27. November 2023
Pedro Sánchez bleibt spanischer Premierminister, aber seine Mitte-Links-Koalition hängt von unbeständigen Verbündeten ab. Die Rechte erhebt unterdessen wilde Behauptungen, spricht von einem vermeintlichen Putsch und ruft nun Justiz und Polizei auf, gegen die Regierung zu agieren.
Präsident Pedro Sanchez (PSOE) und Vize-Präsidentin Yolanda Díaz (Sumar) unterschreiben den Koalitionsvertrag, 24. Oktober 2023.
Im Frühsommer dieses Jahres hätte wohl niemand darauf gewettet, dass Pedro Sánchez Ende November immer noch spanischer Premierminister sein würde. Nach den Kommunalwahlen im Mai, bei denen die rechten Oppositionsparteien deutlich gesiegt hatten, dachten viele, die sozialdemokratische Partei PSOE und ihr Anführer seien politisch tot. Die Umfragen im Vorfeld der Parlamentswahlen am 23. Juli ließen ebenfalls keine Hoffnung auf Besserung aufkommen.
Es sah alles danach aus, dass Madrid eine weitere europäische Hauptstadt werden würde, die von Konservativen und ihren rechtsradikalen Verbündeten erobert wird, so wie zuvor Rom, Stockholm, Helsinki und Athen. Doch es kam anders. Spaniens breit aufgestellte »Linkskoalition« konnte sich behaupten. Ihr Sieg hat einmal mehr gezeigt, dass die einzige bewährte Waffe, um die lokalen Nacheiferer von Donald Trump, Viktor Orbán und Jair Bolsonaro zu besiegen, darin besteht, die eigene Wählerschaft möglichst stark zu mobilisieren.
Bei den Wahlen im Juli erreichten die konservative Partido Popular (PP) und die Nationalisten von Vox überraschend nicht die Mehrheit, mit der weithin gerechnet worden war. Allerdings boten die Ergebnisse auch Sánchez wenig Spielraum. Es gab keine klare linke Mehrheit, und anders als in der vorherigen Legislaturperiode waren diesmal für die Regierungsbildung die Stimmen fast aller Kräfte im Parlament (mit Ausnahme des PP-Vox-Duos) erforderlich. Besonders unwahrscheinlich erschien dabei, die Unterstützung von Carles Puigdemont und seiner katalanisch-nationalistischen Partei Junts per Catalunya (JxCAT) zu bekommen. Diese hatte in der Legislaturperiode 2020-23 konsequent gegen die Regierungsvorhaben von Sánchez‘ PSOE und der linken Unidas Podemos gestimmt.
Angesichts dieser Lage gingen viele Beobachter davon aus, die PSOE werde es nicht schaffen, eine Koalition zu bilden. Möglicherweise müsse es Neuwahlen geben, um die zerfahrene Situation aufzulösen. Doch erneut lagen sie falsch. Sánchez gelang es tatsächlich, eine parlamentarische Mehrheit hinter sich zu vereinen – und Spanien hat heute wieder eine sozialdemokratisch-linke Koalitionsregierung. Nach dem Rücktritt von António Costa in Portugal vor knapp zwei Wochen bleibt Spanien damit eine der wenigen progressiven Hochburgen in der Europäischen Union.
Keine Frage: Pedro Sánchez hat einmal mehr unter Beweis gestellt, dass er politisch widerstandsfähig und nicht so leicht kleinzukriegen ist. Schon seine Autobiografie aus dem Jahr 2019 trägt den Titel Manual de resistencia. Er scheint Stärke unter widrigen Umständen zu finden; er ist ideologisch flexibel und versteht es wie wenige andere, aus der Not eine Tugend zu machen.
Diese Flexibilität zeigte Sánchez schon vor vier Jahren: Während er sich zunächst hartnäckig gegen ein Regierungsabkommen mit der linken Unidas Podemos gewehrt hatte, freute er sich nach der Neuwahl im November 2019 über die Zusammenarbeit mit Podemos-Chef Pablo Iglesias. Die beiden bildeten bald die erste (gemäßigt) linke Koalitionsregierung seit Spaniens Rückkehr zur Demokratie. Über drei Jahre lang verfolgte diese Regierung eine ambitionierte Agenda, die vielen auf dem Kontinent zum Vorbild wurde.
»Die PSOE und vor allem Sánchez selbst haben gezeigt, dass sie allein in der Lage sind, Allianzen mit mehreren Parteien zu schmieden, die doch recht unterschiedliche Interessen vertreten.«
Nun hat Sánchez erneut Geduld, Hartnäckigkeit und vor allem Flexibilität gezeigt: Er hat unter anderem eine Einigung mit einer Partei erzielt, die nur kurz zuvor noch die einseitige Sezession Kataloniens von Spanien gefordert und jegliches Interesse daran bestritten hatte, irgendeiner Regierung in Madrid beizustehen. Im stark fragmentierten Parlament waren die sieben Stimmen von JxCAT entscheidend für die Wiederwahl des PSOE-Chefs zum Premierminister.
Allerdings werden die katalanischen Unabhängigkeitsbefürworter nicht Teil des neuen Kabinetts. Vielmehr wird es sich wie in der vergangenen Legislaturperiode erneut um eine Minderheitsregierung aus PSOE (121 Sitze) und Sumar (31 Sitze) handeln [Sumar ist die von Arbeitsministerin Yolanda Díaz geführte Linkskoalition]. Diese Exekutive wird für ihr politisches Überleben auf die Stimmen des sogenannten »peripheren Spaniens« angewiesen sein, also die verschiedenen regional-nationalistisch geprägten Parteien aus Katalonien (Junts per Catalunya und Esquerra Republicana de Catalunya/ERC, die jeweils sieben Sitze haben), dem Baskenland (Partido Nacionalista Vasco, fünf Sitze, und EH Bildu, sechs), Galicien (Bloque Nacionalista Galego, ein Sitz) und den Kanarischen Inseln (Coalición Canaria, ebenfalls ein Sitz).
Die Unterstützung all dieser Kräfte zu gewinnen, war sicherlich nicht einfach. Doch die PSOE und vor allem Sánchez selbst haben gezeigt, dass sie allein in der Lage sind, Allianzen mit mehreren Parteien zu schmieden, die doch recht unterschiedliche Interessen vertreten. Dass die konservative PP bei den Wahlen die meisten Stimmen errang, ist für sie nicht mehr als ein Pyrrhussieg: Ihre Isolation im Parlament und im Land ganz allgemein wird dadurch noch deutlicher, dass niemand außer den Rechtsradikalen mit ihr koalieren möchte.
Tatsächlich war die angedachte Kollaboration der PP mit der Vox für die Konservativen toxisch, da dadurch faktisch jegliche Zusammenarbeit mit (teils ebenfalls rechten) katalanischen und baskischen Nationalisten unmöglich wurde. Dabei hatte die PP in der Vergangenheit durchaus erfolgreich Bündnisse mit diesen Parteien geschlossen. Vox hingegen spricht sich ganz klar für eine Rezentralisierung Spaniens und gegen jede regionale Autonomie aus. Die baskischen und katalanischen Kräfte haben es daher vorgezogen, eine Mitte-Links-Regierung zu dulden oder zu unterstützen, anstatt sich an die Rechten zu wenden, die den plurinationalen Charakter des spanischen Staates zurückweisen und von denen sie somit nichts zu erwarten haben.
Dennoch wird der Weg für die neue Regierung kein leichter sein. Angesichts einer so diversen Parlamentsmehrheit kann jede einzelne Abstimmung schnell zum Fiasko werden. Es besteht ein sehr reales Risiko, dass das neue Kabinett von Sánchez nicht durchhält. Andererseits wissen die Parteien, die Sánchez unterstützen, dass ein Scheitern dieser Regierung bedeuten würde, Spanien der Rechten zu überlassen. Dennoch ist guter Wille allein oft nicht ausreichend. Alles hängt ab von Fragen wie: Wie kann die politische Agenda der linken Sumar in den Bereichen Sozialpolitik, progressive Besteuerung oder Wohnungsbau mit den Plänen der Rechten bei der Partido Nacionalista Vasco, der Junts per Catalunya oder der Coalición Canaria in Einklang gebracht werden?
»Spaniens Regierung wird rein finanziell weniger Spielraum haben als bisher.«
Hinzu kommt, dass die internationale Konstellation mit den Kriegen in der Ukraine und in Gaza sowie deren wirtschaftlichen Auswirkungen, der Inflation, der Energiekrise sowie der restriktiveren Geldpolitik der Europäischen Zentralbank nicht die beste ist (um es vorsichtig auszudrücken).
Derzeit steht die spanische Wirtschaft im EU-Vergleich zwar sehr gut da; der Internationale Währungsfonds hat kürzlich die Wachstumsprognosen für das Land von 2,5 Prozent im Jahr 2023 und 1,7 Prozent 2024 bestätigt. Allerdings sind die EU-Mittel für den Wiederaufbau nach der Corona-Pandemie (NextGenerationEU) bereits weitgehend verplant. Darüber hinaus soll der Stabilitäts- und Wachstumspakt [sozusagen die Schuldenbremse der EU] im Januar kommenden Jahres wieder in Kraft treten. Kurz gesagt: Spaniens Regierung wird rein finanziell weniger Spielraum haben als bisher.
Politisch gesehen gibt es drei Hauptfaktoren für die Instabilität der neuen Regierung. Der erste ist intern und betrifft Podemos, die linke Kraft, die eine der zentralen Säulen der Sumar-Koalition war. Nach monatelangen Spannungen hat die von Pablo Iglesias (der immer noch ihr unangefochtener Führer ist, obwohl er sich offiziell aus der Politik zurückgezogen hat) gegründete Partei beschlossen, Sumar zu verlassen. Podemos kritisiert Yolanda Díaz als zu moderat. Darüber hinaus sei Podemos in Díaz‘ Team nicht gebührend berücksichtigt und von wichtigen Positionen ausgeschlossen worden. In den vergangenen Monaten hat Iglesias zur Bedingung gemacht, dass Irene Montero (die auch seine Lebensgefährtin ist) als Gleichstellungsministerin zukünftig im Amt bleiben soll.
»Podemos ist heute nur noch ein Schatten ihres früheren Selbst.«
Es sollte hier erwähnt werden, dass Montero für das sogenannte Gesetz zur vollen Garantie der sexuellen Freiheit, meist besser bekannt als »Nur Ja heißt Ja«-Gesetz, sowie für das Gesetz zur Gleichstellung von Trans-Personen und zur Garantie der LGTBI-Rechte verantwortlich ist. Dafür wurde sie von der Rechten mehrfach scharf angegriffen.
Beide Gesetze sind jedoch nicht nur von den Konservativen kritisiert worden, sondern haben auch eine tiefe Krise in der vorherigen Regierung ausgelöst. Das liegt zum einen an der doch recht eigenwilligen Anwendung des »Nur Ja heißt Ja«-Gesetzes durch die Gerichte, die dazu geführt hat, dass mehrere Dutzend Vergewaltiger freigelassen oder ihre Strafe reduziert wurde. Andererseits kam es zu einer Spaltung der Frauenbewegung in Gruppen, die Podemos nahestehen, und solchen, die sich eher von der PSOE repräsentiert fühlen.
Bei Sumar ist man sich der Spaltung zwischen der PSOE und Podemos bewusst und hat Podemos daher ein anderes Ministerium angeboten, das Nacho Álvarez übernehmen sollte. Die Iglesias-Truppe lehnte dies jedoch brüsk ab und Álvarez trat von seinem bisherigen Posten als Staatssekretär für soziale Rechte zurück. Das kann unter anderem noch von Bedeutung sein, da Álvarez eine Schlüsselfigur bei den parlamentarischen Absprachen in der vorherigen Legislaturperiode war.
Sicherlich sind auf beiden Seiten Fehler gemacht worden, aber die kompromisslose Haltung von Podemos ist selbstzerstörerisch, ihre Beschwerden und das Beharren auf ihrer Opferrolle übertrieben. Diese Haltung gefährdet das Überleben der neuen Regierung.
Podemos ist heute nur noch ein Schatten ihres früheren Selbst, aber angesichts der knappen Mehrheit von Sánchez bleiben ihre fünf verbleibenden Abgeordneten entscheidend. Podemos wird bei den EU-Wahlen im Juni 2024 höchstwahrscheinlich allein (also getrennt von der Sumar-Koalition) antreten. Das bedeutet nicht weniger als eine Spaltung der Linken und vermutlich wahlpolitischen Selbstmord. Die Spaltung war bereits ein Faktor beim Sieg der Rechten bei den Kommunalwahlen im Mai, als es Sumar nicht gelang, ein Bündnis mit allen Akteuren der radikalen Linken zu schmieden. In vielen Gemeinden und Regionen scheiterten die getrennt antretenden linken Gruppierungen an der Fünf-Prozent-Hürde.
Die wohl noch größere interne Quelle der Instabilität für die Sánchez-Regierung ist aber, dass sie sich auf die katalanischen Pro-Unabhängigkeitsparteien verlassen muss. Die Vereinbarungen der PSOE mit JxCAT und ERC garantieren vorerst die Stabilität der Regierung. Allerdings wird diese Stabilität in der Zukunft von den Verhandlungsfortschritten zur Lösung der katalanischen Krise abhängen.
Das Haupthindernis – eine Amnestie für Unabhängigkeitsbefürworter, die nach dem inoffiziellen Referendum von 2017 angeklagt wurden – scheint bereits überwunden zu sein, zumindest in politischer Hinsicht innerhalb der Koalition. Mit der Amnestie würde die strafrechtliche, verwaltungsrechtliche und finanzrechtliche Haftung von mehr als 300 Unabhängigkeitsbefürwortern aufgehoben – einschließlich Puigdemont selbst, der als EU-Parlamentarier weiterhin in Belgien im Exil lebt. Außerdem würden 73 Polizeibeamte amnestiert.
Nach ersten Begnadigungen im Sommer 2021 und einer Gesetzesreform zum Straftatbestand »Aufruhr« würde Sánchez mit einer Amnestie seinen bisherigen Weg zu mehr Dialog, Versöhnung und einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Madrid und Barcelona fortsetzen. Die Amnestie ist jedoch rechtlich kompliziert; ob und wie sie erfolgen kann, wird erst nach weiteren Parlamentsdebatten und der Stellungnahme des Verfassungsgerichts feststehen. Die Rebellion konservativer Teile der Justiz gegen den Amnestievorschlag lässt in jedem Fall darauf schließen, dass es zu weiteren Rechtsstreitigkeiten kommt – und dass es lange dauern wird, bis die Amnestie tatsächlich umgesetzt wird.
Abgesehen von Vereinbarungen über Themen wie neue Befugnisse für die katalanische Regierung oder eine größere Steuerautonomie, betrifft der andere Stolperstein ein mögliches zukünftiges Referendum über die katalanische Selbstbestimmung, das sowohl JxCAT als auch ERC weiterhin fordern.
In diesem Punkt ist der Spielraum praktisch gleich Null: Das »Nein« der PSOE ist eindeutig, ebenso wie die Verfassungswidrigkeit der katalanischen Forderung. Die Unabhängigkeitsbefürworter können allenfalls eine nicht verbindliche »Konsultativabstimmung« über eine zwischen den Parteien ausgehandelte politische Vereinbarung erreichen. Dadurch könnte vielleicht das katalanische Autonomiestatut reformiert werden, zum Beispiel indem die vom Verfassungsgericht 2010 für ungültig erklärten Artikel wieder eingefügt würden. Eine solche Lösung würde es allen Seiten ermöglichen, ihr Gesicht zu wahren. Dies erfordert aber viel politischen Willen und Fingerspitzengefühl.
Hinzu kommt, dass zusätzlich zu den Europawahlen im Juni 2024 im nächsten Frühjahr Regionalwahlen im Baskenland und in Galicien sowie im Februar 2025 in Katalonien stattfinden. Die Regierung in Madrid muss mit großen Rückschlägen rechnen, insbesondere angesichts der prognostizierten Wahlergebnisse im Baskenland, wo die politische Hegemonie der Baskischen Nationalistischen Partei (PNV) inzwischen ernsthaft von den linken Unabhängigkeitsbefürwortern der EH Bildu bedroht ist.
In Katalonien wiederum könnte der nicht enden wollende Kampf um die regionale Vorherrschaft zwischen der JxCAT und der ERC (letztere führt aktuell die Minderheitsregierung der autonomen Region) dazu führen, dass beide Parteien versuchen, die jeweils andere mit ihren Forderungen zu übertreffen. Dadurch würde Sánchez weiter unter Druck gesetzt. Letzten Endes könnte dies auch zu erneuten Forderungen nach Unabhängigkeitsreferenden führen, was wiederum eine unhaltbare Situation für den gesamtspanischen Staat wäre. Aktuell zeigen Umfragen zwar, dass der Wunsch nach katalanischer Unabhängigkeit so gering ist wie noch nie in den vergangenen zehn Jahren. Dies könnte Puigdemont und den ERC-Vorsitzenden Oriol Junqueras allerdings auch verunsichern und dazu veranlassen, ihre eher pragmatischen Äußerungen der letzten Zeit zu überdenken und wieder radikaler aufzutreten.
Es gibt noch einen dritten Instabilitätsfaktor: Spanien ist zunehmend polarisiert, und eine radikalisierte Rechte schürt das Feuer mit Freude weiter.
Zweifellos sind viele Bürgerinnen und Bürger gegen die Amnestie der katalanischen Führer oder stehen ihr zumindest skeptisch gegenüber, wie eine (friedliche) Demonstration mit 170.000 Teilnehmenden in Madrid vor knapp zwei Wochen gezeigt hat. Die politische Debatte der vergangenen Wochen ist aber alles andere als zivilisiert verlaufen. Seit der Einigung zwischen PSOE und JxCAT hat es zahlreiche Beleidigungen gegen Sánchez gegeben; er wurde als »Verräter« und »Putschist« bezeichnet. Diese Angriffe gegen den Premier gingen einher mit weiteren verbalen Attacken auf PSOE-Abgeordnete und sogar der versuchten Stürmung der Parteizentrale. Seit mehr als zwei Wochen wird das PSOE-Hauptquartier in der Madrider Calle Ferraz jede Nacht von mehreren tausend neofaschistischen Aktivisten belagert. An diesen Demonstrationen nahmen auch führende Vertreter von Vox teil. Zuspruch und Unterstützung erhalten sie von Influencern der so genannten »Hass-Internationale«, wie dem ehemaligen Fox News Moderator Tucker Carlson.
Vox-Parteichef Abascal nannte die neue Regierung »illegitim«, bezeichnete ihre Einsetzung mehrfach als »Staatsstreich« und rief Polizisten dazu auf, sich gegen die Befehle ihrer Vorgesetzten aufzulehnen. Die PP hat sich (bisher) nicht zu solchen offenen Umsturz-Aufrufen hinreißen lassen, aber sie hat sich auch nicht von Vox distanziert, die Gewalt nicht ausdrücklich verurteilt, und einige ehemalige Führungskräfte wie Esperanza Aguirre haben an der Seite neofaschistischer Militanter an den Protesten in der Calle Ferraz teilgenommen. Darüber hinaus hat die PP eine internationale Kampagne gestartet, in der sie Sánchez mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán vergleicht, und sie hat bei den EU-Institutionen Lobbyarbeit betrieben, um dem Einhalt zu gebieten, was die konservative Partei als »Zerstörung« der Rechtsstaatlichkeit in Spanien betrachtet.
»Die spanische Rechte stützt sich nicht nur auf ein mächtiges Mediensystem und eine mehrheitlich konservative Richterschaft, sondern kontrolliert darüber hinaus die meisten Regionen und Großstädte und hat eine absolute Mehrheit im Senat.«
Dabei sind solche Vorgänge nicht ganz neu: Als der PSOE-Vorsitzende José Luis Rodríguez Zapatero die Wahlen 2004 überraschend gewann, startete die PP eine harte Kampagne im Parlament und auf der Straße, unterstützt von konservativen Medien. Es ist kein Zufall, dass auch der rechte Ex-Premier José María Aznar gerade jetzt wieder in der Öffentlichkeit auftaucht und zu einer »unnachgiebigen Mobilisierung« gegen Sánchez aufruft. Die Radikalisierung der Konservativen ist inzwischen eine vollendete Tatsache. Ein weiterer Beweis dafür ist, dass Mariano Rajoy, der noch als »Gemäßigter« in der PP gilt, öffentlich Javier Milei im argentinischen Wahlkampf unterstützt hat.
Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht mehr verwunderlich, dass Teile der Justiz, die eigentlich politisch neutral sein sollten, Demonstrationen vor den Gerichten gegen die Vereinbarung zwischen PSOE und JxCAT organisiert haben oder dass etwa 70 pensionierte Militärs ein Manifest veröffentlichten, in dem sie die Armee zum Sturz von Sánchez aufrufen. Die Rechte stiftet bewusst Chaos. Leider ist eine spanische Version des Angriffs auf das Capitol in Washington nicht komplett undenkbar – unabhängig davon, wie solide sich die demokratischen Institutionen bisher erwiesen haben.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Fortführung der PSOE-Sumar-Regierung eine gute Nachricht für die europäische (liberale) Linke ist. Nicht zuletzt, weil es zunächst kaum danach aussah, dass die Koalition tatsächlich fortgeführt werden kann. Dies ist in erster Linie ein Sieg der Person Sánchez. Die Koalitionsbildung fußt darüber hinaus auf der Erkenntnis aller Parteien, die diese sehr heterogene Mehrheit bilden, dass man aus der Not eine Tugend machen muss, um die extreme Rechte an der Machtergreifung zu hindern.
Dass wie in der letzten Legislaturperiode eine mutige Sozialpolitik betrieben werden kann, bleibt indes ungewiss. Höchstwahrscheinlich wird die Regierung ihre größte Energie darauf verwenden, die Katalonien-Frage zu lösen und diesen Streit endgültig zu beenden.
Dies wird natürlich nicht einfach sein. Die Spannungen, die innerhalb der sehr diversen Koalition entstehen könnten, die selbstzerstörerische Haltung der sich im Niedergang befindlichen Podemos und die jeweiligen Kämpfe der katalanischen und baskischen Parteien um die regionale Vorherrschaft erschweren die Dinge. Gleiches gilt auch mit Blick auf die Mobilisierung und Radikalisierung der spanischen Rechten. Sie stützt sich nicht nur auf ein mächtiges Mediensystem und eine mehrheitlich konservative Richterschaft, sondern kontrolliert darüber hinaus die meisten Regionen und Großstädte und hat eine absolute Mehrheit im Senat – wo sie alles tun wird, um Gesetze zu verhindern oder deren Umsetzung zu verlangsamen.
Die Rechte, einschließlich ihrer vermeintlich gemäßigteren Elemente, hat ganz klar für sich beschlossen, dass jede Waffe legitim ist, um die Regierung zu stürzen – und sie wird in den kommenden Monaten keine Abstriche machen. Ganz im Gegenteil: Bis zu den Europawahlen im kommenden Juni (ein wichtiges Datum für alle Seiten) wird es für die neue Koalition keine Atempause geben. Wenn die Regierung Sánchez bis dahin durchhält, können wir im kommenden Sommer erneut Bilanz ziehen und bewerten, was sie erreicht hat.
Steven Forti ist Professor für Neue Geschichte an der Universitat Autònoma de Barcelona. Sein jüngstes Buch trägt den Titel Extrema derecha 2.0. Qué es y cómo combatirla (Die extreme Rechte 2.0. Wer sie ist und wie wir sie bekämpfen).