29. Dezember 2024
Viele Psychologen machen Smartphones und soziale Medien für die Zunahme psychischer Erkrankungen verantwortlich. Dabei ignorieren sie den jahrzehntelangen wirtschaftlichen Niedergang und die wachsende Ungleichheit.
In den USA ist die Selbstmordrate in den vergangenen zwei Jahrzehnten um 35 Prozent gestiegen.
Dank der Bestseller der Psychologin Jean Twenge und des Psychologen Jonathan Haidt ist mittlerweile Allgemeinwissen, was früher noch als umstritten galt: Die psychische Gesundheit, insbesondere bei jungen Menschen, hat sich in vielen westlichen Ländern verschlechtert. Die Evidenz für diesen Trend ist überzeugend und zeigt sich in Medikamentenkonsum, Diagnosen und auch Umfrageergebnissen. In den USA ist die Selbstmordrate in den vergangenen zwei Jahrzehnten um 35 Prozent gestiegen. Gleichzeitig ist der Prozentsatz der Menschen, die ihre psychische Gesundheit als »ausgezeichnet« einstufen, von 43 auf 31 Prozent gesunken. Im Jahr 2024 gaben 43 Prozent der Erwachsenen an, sich ängstlicher zu fühlen als im Vorjahr, ein erneuter Anstieg gegenüber den 37 Prozent im Jahr 2023 sowie den 32 Prozent 2022.
Diese alarmierenden Trends sollten Anlass zu einer intensiven gesellschaftlichen Analyse sein, doch der Fokus – sowohl wissenschaftlich als auch im allgemeinen öffentlichen Diskurs – hat sich zunehmend auf ein einziges Phänomen verengt: die Verbreitung von Social Media. Twenge und Haidt haben beide zu dieser speziellen Sichtweise und Begründung beigetragen, nicht zuletzt mit ihren jeweiligen Büchern Mein Kind, sein Smartphone und ich und Generation Angst. Diese Argumentation hat bereits konkrete Auswirkungen gehabt: mehrere europäische Länder führten Verbote für Smartphones an Schulen ein. Letzteres ist nicht unbedingt etwas Schlechtes, doch muss kritisiert werden, dass die Diskussion über psychische Gesundheit zu stark vereinfacht wird – und die politischen Dimensionen des Problems heruntergespielt.
Fachleuten wie Twenge und Haidt ist es weitgehend gelungen, die Gesundheitskrise auf eine Diskussion über eine einzige Variable zu reduzieren. Die anhaltende Debatte über Social Media sollte aber vielmehr als ein Symptom einer viel tiefergehenden Krise innerhalb der Therapietradition sowie der vorherrschenden Erklärungsmodelle in der Medizin und klinischen Psychologie begriffen werden. Um zu verstehen, warum das so ist, lohnt es sich, einen Blick auf die hochfliegenden Visionen zu werfen, die von Fachleuten für psychische Gesundheit noch vor nicht allzu langer Zeit vertreten wurden.
Bei der Auseinandersetzung mit den Argumenten von Haidt und Twenge ist mir ein Zitat immer wieder in den Sinn gekommen. Steven Hyman, von 1996 bis 2001 Direktor des US-amerikanischen National Institute of Mental Health, schrieb 2003 (dem Jahr, in dem auch das Humangenomprojekt abgeschlossen wurde) in der Fachzeitschrift Scientific American über die rosige Zukunft, die vor uns zu liegen schien: »Durch die Kombination von Neuroimaging und genetischen Studien könnten Ärzte psychiatrische Diagnosen verlagern – weg vom Abhaken von Symptomen auf Checklisten und in Richtung objektiver medizinischer Tests. Gen-Tests von Patienten könnten aufdecken, wer ein hohes Risiko hat, eine Erkrankung wie Schizophrenie oder Depression zu entwickeln. Ärzte könnten bei Hochrisikopatienten dann Neuroimaging einsetzen, um festzustellen, ob die Erkrankung tatsächlich eingetreten ist.«
Obwohl beträchtliche Ressourcen aufgewendet wurden, um diese Vision zu verwirklichen, scheint die Zukunft, die sich Hyman vorstellte, aktuell eher unwahrscheinlich. Das sogenannte »missing heritability problem« [dt. in etwa: »Problem der ungeklärten Erblichkeit«] zeigt auf, dass es weitaus schwieriger ist, die entsprechenden »Anfälligkeitsgene« zu bestimmen, als es die Befürworter des Humangenomprojekts einst erwartet hatten. Das bedeutet: Wir sind noch weit davon entfernt, auch nur eine einzige psychische Störung mithilfe von Neuroimaging diagnostizieren zu können.
Stattdessen ist aber etwas anderes passiert: Die psychische Gesundheit hat sich dramatisch verschlechtert; und dieser Rückgang hat mehrere bisher vorherrschende Erklärungsmodelle in Frage gestellt, insbesondere mit Blick auf die Hirn- und Genetikforschung.
Wenn wir von der Annahme ausgehen, dass chemische Ungleichgewichte im Gehirn für psychische Erkrankungen verantwortlich sind, stellt sich die Frage, was diese Ungleichgewichte aktuell verursacht, da immer mehr Menschen davon betroffen sind? Wenn wir darüber hinaus bedenken, dass es normalerweise tausende Jahre dauert, bis sich der Genpool einer Population verändert, müssen wir auch fragen: Warum hat sich das psychische Wohlbefinden in den vergangenen Jahren derart verschlechtert, wenn die genetische Veranlagung doch gleich geblieben ist? Diese Fragen deuten darauf hin, dass es noch andere Kräfte gibt, die außerhalb des Schädels und der Zellwände wirken.
»Diese alarmierenden Trends sollten Anlass zu einer intensiven gesellschaftlichen Analyse sein, doch der Fokus hat sich auf ein einziges Phänomen verengt: die Verbreitung von Social Media.«
Die Erkenntnis, dass sich der allgemeine psychische Zustand verschlechtert, hat auch die Grundannahme der therapeutischen Kultur erschüttert; die Annahme nämlich, dass die Lösung für unsere psychischen Probleme in psychotherapeutischen Interventionen liegt. Jeder achte Erwachsene in den USA nimmt derzeit Antidepressiva ein; jeder fünfte hat in jüngster Zeit eine psychiatrische Behandlung in Anspruch genommen; seit 2002 ist die Zahl der in Behandlung befindlichen Menschen um fast 15 Millionen gestiegen. Es scheint aber klar, dass diese steigende Zahl der Personen in Behandlungen nicht ausreicht, um die derzeitige Ausbreitung psychischer Erkrankungen einzudämmen.
Gleichzeitig haben in den letzten zehn Jahren umfangreiche Analysen zur Wirksamkeit von Psychotherapien überraschend bescheidene Ergebnisse erbracht: Zusammenfassend zeigen die meisten Studien, dass etwa die Hälfte aller Menschen, die sich einer Psychotherapie unterziehen, einen gewissen Nutzen daraus ziehen, während sich bei etwa fünf Prozent die Probleme sogar verschlimmern. Eine Metaanalyse unter der Leitung des Psychologen Pim Cuijpers bestätigt diese Schätzung für die Behandlung von Depressionen. Seine Studie ergab, dass sich die Lage bei nur etwa einem Drittel der Patienten so weit verbesserte, dass sie nicht mehr als depressiv eingestuft wurden. Angesichts der hohen Wiederkehrquoten bei Depressionen bedeutet dies, dass jemand, der an Depressionen leidet, viele Therapien in Anspruch nehmen muss.
In einer weiteren Analyse, an der insgesamt 650.000 Patientinnen und Patienten mit psychischen Erkrankungen teilnahmen, fassen John Ioannidis und seine Co-Autoren ihre Ergebnisse wie folgt zusammen: »Nach mehr als einem halben Jahrhundert Forschung, Tausenden von [randomisierten kontrollierten Studien] und Millionen von investierten Mitteln sind die Effektgrößen von Psychotherapien und Pharmakotherapien bei psychischen Störungen begrenzt.« Die Forscherinnen und Forscher gehen offenbar auch nicht davon aus, dass sich dies noch ändern wird. Daher schließen sie: »Ein Paradigmenwechsel in der Forschung scheint erforderlich.«
Der Beginn eines solchen Paradigmenwechsels könnte darin bestehen, dass Psychologen ihre Analysen sozusagen »nach außen« verlagern – von den inneren Abläufen des Einzelnen hin zu den Beziehungen, die die Gesellschaft ausmachen und prägen. Bislang halten sich die bekanntesten Theorien jedoch an die interventionistische Logik, die für die therapeutische Kultur charakteristisch ist. Noch wichtiger ist allerdings, dass die bestehenden Argumentationen unter mehreren methodischen Mängeln leiden.
Twenge und Haidt verwenden in erheblichem Umfang Grafiken, die Trends bei Depressionen, Angstzuständen, Selbstmorden etcetera veranschaulichen. Diese Kurven zeigen allesamt einen Anstieg nach 2012 – dem Punkt, den Haidt als »die große Neuverdrahtung« bezeichnet, als Social Media auch auf Smartphones Einzug hielt. Seine Methodik wurde wiederholt kritisiert, weil Korrelation und Kausalität vermischt werden (ein Kritikpunkt, den Haidt in Generation Angst zu klären versucht). Meiner Meinung nach ist jedoch ein deutlich größeres methodisches Problem die Tendenz, aus relativ kurzen Zeiträumen umfassende und vermeintlich allgemeingültige Schlussfolgerungen zu ziehen.
Haidts Grafiken beginnen in der Regel um 2002 und enden um 2018. Sie bieten also lediglich Daten aus 16 Jahren, aus denen dann Verallgemeinerungen abgeleitet werden sollen. Zwar zeigen viele seiner Grafiken tatsächlich einen starken Anstieg psychischer Probleme in den 2010er Jahren, doch dieser begrenzte Zeitraum kann irreführend sein. Wenn Haidt beispielsweise einen dramatischen Anstieg der psychischen Belastungen in den 2010er Jahren bei Teenagern in den nordischen Ländern betont, entsteht der Eindruck, dass zuvor nichts Bemerkenswertes passiert sei. Hier verzerrt der enge Zeitrahmen das Gesamtbild.
Tatsächlich befragt die schwedische Gesundheitsbehörde seit 1986 junge Menschen zu ihrem psychischen Wohlbefinden. Dabei zeigt sich, dass der Anteil derjenigen, die sich fast täglich traurig fühlen, bereits seit den 1980er Jahren kontinuierlich ansteigt.
Anteil der Jungen und Mädchen im Alter von 11 bis 15 Jahren, die angeben, sich in den vergangenen sechs Monaten fast täglich niedergeschlagen gefühlt zu haben (1985/86 bis 2017/18). (Öffentliche Gesundheitsbehörde Schweden)
Auch die Zunahme von Schlafstörungen ist ein bereits seit Längerem anhaltender Trend. Während der stärkere Anstieg von Schlafproblemen und schlechter Stimmung bei Mädchen in den 2010er Jahren durchaus als Beleg für Zusammenhänge mit der Verbreitung von Social Media interpretiert werden könnte, ist klar, dass dies dennoch Teil eines umfassenderen Trends ist, der sich schon seit Jahrzehnten abzeichnet.
Anteil der Jungen und Mädchen im Alter von 11 bis 15 Jahren, die angeben, in den vergangenen sechs Monaten fast täglich Schlafstörungen gehabt zu haben (1985/86 bis 2017/18). (Öffentliche Gesundheitsbehörde Schweden)
Hier ist eine weiterführende Analyse erforderlich. Unabhängig davon, welches Land wir uns anschauen, stellen wir fest, dass es über längere Zeiträume hinweg zu ähnlichen Zunahmen psychischer Probleme gekommen ist: In Norwegen spiegelt sich das Muster aus Schweden wider; auch im Vereinigten Königreich werden seit Längerem drastische Rückgänge des psychischen Wohlbefindens junger Menschen dokumentiert. Laut einer Studie von Psychological Medicine stieg die Prävalenz langjähriger psychischer Erkrankungen bei 4- bis 24-Jährigen zwischen 1995 und 2014 drastisch an. In England versechsfachte sich die Prävalenz, während sie sich in Schottland innerhalb von elf Jahren verdoppelte.
In den USA hat Twenge selbst den langfristigen Anstieg psychischer Probleme festgestellt. 2011 beobachtete sie, dass »nahezu alle verfügbaren Belege auf einen starken Anstieg von Angstzuständen, Depressionen und psychischen Problemen bei westlichen Jugendlichen zwischen dem frühen 20. Jahrhundert und den frühen 1990er Jahren hindeuten«. Bereits 2000 vermutete sie, dass »ein durchschnittliches amerikanisches Kind in den 1980er Jahren mehr Angstzustände [anxiety] aufwies als psychiatrische Patienten im Kindesalter in den 1950er Jahren«.
Betrachtungen über längere Zeiträume sind wichtig, weil sie einen negativen Trend aufzeigen, der sich nicht auf einzelne, isolierte und relativ neue Phänomene wie soziale Medien beschränkt. Twenge und Haidt hatten zuvor bereits diverse Formen soziologischer »Zeitdiagnosen« vorgelegt, um zu erklären, was los sein könnte. Twenge beobachtete lange Zeit eine »narzisstische Kultur«, während Haidt das Problem darin sah, dass im allgemeinen Sicherheitswahn [Safetyism] die Jugendlichen entmündigt und überempfindlich gemacht würden. In beiden Fällen scheint die Basis für psychische Probleme also das zu sein, was Haidt als »gute Absichten und schlechte Ideen« zusammenfasst (so der Untertitel seines Buches The Coddling of the American Mind). Ursachen sind demnach schlechte beziehungsweise falsch verstandene Erziehung und die sogenannte Wokeness. Eine solche Analyse ist alles andere als politisch neutral.
Interessanterweise sind sowohl Twenge als auch Haidt indes bestrebt, wirtschaftliche Faktoren auszublenden oder herunterzuspielen. In Generation Angst tut Haidt dies, indem er den Rückgang der Arbeitslosigkeit in den USA in den 2010er Jahren nach der Finanzkrise anführt: Wenn mehr Menschen Arbeit haben, können wirtschaftliche Faktoren den Rückgang der psychischen Gesundheit schließlich nicht erklären, oder? Natürlich ist das kein sehr differenzierter Ansatz. Vielmehr wissen wir bereits, dass Rezessionen benachteiligte Gruppen noch lange nach ihrem Ausscheiden aus den nationalen Arbeitslosenstatistiken beeinträchtigen können. Darüber hinaus wächst die Ungleichheit weltweit weiter – und es ist belegt, dass Ungleichheit ein starker Prädiktor für eine Verschlechterung der psychischen Gesundheit ist, die durch zunehmende Statusangst noch verstärkt wird.
Derartige ökonomische Probleme lassen sich nur schwer durch therapeutische Interventionen oder politische Einzelentscheidungen lösen. Sie erfordern strukturelle Reformen und Bedarfsanalysen der Gesellschaft als Ganzes.
»Psychische Erkrankungen als das Ergebnis einiger weniger Variablen zu interpretieren, folgt einer technokratischen Logik, die der Politik selbst ihre Bedeutung und Gestaltungskraft nimmt.«
Die mangelnde Bereitschaft, sich mit systemisch verursachtem Leid auseinanderzusetzen, zeigt sich auch, wenn Twenge und Haidt die Risikoaversion junger Menschen ansprechen. Sie mögen richtig liegen, wenn sie bestimmte Verhaltensweisen der Generation Z – weniger Alkoholkonsum, weniger körperliche Auseinandersetzungen, weniger ungeplante Schwangerschaften – als Zeichen zunehmender Ängstlichkeit betrachten. Allerdings übersieht ihre Arbeit völlig die umfangreiche soziologische Literatur darüber, wie nicht nur Einzelpersonen, sondern auch ganze Staaten und Wissenschaften zunehmend auf Risikoprävention fixiert sind. Tatsächlich ist dies ein Forschungsgebiet, das sich seit Ulrich Becks Begriffsprägung der »Risikogesellschaft« vor knapp 40 Jahren immer weiter ausgebreitet hat.
Twenge und Haidt sehen die besagte Risikoaversion hauptsächlich als Ergebnis »gut gemeinter, aber schlecht gemachter« Erziehung. Beck und seine Anhänger hingegen haben seit einiger Zeit nachgewiesen, dass diese Risikoaversion vielmehr das logische Ergebnis moderner Reflexivität und wissenschaftlicher Rationalität ist.
Das Problem auf schlechte Erziehung zu reduzieren, sollte angesichts der Fülle soziologischer Forschung inzwischen unmöglich sein – nicht zuletzt dank der jüngsten Arbeiten von Hartmut Rosa, in denen beschrieben wird, wie sogenannte »Gefahrenräume« oder »Risk Territories« aus tiefgehenden technologischen, wirtschaftlichen und institutionellen Veränderungen resultieren. Im Kern spiegelt die aktuelle Risikoaversion einen Konflikt zwischen organischen Institutionen und einer wachsenden »Expertenelite« wider, der bereits in den 1970er Jahren von Ivan Illich und anderen kritisiert wurde.
Wenn wir andere globale »Megatrends« berücksichtigen, die kürzlich in The Lancet Psychiatry hervorgehoben wurden, um den Rückgang der psychischen Gesundheit von Jugendlichen zu erklären – namentlich steigende Verschuldung, Klimawandel und unsichere Arbeitsplätze sowie Jobaussichten – wird schnell klar, wie die Frage des psychischen Wohlbefindens mit der politischen Sphäre zusammenhängt. Dies sollte man bedenken, bevor in einem fortwährenden Kreislauf des Whataboutism immer neue Variablen in die Debatte geworfen werden. Wie Herbert Marcuse einmal warnte, verstärkt der Operationalismus, der erfahrungsbasierte Konzepte wie Entfremdung auf eine Reihe messbarer Variablen reduziert, eine technologische Rationalität, die radikale Gesellschaftskritik unterbindet.
Ein Grund, warum die Sozialwissenschaft bisher keine endgültigen Antworten auf die Ursachen des sinkenden psychischen Wohlbefindens liefern konnte, könnte darin liegen, dass alle sozialen Probleme – inklusive der von der Sozialwissenschaft noch nicht identifizierten – Auswirkungen auf unsere psychische Gesundheit haben. Bei näherer Betrachtung wäre es auch seltsam, von etwas anderem auszugehen: Psychische Erkrankungen als das Ergebnis einiger weniger Variablen zu interpretieren, folgt einer technokratischen Logik, die den Blick auf die Gesellschaft verstellt und der Politik selbst ihre Bedeutung und Gestaltungskraft nimmt. Man könnte auch fragen: Wenn man nicht der Ansicht ist, dass politische Fragen unser Wohlbefinden prägen, warum sollten wir uns dann überhaupt mit ihnen befassen?
Es ist schon eine Leistung, die anhaltende Krise derart zu verharmlosen, wie es seitens vieler Psychologinnen und Psychologen geschehen ist, wo es doch eine sehr viel naheliegendere Reaktion gewesen wäre, den gegenwärtigen Kapitalismus genauer unter die Lupe zu nehmen. Inzwischen sollte es eigentlich nicht mehr möglich sein, zu behaupten (wie es die Lieblingsintellektuellen von Bill Gates, Steven Pinker und Hans Rosling, lange taten), der Kapitalismus sei eine ewige Erfolgsgeschichte.
Im World Mental Health Survey – der weltweit umfassendsten epidemiologischen Studie zur psychischen Gesundheit, die von der Weltgesundheitsorganisation koordiniert und bisher in dreißig Ländern durchgeführt wurde – lässt sich ablesen, dass psychologische Probleme in den Regionen mit am stärksten ausgeprägten Formen des Kapitalismus ebenfalls weitaus gravierender sind. Bei 17 von 18 psychischen Problemen ist ein konsistentes Muster zu erkennen: Es gibt eine deutlich höhere Prävalenz in Ländern mit hohem Einkommen im Vergleich zu Ländern mit niedrigem oder niedrigem bis mittlerem Einkommen. Dieser eklatante Unterschied (der übrigens nicht durch den Zugang zu Social Media erklärt werden kann, da die Umfragen schon zwischen 2001 und 2011 durchgeführt wurden) steht in krassem Gegensatz zu den Trends im Bereich körperliche Gesundheit/Fitness und wirft durchaus Fragen zum nachhaltigen Wert eines grenzenlosen Wirtschaftswachstums auf.
Die Tendenz, auch unter Linken, solche Ergebnisse damit zu erklären, dass es nun einmal verbesserte Erkennung und Diagnose gäbe, greift zu kurz. Denn die Erhebungen und Messmethoden sind ja gerade darauf ausgelegt, die Prävalenz unabhängig von der psychiatrischen Praxis zu messen. Psychische Leiden sind keine von Geschichte und Entwicklung losgelöste Konstante: Sie nehmen zu. Und das verlangt nach unserer Aufmerksamkeit.
Roland Paulsen ist Associate Professor für Soziologie an der Universität Lund und Autor mehrerer Bücher, darunter das jüngst erschienene Why We Worry: A Sociological Explanation.