze blockieren. Polizeioberkommissar Drew Harris erklärte, dies sei eine bewusste Strategie. Man werde den Rechtsextremen keine Vorlage bieten: »Konfrontation spielt [den Rechten] in die Hände. Das ist eine Falle, in die wir nicht tappen werden.«
Im November 2023 griffen mehrere reichweitenstarke rechtsextreme Aktivisten einen schrecklichen Vorfall im Stadtzentrum von Dublin auf, bei dem mehrere Kinder am helllichten Tag erstochen wurden. Der mutmaßliche Täter, ein Mann, der 2003 aus Algerien nach Irland kam und später die irische Staatsbürgerschaft erhielt, wartet bis heute auf seinen Prozess. In den sozialen Medien kursierten Beiträge mit Falschinformationen zum Vorfall und dem Aufruf, sich in der Nähe des Tatorts zu versammeln. Gegen 19:30 Uhr kam es auf einer der Hauptverkehrsstraßen Dublins zu regelrechten Straßenschlachten. Busse und Straßenbahnen wurden in Brand gesetzt, was sogar die Aufmerksamkeit der internationalen Medien auf sich zog (beispielsweise von Tucker Carlson, der seine Freude kaum verbergen konnte).
Polizeichef Harris sagte später, niemand habe »diesen Ausbruch der Gewalt vorhersehen können“. Diese Behauptung wurde von Cianan Brennan vom Irish Examiner umgehend widerlegt. Er zeichnete kurz und knapp den zeitlichen Ablauf der Ereignisse nach: »Für Journalisten vor Ort war klar, dass es ab 18 Uhr große Probleme geben dürfte, und die entsprechenden Warnsignale waren schon seit 14:30 Uhr in den sozialen Medien zu beobachten. Dennoch waren kaum Gardaí zu sehen […] Sie können nicht ernsthaft behaupten, überrascht worden zu sein. Denn die Stimmung am Tatort war seit Stunden angespannt.«
Nun hätte man erwarten können, dass der softe Ansatz der Polizei mit Blick auf die rechten Riots in Dublin eine Ausnahme waren. Doch weit gefehlt. Wie die Sunday Times berichtet, haben Vermieter, die im Rahmen eines Regierungsprogramms Wohnungen und Häuser zur Unterbringung von Flüchtlingen zur Verfügung stellen, offenbar Angst. Ein Vermieter berichtet: »Man muss eigentlich verrückt sein, um ein Gebäude an die [zuständige Behörde] International Protection Accommodation Services zu vermieten. Die Regierung wird einen nicht schützen. Wir haben der Polizei Aufnahmen unserer Überwachungskameras zur Verfügung gestellt, auf denen zu sehen ist, wie Leute die Fenster unseres Gebäudes einschlagen. Die waren nicht einmal vermummt. Als Handwerker den Schaden beheben wollten, wurden sie angepöbelt.« Die Polizei habe seine Hilferufe als Nachbarschaftsstreitigkeiten und »a civil matter« abgetan.
Es ist bezeichnend, dass der Wohnungseigentümer anonym auftrat und seinen Namen nicht in der Zeitung lesen wollte. Und es ist nicht überraschend: Es gab mehrere Brandanschläge in verschiedenen Teilen des Landes – nicht selten aufgrund (teils falscher) Gerüchte, dass in den jeweiligen Häusern Geflüchtete untergebracht werden sollen. Es versteht sich von selbst, dass das Einschlagen von Fenstern und das Bedrohen von Handwerkern alles andere als eine »Privatsache« sind, in Irland genauso wie anderswo. Wenn so etwas beispielsweise bei Aktionen gegen energieverschwendende Rechenzentren passieren würde, wäre die Reaktion des irischen Staates alles andere als zurückhaltend.
Denn in den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sich die Gardaí und die irische Staatsanwaltschaft bei Kampagnen von Sozialistinnen, Republikanern oder Umweltschützerinnen stets bereit gezeigt, die Gesetzeslage möglichst kreativ auszulegen, um ein hartes Durchgreifen zu rechtfertigen. So wurden zahlreiche Menschen verletzt oder ebenso absurde wie drakonische Vorwürfe der Nötigung wegen Sitzblockaden erhoben. Mit Blick auf die radikale Rechte holt man hingegen die Samthandschuhe raus und weigert sich, auch nur ansatzweise geltendes Recht durchzusetzen.
Nun muss man nicht auf Verschwörungstheorien auf höchster Ebene zurückgreifen, um sich erklären zu können, was in den vergangenen zwei Jahren in Irland passiert ist. Zahlreiche, sich teils überschneidende Ereignisse sowie geradezu bösartige Gleichgültigkeit und Ignoranz seitens der Regierung, der Polizei und anderer öffentlicher Stellen erklären ebenso gut, warum die aktuelle Stimmung so ist, wie sie ist.
Für die konservativen Regierungsparteien ist der Aufstieg der radikalen Rechten ein Glücksfall. Die Extremisten schaffen eine Dynamik, mit der die eigenen Versäumnisse übertüncht werden. Man kann zusammenfassen: Je chaotischer die Regierung beim Thema Migration zu agieren scheint, desto höher steigt das Thema auf der politischen Prioritätenliste – auf Kosten aller sozialen Anliegen, die Sinn Féin und andere Kritiker des sozialen Status quo ansprechen und damit bis vor einigen Monaten punkten konnten.
Tatsächlich konzentriert sich der Hass der irischen rechtsextremen Bewegung auf Sinn Féin und die radikale Linke – und nicht auf die Politikerinnen und Politiker, die an der Macht sind. Für sie sind Linke vor allem Verräter im Dienste einer globalistischen Verschwörung. Ironischerweise ist ihre eigene »Subkultur« ein besonders lahmer Ableger des angloamerikanischen Kulturimperialismus: Lokale rechtsextreme Ideologen haben beispielsweise die Verschwörungserzählung des »Great Replacement« eins zu eins von den amerikanischen Kollegen übernommen. Die eigene Leistung? Sie verwenden lieber den Begriff »Plantation« – eine Anspielung auf die britische Kolonialbesiedlung im 17. Jahrhundert – um so richtig authentisch irisch zu klingen. Da ist es auch nicht mehr weit zu den McDonald’s-Filialen in Dublin oder Cork, die jedes Jahr am St. Patrick’s Day grün gefärbte Milkshakes verkaufen.
Im Gegenzug zeigt sich die radikale Rechte im Vereinigten Königreich und in den USA begeistert von der irischen Bewegung und verbreitet ihre Botschaften eifrig in den sozialen Medien. Zeitweise stammten zwei Drittel aller Twitter-Posts mit dem Hashtag #IrelandBelongsToTheIrish von britischen und amerikanischen Accounts. Dieses Interesse an den Vorgängen in Irland auf der Plattform von Elon Musk erreichte im Mai dieses Jahres seinen Höhe-, oder besser gesagt Tiefpunkt, mit einem herrlich intellektuellen Austausch zwischen Musk und einem seiner rechten Buddies:
IAN MILES CHEONG: Irland war vor einigen Jahrzehnten sehr wütend auf die Engländer, und jetzt lädt ihre Regierung Zehntausende Afrikaner ein, um alle Kleinstädte zu bevölkern und die Einheimischen dort zu ersetzen. Was soll das?
ELON MUSK: Ja, das habe ich auch gedacht. Die Irish Republic [sic] Army war schon hardcore, aber inzwischen sind die so furchteinflößend wie ein Teddybär.
Musks vermeintliche frühere Bewunderung für die Irish Republican Army lässt sich nicht belegen. Als er ein Kind im von der Apartheid geprägten Südafrika war, reisten allerdings Mitglieder der IRA auf Wunsch von uMkhonto weSizwe in das Land, um Vorarbeit zu leisten für ein Attantat auf eine Sasol-Ölraffinerie. Nun wissen wir nicht, was Musk über diese Aktion denkt, aber man kann davon ausgehen, dass er sie nicht freudestrahlend mit dem Begriff »hardcore« beschreiben würde.
Dies bringt uns zu einem ohnehin bemerkenswerten Punkt über die rechtsextremen »Militanten« in Irland. Wenn diese Personen uns zeigen wollten, wie supermännlich und hyperpatriotisch sie sind, hatten sie stets die Möglichkeit, sich republikanischen Gruppen anzuschließen, die an Angriffen auf Mitglieder der britischen Sicherheitskräfte in Nordirland beteiligt waren. Zwar sind diese Angriffe seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 viel seltener geworden, haben aber nie ganz aufgehört. Derartige Aktionen sind den Rechten aber offenbar zu gefährlich oder könnten mit zu viel Arbeit verbunden sein. Da ist es doch viel besser, seinen Chauvinismus zur Schau zu stellen, indem man Frauen und Kinder bedroht.
Derweil scheint sich die irische Rechte erstaunlicherweise gut mit britischen Nationalisten zu verstehen, die traditionell einen harten anti-irischen Kurs fahren. Auf die Verbindung zwischen Hermann Kelly und Nigel Farage, der seinen Ex-Mitarbeiter liebevoll als »einen großen, starken, strammen Paddy« bezeichnet, wurde bereits hingewiesen. Darüber hinaus reisten einige der Personen, die an der Organisation von Protesten gegen Migranten in Dublin beteiligt waren, im vergangenen Sommer nach Belfast, um an der Seite (und in schönster Eintracht) britischer loyalistischer Paramilitärs zu marschieren, die unter anderem für die Ermordung irischer Katholiken verantwortlich zeichnen.
Die Reaktion von Sinn Féin auf die rechten Proteste bestand zunächst darin, sich bedeckt zu halten und sich nicht zu äußern. Anscheinend hoffte man, dass sich die Sache rasch von selbst erledigen würde. Ab Ende 2023 gab es dann aber eine deutliche Verschiebung in der Rhetorik. Parteichefin Mary Lou McDonald erklärte, dass »es Raum für Menschen geben muss, Fragen [zum Thema Migration] zu stellen«. Ein sehr gut recherchierter Artikel über die Migrationspolitik von Sinn Féin im Januar 2024 trug die doppeldeutige Überschrift: »The Right Turn?«
In dem Artikel wird ein Parteimitglied zitiert, das die parteiinternen Diskussionen beschreibt: »Die Führungsriege spürte Druck von der Kernwählerschaft beim Thema Migration. Es gab Diskussionen darüber, wie wir vorgehen wollen, wenn sich viele unserer Kernwähler diesem Thema widmen. Wir verloren in den Umfragen an Boden; daher waren einige Parteimitglieder der Meinung, es brauche eine starke Geste in Bezug auf Einwanderung. Damit könne man die Menschen zurückgewinnen, die mit unserem Ansatz bei der Migration nicht allzu glücklich sind. Andere bei uns warnten jedoch, dass dies einen gegenteiligen Effekt haben könnte.«
In den Wahlbroschüren von Sinn Féin zu den Kommunal- und Europawahlen im Sommer hieß es: »Die amtierende Regierung hat keinen Plan für die Einwanderung. Ihr Ansatz ist chaotisch. Sinn Féin ist gegen offene Grenzen – Irland muss wie jedes andere Land die Kontrolle über seine Grenzen haben. Sinn Féin wird ein regelbasiertes System schaffen, das fair und effizient ist und mit angemessener Kommunikation mit den Kommunen durchgesetzt wird.«
Welche Aspekte des Regierungsansatzes genau »chaotisch« waren, wurde im Flyer nicht konkret angesprochen. So lässt sich aus dem Pamphlet durchaus herauslesen, die Einwanderungszahlen seien einfach zu hoch und müssten gesenkt werden – egal, wie.
Die Ablehnung angeblich »offener Grenzen« hatte die Partei schon in ihrem Wahlprogramm 2020 zum Ausdruck gebracht. Allerdings bezieht sich der Begriff »offene Grenzen« im von der Rechten durchgesetzten allgemeinen Sprachgebrauch nicht auf ein wirklich offenes System, in dem jeder leben und arbeiten kann, wo er möchte. Vielmehr wird damit der aktuelle, bereits restriktive, Status quo kritisiert sowie jegliche Situationen, in denen die Einwanderungszahlen über Null liegen. Das Wichtigste: Sinn Féin widersprach kaum der falschen Behauptung, Migrantinnen und Migranten würden die Wohnungskrise in Irland verursachen (ebenso wie zahlreiche andere soziale Probleme, für die sie ebenfalls zum Sündenbock gemacht werden).
Man sollte die Möglichkeiten einer Partei wie Sinn Féin, den Duktus und Fokus der öffentlichen Debatte zu verändern, nicht überschätzen. Dennoch lohnt es sich, den Ansatz der irischen Partei mit dem der Nouveau Front Populaire zu vergleichen. Im Wahlprogramm des französischen Linksbündnisses heißt es klar und deutlich, die restriktiven Einwanderungsgesetze von Emmanuel Macron sollten zurückgenommen und Asylsuchenden das Recht auf Arbeit gewährt werden. Außerdem wurde versprochen, »sichere und legale« Migrationswege zu schaffen und den Zugang zur französischen Staatsbürgerschaft zu erleichtern. Hinzu kamen weitere Maßnahmen, die das derzeitige französische System liberalisieren würden.
Niemand kann ernsthaft behaupten, die französische Linke habe auf diesem politischen Schlachtfeld eine leichtere Aufgabe als Sinn Féin. Tatsächlich sieht sich die NFP mit dem Rassemblement National einer etablierten rechtsradikalen Partei gegenüber, die gute Aussichten auf die baldige Machtübernahme im Land hat, sowie einem zentristischen Block um Macron, der sich bemüht, beim Thema Ethnie und französische Identität Marine Le Pen rechts zu überholen. Dennoch gelang es der vereinten Linken, eine ebenso klare wie mutige Position zu beziehen und in diesem Sommer die meisten Sitze in der französischen Nationalversammlung zu gewinnen. Der Ansatz von Sinn Féin hat hingegen mehr mit den sozialdemokratischen Parteien Europas gemeinsam, die in Einwanderungsfragen immer weiter nach rechts gerückt sind.
Das steht exemplarisch für die allgemeine Vorgehensweise von Sinn Féin. Während die Partei einst der politische Flügel einer radikalen Bewegung war, die einen Guerillakampf gegen den britischen Staat führte, ist ihr aktueller Politikstil eher vorsichtig und zurückhaltend: Sie reagiert passiv auf externe Entwicklungen, anstatt zu versuchen, sie zu gestalten und in ihrem Sinne zu prägen. So hat Sinn Féin auch Abstand zu den beiden größten sozialen Bewegungen der vergangenen Jahre – nämlich der Kampagne gegen hohe Wassergebühren und dem Kampf für das Recht auf Abtreibung – gehalten und es lieber anderen überlassen, die politische Führung in diesen Kämpfen zu übernehmen.
Nach einem enttäuschenden Wahlergebnis im Jahr 2016 hatte die Parteiführung ihre Haltung angepasst, um als Juniorpartner von Fianna Fáil in die Regierung eintreten zu können. Die Fianna Fáil lehnte dieses Angebot jedoch ab und ebnete damit unbeabsichtigt den Weg für Sinn Féin, bei den nächsten Wahlen 2020 große Zugewinne zu erzielen. In den vergangenen zwei Jahren wurde nun die Rechte insbesondere auf den Straßen aktiv und versucht, das Kräfteverhältnis nach rechts zu verschieben. Sinn Féin bleibt angesichts dessen erneut auffallend passiv.
Sinn Féin will sich als regierungsfähig erweisen und verstärkt daher die eigene Tendenz, keine allzu radikalen Aussagen zu riskieren. Nach den Wahlen im Juni kritisierte der Abgeordnete John Hearne aus Waterford öffentlich die Führung, sie mache eine unnötige, inhaltslose »Ehrenrunde« auf dem politischen Spielfeld, als ob sie bereits an der Macht wäre. Er forderte seine Partei auf, »sich auf das Wesentliche zu besinnen, [...] auf unser republikanisches Ethos zurückzukommen«, anstatt es allen recht machen zu wollen und »zu versuchen, die neue Fianna Fáil zu werden«.
Nach der jüngsten Wahlschlappe veröffentlichte Sinn Féin ein neues Dokument über das irische Asylsystem. Darin wurden mitfühlende Worte für Menschen, die »durch Krieg, Hungersnot, die eskalierende Klimakrise und anhaltende Ungleichheit aus ihren Ländern vertrieben wurden« mit der Forderung nach »einer genaueren Überprüfung von Abschiebungsanordnungen“ und der »teilweisen Einstufung einiger Länder als sicher« verknüpft. Die Partei nannte keine Beispiele für Länder, die sie als »teilweise sicher« einschätzt, deutete aber an, dass die Ukraine ab 2026 (wenn die EU-Richtlinie über den vorübergehenden Schutz von ukrainischen Geflüchteten ausläuft) in diese Kategorie fallen könnte.
Es besteht kaum Zweifel daran, dass der Rückgang der Umfragewerte von Sinn Féin mit der Konzentration auf das Thema Einwanderung in der öffentlichen Debatte in den vergangenen 18 Monate zusammenhängt. Zwar kann auch davon ausgegangen werden, dass ein Teil der Unterstützung für die Partei während ihrer Umfragehochs in den Jahren 2022 und 2023 relativ unzuverlässig und fluide war. Doch seitdem gab es keine anderen politischen Entwicklungen, die einen so deutlichen Rückgang erklären könnten.
Sinn Féin hat möglicherweise in beide Richtungen gleichzeitig an Unterstützung verloren: Einige der neuen Anhänger sind von der migrationspolitischen Rechtswende enttäuscht, während andere der Meinung sein dürften, dass die Wende noch nicht weit genug geht. Wichtiger ist aber, dass der Fokus auf die Einwanderungszahlen die Aufmerksamkeit der Menschen von den sozialen Problemen abgelenkt hat, die einerseits den Aufstieg von Sinn Féin begründeten und andererseits von der amtierenden Regierung weiterhin nicht angegangen werden.
Darüber hinaus dürfte die Gewalt der rechtsextremen Migrationsfeinde den Regierungsparteien geholfen haben, sich als Hüter der öffentlichen Ordnung aufzuspielen. Es ist eine Rolle, die insbesondere Fine Gael gerne übernimmt. Ihre eigene Geschichte in der irisch-republikanischen Bewegung macht es für Sinn Féin sehr schwer, auf diesem politischen Terrain glaubwürdig zu konkurrieren. Ein entsprechender Versuch von McDonald, dies nach den Ausschreitungen in Dublin zu tun, ging umgehend nach hinten los.
Derzeit scheinen Fine Gael und Fianna Fáil klar auf eine Wiederwahl zuzusteuern, auch wenn dann die bisherige Große Koalition für weitere fünf Jahre fortgesetzt werden muss. Gegebenenfalls finden die beiden Parteien sogar noch einen weiteren Koalitionspartner aus der rechtsradikalen Ecke. Offen rechtsradikale Gruppen erzielten bei den Kommunalwahlen geringe Zugewinne; sie stellen landesweit fünf von 949 Stadträten (darunter drei von 63 im Stadtrat von Dublin). Diese Parteien dürften aber Schwierigkeiten haben, bei einer landesweiten Wahl Parlamentssitze zu gewinnen, und sind derzeit wohl ohnehin zu extrem, um sogar Teil eines Regierungsbündnisses zu werden. Bei einer gewissen Mäßigung könnte dies aber anders aussehen.
Independent Ireland stellte bei der Europawahl zwei relativ bekannte Kandidaten auf und konnte für den Wahlkreis Midlands–North West tatsächlich einen Sitz in Brüssel/Straßburg ergattern. Der erfolgreiche Kandidat, Ciaran Mullooly, zeigte sich deutlich gemäßigter als Niall Boylan, sein Kollege in Dublin. Mullooly entschied sich anschließend, der liberalen Renew-Fraktion beizutreten, anstatt den rechtsgerichteten Europäischen Konservativen und Reformern – was eine Mini-Krise in der noch jungen irischen Partei auslöste. Wenn Independent Ireland es schafft, interne Streits auszuräumen und sich nach außen hin zu mäßigen, könnte die Partei für einen Teil der Wählerschaft eine ernsthafte Alternative zu den etablierten konservativen Kräften werden.
Dies wäre sicherlich auch eine willkommene Entwicklung für Fine Gael, die mit ihren Partnern in der Europäischen Volkspartei (EVP) in vielerlei Hinsicht nicht mehr auf einer Linie liegt. Mainstream-Konservative aus Ländern wie Deutschland greifen inzwischen bereitwillig Ideen der radikalen Rechten zu Migrations- und Umweltfragen auf. Der EVP-Vorsitzende Manfred Weber (CSU) soll geschäumt haben, als die EU-Abgeordneten von Fine Gael für das sogenannte Nature Restoration Law stimmten, das er unbedingt verhindern wollte. Die Führung von Fine Gael würde sich daher zweifellos freuen, wenn sich die irische Politik nach rechts verschiebt, da man dann selbst wieder mehr auf Linie mit den europäischen Verbündeten agieren könnte.
Simon Harris, der Anfang des Jahres Leo Varadkar als Vorsitzenden von Fine Gael und als Premierminister abgelöst hat, hat seine diesbezüglichen Absichten in einem Interview mit der Sunday Times unmissverständlich klargestellt. So verbreitete er falsche Behauptungen über einen Zusammenhang zwischen Obdachlosigkeit und der Zahl der Asylbewerber in Irland. Wenn man keinen Plan hat, um die Wohnungskrise zu bewältigen (außer mehr Steuererleichterungen und Subventionen für private Vermieter), ist die Suche nach Sündenböcken unvermeidlich.
Wie wirksam und erfolgreich diese Taktik der Konservativen ist, wird sich im kommenden Jahr an der Wahlurne zeigen.
Daniel Finn ist Redakteur bei Jacobin.