09. Dezember 2023
Vom historischen Streik bei den »Big Three« über neue Tarifverträge bis hin zur Forderung nach einem Waffenstillstand im Gaza-Krieg: Die United Auto Workers hatten ein ereignisreiches Jahr. Nächstes Jahr wollen sie rund 150.000 bisher nicht organisierte Beschäftigte mobilisieren.
Mitglieder der United Auto Workers jubeln bei einer Streikkundgebung in Detroit, 29. September 2023.
Für die United Auto Workers (UAW) war es ein historisches Jahr. Anfang 2023 hielt die Gewerkschaft ihre allerersten Direktwahlen für die Führungsspitze ab – und das Rennen war so spannend wie knapp. Shawn Fain, der Kandidat der Reformbewegung UAW Members United und Mitglied von Unite All Workers for Democracy (UAWD), einer weiteren neu gegründeten Reformfraktion, konkurrierte mit Amtsinhaber Ray Curry.
Das Ergebnis der Stichwahl kam nur wenige Tage, bevor die Gewerkschaft einen außerordentlichen Kongress in Detroit abhielt, um die Prioritäten für die anstehenden Tarifverhandlungen mit den »Big Three« Automobilherstellern (Ford, General Motors und Stellantis) festzulegen. Diese drei Konzerne beschäftigen rund 150.000 UAW-Mitglieder. Als die Stimmzettel ausgezählt waren, hatte Fain mit weniger als 500 Stimmen Vorsprung gewonnen. Er wurde am 26. März, einen Tag vor Beginn des Kongresses, als UAW-Präsident vereidigt. Es war mit Sicherheit eine der wichtigsten politischen Entwicklungen des laufenden Jahres in den USA.
In den folgenden Monaten führte die UAW eine Kampagne, um ihre Mitglieder auf die bevorstehenden Verhandlungen mit den Big Three vorzubereiten. Als die Unternehmen die Verhandlungen verschleppten und den Arbeitern selbst nach jahrzehntelangen Zugeständnissen von Gewerkschaftsseite keine akzeptablen Vorschläge unterbreiteten, kam es zum Streik. Erstmals in ihrer Geschichte legte die Gewerkschaft bei den drei großen Detroiter Automobilherstellern gleichzeitig die Arbeit nieder. Dabei verfolgte sie die neue Strategie des »Stand-up strike«. Anstatt alle 150.000 Mitglieder auf einmal zum Ausstand aufzurufen, weitete die UAW die Arbeitsniederlegungen in Wellen immer weiter aus. Dadurch stieg der Druck auf die Unternehmen kontinuierlich: Sie konnten endlich mehr bieten – oder eben das nächste Werk an die Streikaktion verlieren.
Zwar zeterte die Kapitalseite und warnte vor immensen Kosten für die gesamte Gesellschaft, doch diese Gesellschaft unterstützte die Automobilarbeiter. Fain betonte immer wieder, der Kampf werde nicht nur für die Gewerkschaftsmitglieder, sondern für die gesamte Arbeiterklasse geführt. Tatsächlich hat die Arbeitsniederlegung in wichtigen Swing States sogar die politische Elite zum Handeln bewegt: Donald Trump reiste nach Michigan, um zumindest so zu tun, als würde er mit den Streikenden sprechen. Joe Biden fand sich ebenfalls in Michigan vor Ort an einem UAW-Streikposten ein. Es war das erste Mal, dass ein amtierender Präsident so etwas tat.
»Wenn du hart für deinen Lebensunterhalt arbeitest und im Stich gelassen wurdest, dann haben wir die gleichen Probleme«, so Fain. Mir gegenüber erklärte er weiter: »Die COVID-Pandemie hat die Menschen dazu gebracht, darüber nachzudenken, was im Leben wichtig ist. Und wichtig ist eben nicht, sieben Tage die Woche zwölf oder sechzehn Stunden täglich zu arbeiten oder mehrere Jobs haben zu müssen, um zu überleben ... Die Leute wollen leben.«
Sein Schachzug hat funktioniert: Trotz ihrer Wut über die harte Haltung der Gewerkschaftsführung hatten die Konzernbosse letztlich keine andere Wahl, als nachzugeben. Die jetzt ratifizierten Tarifverträge bei den Big Three enthalten zahlreiche Verbesserungen. Sie reichen von wiedereingeführten Lebenshaltungskosten-Zulagen (COLA), die während der Großen Rezession in den 1930er-Jahren aufgegeben worden waren, über Lohnerhöhungen von durchschnittlich 33 Prozent bis hin zur Umwandlung vieler Zeitarbeits- in Vollzeitstellen. Die Löhne letzterer Beschäftigter werden sich nun mehr als verdoppeln. Die Vereinbarung mit Stellantis beinhaltet darüber hinaus die Wiedereröffnung eines stillgelegten Montagewerks in Belvidere, Illinois.
»Die UAW wurde lange Zeit unterschätzt«, räumte im Oktober auch Jim Cramer von CNBC ein, der in den ersten Wochen des Streiks noch über das aggressive Vorgehen der Gewerkschaft gewettert hatte.
»Entgegen der landläufigen Auffassung ist die Zahl der Automobilarbeiter in den Vereinigten Staaten in den vergangenen Jahrzehnten nicht gesunken. Was jedoch gesunken ist, ist der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterinnen und Arbeiter.«
Frisch nach ihrem historischen Streiksieg kündigte die Gewerkschaft vergangene Woche Freitag an, man werde sich nun auch anderweitig in die Politik einmischen und sich den Forderungen nach einem dauerhaften Waffenstillstand in Israel/Palästina anschließen. Darüber hinaus wolle man eine Arbeitsgruppe »Divestment and Just Transition« bilden, in der die Geschichte Israels und Palästinas sowie die eigenen wirtschaftlichen Verbindungen der Gewerkschaft zum Konflikt aufgearbeitet werden soll. Hintergrund ist, dass die UAW jahrelang israelische Staatsanleihen hielt, und einige Mitglieder in einzelnen Werken auch Waffen herstellen, die von Israel gekauft werden. Man wolle erörtern, wie die UAW dazu beitragen kann, dass UAW-Arbeiter in einem »gerechten Übergang« künftig für den Frieden und nicht für die Kriegsführung arbeiten.
Diese Erklärung kam zwei Tage nach einer anderen großen Ankündigung, nämlich dem Start einer neuen Kampagne zur Organisierung der Beschäftigten bei 13 weiteren Automobilherstellern im kommenden Jahr. Damit sollen rund 150.000 Arbeiterinnen und Arbeiter gewerkschaftlich organisiert werden – was in etwa der Zahl der Beschäftigten entspricht, die nun neue Tarifverträge bei den Big Three erhalten.
Zwar sind die diesjährigen Tarifverträge ein großer Fortschritt gegenüber den Zugeständnissen der letzten Jahre, aber einige Gewerkschaftsmitglieder stimmten dennoch gegen die Ratifizierung: Bei Stellantis waren 70 Prozent für die Verträge, bei Ford 69,3 Prozent und bei General Motors 54,7 Prozent.
»Das ist auch eine wichtige Botschaft der Mitglieder an die Unternehmen: Ja, wir haben gerade einen Rekordvertrag erkämpft, aber wir sind immer noch nicht zufrieden«, meint Fain. »Als wir diese Forderungen aufstellten, wurde ich von mehreren Leuten in unserer Führung gewarnt, dass wir die Erwartungen zu hoch ansetzen. Aber ich will, dass die Erwartungen verdammt hoch sind! Sie müssen durch die Decke gehen. Wir sollten hohe Erwartungen haben. Leider haben wir es uns zur Gewohnheit gemacht, niedrig anzusetzen und uns mit wenig zufriedenzugeben. Davon müssen wir wegkommen.«
Auf Nachfrage über das wirklich bemerkenswerte Jahr verweist Fain auf den Kongress im März in Detroit, um aufzuzeigen, wie weit die UAW seitdem gekommen sei. »Ich musste den Kongress ohne vorherige Planung, ohne Tagesordnung und ohne Personal leiten«, erinnert er sich. »Man hat ja gesehen, wie es an diesem Tag bei uns aussah: Alles war sehr gespalten, es war eine sehr kühle Atmosphäre. Ich bin jetzt seit sieben Monaten Präsident, und in dieser Zeit haben wir von diesem Kongress über unsere allererste Tarifvertragskampagne bis hin zur völligen Transparenz gegenüber unseren Mitgliedern während des gesamten Verhandlungsprozesses, vom Händeschütteln mit den Geschäftsführern bei der Verhandlungseröffnung bis hin zum erfolgreichsten Vertragsabschluss in der Geschichte unserer Gewerkschaft wirklich viel erreicht. Jetzt geht es darum, Wirkung auf andere Beschäftigte zu entfalten.«
Diese anderen Beschäftigten stehen im Mittelpunkt der nächsten geplanten UAW-Aktion. Es soll 2024 eine Offensive bei Autoherstellern geben, bei denen bisher keine gewerkschaftliche Struktur aufgebaut wurde oder werden konnte.
Entgegen der landläufigen Auffassung ist die Zahl der Automobilarbeiter in den Vereinigten Staaten in den vergangenen Jahrzehnten nicht gesunken. Ihr Anteil an der Gesamtbeschäftigung blieb relativ konstant bei einem Prozent. Was jedoch gesunken ist, ist der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterinnen und Arbeiter: Während 1983 noch 586.000 aktive Arbeiter aus der Autobranche Mitglied der UAW waren, waren es 2022 nur noch 225.000. Derzeit hat die Gewerkschaft wieder 380.000 beschäftigte sowie etwa 600.000 Rentner-Mitglieder. Das bedeutet aber auch: Die Mehrheit der Belegschaft in den Automobilwerken des Landes ist nach wie vor nicht gewerkschaftlich organisiert.
Das will die UAW ändern. Kürzlich ging die Gewerkschaft mit der Botschaft an die Öffentlichkeit, die Beschäftigten bei 13 Automobilherstellern organisieren zu wollen: BMW, Honda, Hyundai, Lucid, Mazda, Mercedes, Nissan, Rivian, Subaru, Tesla, Toyota, Volkswagen und Volvo. Anvisiert werden unter anderem Teslas 20.000-Arbeiter-Fabrik in Kalifornien sowie Werke im Mittleren Westen und vor allem im Süden, der regelmäßig als Niedriglohn- und weitgehend gewerkschaftsfreie Wohlfühloase für Konzerne fungiert.
»Wir haben der Welt gezeigt, dass diese Industrie den Arbeiterinnen und den Verbrauchern schadet, um den Firmenchefs und den Reichen zu nützen. Es ist an der Zeit, dass die Arbeiterklasse etwas dagegen tut«, sagte Fain im Ankündigungsvideo. »Du musst nicht von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck leben. Du musst dir keine Sorgen machen, wie du deine Familie ernähren kannst, während der Konzern Milliarden scheffelt. Da draußen gibt es ein besseres Leben. Es beginnt bei dir.«
In dem Video weist Fain darauf hin, dass die von ihm sogenannten japanisch-koreanischen Sechs – Toyota, Honda, Hyundai, Nissan, Subaru und Mazda – in den vergangenen zehn Jahren 470 Milliarden Dollar Gewinn gemacht haben, mehr als doppelt so viel wie die US-amerikanischen Big Three. Mehr als 40 Prozent ihrer Gewinne stammten dabei aus den nordamerikanischen Betrieben. Die deutschen Unternehmen Volkswagen, BMW und Mercedes haben im gleichen Zeitraum 460 Milliarden Dollar Gewinn gemacht.
»Bisher haben die meisten Gewerkschaften ihre Organisierungsbemühungen geheim gehalten, bis offiziell beim National Labor Relations Board ein Antrag auf eine Betriebsratswahl gestellt wurde. Die UAW will dieses Mal jedoch anders vorgehen.«
Die UAW erklärt, sie sei in den vergangenen Monaten mit tausenden nicht-organisierten Arbeiterinnen und Arbeitern der Automobilbranche im Kontakt gewesen. Diese »non-union autoworkers« sollten sich nun melden und Mitglieder werden. Dass der Vorstoß in der Industrie ernst genommen und mit Sorge gesehen wird, zeigt sich daran, dass mehrere nicht gewerkschaftlich organisierte Betriebe ihren Angestellten im Zuge der Big Three-Verträge von sich aus Gehaltserhöhungen angeboten haben. Offensichtlich will man die Belegschaften beschwichtigen und Organisierungsversuche frühzeitig unterbinden. So teilte Honda mit, man werde die Löhne einiger Angestellter ab Januar 2024 um elf Prozent anheben – also genau die Lohnerhöhung, die die meisten UAW-Mitglieder bei den Big Three im ersten Jahr des Tarifvertrags ebenfalls erhalten. Toyota will den meisten Beschäftigten an den Fließbändern 9,2 Prozent mehr zahlen. Seitens Hyundais heiß es, man werde die Löhne bis 2028 schrittweise um 25 Prozent anheben. Auch Subaru hat höhere Gehälter versprochen.
Bisher haben die meisten Gewerkschaften ihre Organisierungsbemühungen geheim gehalten, bis offiziell beim National Labor Relations Board (NLRB) ein Antrag auf eine Betriebsratswahl gestellt wurde (und nachdem die Mehrheit der Beschäftigten tatsächlich die Gewerkschaftsausweise unterschrieben hatte). Die UAW will dieses Mal jedoch anders vorgehen. Der Plan sieht folgendermaßen aus: Sobald 30 Prozent der Beschäftigten in einem nicht gewerkschaftlich organisierten Betrieb unterschrieben haben, wird die Gewerkschaft diese Nachricht öffentlich machen. Sobald 50 Prozent der Beschäftigten der Gewerkschaft beigetreten sind, wird eine Kundgebung mit der Gewerkschaftsführung inklusive dem UAW-Vorsitzenden Fain, sowie mit Familien, Nachbarn und Gemeindevertretern organisiert, um der Aktion mehr Schwung zu verleihen. Wenn 70 Prozent der Beschäftigten der Gewerkschaft beigetreten sind und ein Organisationsausschuss mit Mitgliedern aus allen Schichten und Berufsgruppen gebildet wurde, sollen die Beschäftigten die freiwillige Anerkennung ihrer Gewerkschaftsvertretung beim Unternehmen einfordern. Sollte sich der Betrieb weigern, wird eine NLRB-Wahl beantragt.
Dieser Ansatz ist in den USA als »Hot Shop«-Organisierung bekannt. Im Prinzip bedeutet es, direkt auf Vorstöße der Beschäftigten in den Betrieben zu reagieren und Druck zu machen, anstatt lediglich zuvor festgelegte Ziele zu verfolgen. Dabei hofft man auf einen gewissen Schneeballeffekt; erste Erfolge sollen weitere, größere Erfolge nach sich ziehen. Aus Sicht der UAW sind die starken Tarifverträge, die bei den Big Three erreicht wurden, somit ein sehr viel effektiveres Organisierungsinstrument als jede noch so gute Top-Down-Planung. Anstatt auf die UAW zu warten, sollen die Beschäftigten in nicht gewerkschaftlich organisierten Betrieben jetzt schnell handeln und selbst Druck machen, den die Gewerkschaft dann verstärken will. Entscheidend scheint dabei Geschwindigkeit: der aktuelle Zeitpunkt ist günstig, die Arbeiterklasse hat Rückenwind.
In einer Pressemitteilung, in der die UAW ihre neuen Pläne in der Automobilbranche ankündigte, wies sie auf die bereits laufenden Organisierungsbemühungen im Toyota-Montagekomplex in Georgetown, Kentucky, hin. In diesem Werk sind 7.800 Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigt, die dort die Modelle Camry, RAV 4 und Lexus ES herstellen. Auch hier habe das Unternehmen versucht, die aufkeimende Gewerkschaftsbewegung durch eine Gehaltserhöhung zu unterbinden, berichtet Jeff Allen, ein Angestellter im Werk. Das werde ihn und seine Kolleginnen und Kollegen aber nicht von der Organisierung abhalten.
»Wir haben so viel verloren, seit ich hier angefangen habe. Diese einzelne Gehaltserhöhung wird das nicht wettmachen«, so Allen, der seit seinem Eintritt in den Betrieb bereits zwei arbeitsbedingte Operationen hinter sich hat. »[Die Gehaltserhöhung] macht weder die weggefallenen Gesundheitsleistungen noch den Verschleiß unserer Körper wett. Wir bauen immer noch ein Qualitätsfahrzeug. Die Leute hier sind stolz darauf; aber die Arbeitsmoral ist auf einem absoluten Tiefstand. Sollen sie uns von mir aus heute eine Lohnerhöhung geben und morgen wieder die Gesundheitsleistungen erhöhen; aber ein Tarifvertrag ist der einzige Weg, damit wir wirklich bekommen, was gerecht und angemessen ist.«
Wie Labor Notes berichtet, sind auch in den Elektrofahrzeugwerken Organisierungsbemühungen im Gange. Die Beschäftigten des Rivian-Werks in Bloomington, Illinois, mit seinen 5.000 Beschäftigten hätten »bereits ein Organisationskomitee gebildet, 1.000 ihrer Kolleginnen und Kollegen zu Arbeitsplatzverbesserungen befragt und Petitionen für längere Pausen eingereicht«. Die Beschäftigten erzählen, man habe dem Management die Möglichkeit gegeben, sich mit ihnen zu treffen. Die Manager hätten sich jedoch jedes Mal kurz vorher krankgemeldet.
»Wir haben gesehen, was die UAW-Mitglieder gewonnen haben. Das hat uns klargemacht, dass wir als Arbeiter viel mehr wert sind, als unser Unternehmen uns derzeit zugesteht«, sagt Isaac Meadows, ein Arbeiter im Volkswagen-Montagewerk in Chattanooga, Tennessee, das die UAW in den vergangenen Jahren erfolglos zu organisieren versuchte.
»Den Leuten dort ist klar, dass das Unternehmen seinen Angestellten schon vor einem Jahr eine Lohnerhöhung hätten geben können, aber das hat es nicht getan«, betont Fain. Die jüngsten Gehaltssteigerungen seien ein »direktes Ergebnis unserer Verhandlungen. Wenn unsere Verhandlungen also etwas bewirken – nicht nur für uns, sondern auch für andere – ist das eine großartige Nachricht, die wir möglichst weit verbreiten sollten. Wir werden nun einen breiteren Plan aufstellen und uns gemeinsam auf den Weg machen.«
»Als Walter Reuther sich 1968 gegen den Vietnamkrieg positionierte, sagte er: ›Wir müssen für den Frieden mobilisieren und nicht für weitere Kriegsschauplätze. Wir müssen unsere Ressourcen und die Herzen, Hände und Köpfe unseres Volkes für die Erfüllung von Amerikas unvollendeter Mission daheim einsetzen‹«, erinnert Brandon Mancilla. Er ist dieses Jahr zum Direktor der UAW-Region 9A gewählt worden und vertritt damit 50.000 aktive und pensionierte Arbeiterinnen und Arbeiter. Vor zwei Wochen sprach er vor den Toren des Weißen Hauses per Megafon; auf einem Schild stand: »Biden, du lässt Gaza verhungern. Dauerhafter Waffenstillstand jetzt!«
Mancilla unterstützte mit seinem Auftritt mehrere Menschen, die sich am fünften Tag eines Hungerstreiks befanden, um Biden zu drängen, Israels Krieg gegen Gaza nicht länger hinzunehmen und die israelische Regierung zu einem dauerhaften Waffenstillstand zu bewegen.
»Die heutige UAW ist meilenweit entfernt von der UAW der letzten Jahrzehnte. Die neue Führung brachte einen beeindruckenden Wandel mit sich.«
»Was Reuther damals meinte, war, dass die US-Gewerkschaftsbewegung nicht in der Lage sein würde, ihre Ziele für soziale Gerechtigkeit, für Arbeitergerechtigkeit und für wirtschaftliche Gerechtigkeit zu erreichen, wenn sie die Augen davor verschließt, was im Rest der Welt passiert. Wir haben uns während des Zweiten Weltkriegs gegen den Faschismus gewehrt, wir haben uns gegen den Vietnamkrieg gewehrt, wir haben uns gegen die Apartheid in Südafrika gewehrt – und wir haben Ressourcen und weitere Teile der Gewerkschaftsbewegung mobilisiert, um diese Kämpfe gemeinsam mit uns zu führen.«
Passend dazu gab Mancilla bekannt, dass sich die »International Group« der UAW der Forderung nach einem dauerhaften Waffenstillstand anschließt. Zuvor hatten das bereits die American Postal Workers Union (AWPU), die United Electrical, Radio and Machine Workers (UE) und die International Union of Painters and Allied Trades (IUPAT) getan. In den USA sprechen sich zahlreiche Gewerkschaften aktiv für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen in Nahost aus.
Die Ankündigung der UAW diesbezüglich geht allerdings weiter. Die Gewerkschaft verpflichtet sich nach eigenen Angaben, ihre Verbindungen zu denjenigen zu analysieren, die für die Gewalt verantwortlich seien. Dann wolle man prüfen, wie man sich von diesen Akteuren abkoppeln kann. Der Hintergrund: Einige UAW-Mitglieder stellen Waffen her, mit denen Israels Armee aktuell in Gaza tötet.
Im Gespräch mit mir ordnet Mancilla diesen jüngsten Schritt in die Geschichte der Basisarbeitskämpfe wie dem wilden Streik des Arab Workers Caucus 1973 ein. Damals war es das Ziel, die Gewerkschaft dazu zu bewegen, israelische Staatsanleihen abzustoßen. Er sieht in der aktuellen Entwicklung aber auch Reminiszenzen an die noch frühere Blütezeit der UAW unter der Führung Reuthers: »Wir haben uns mit der Geschichte befasst. Reuther unterstützte Lyndon B. Johnson zunächst, wechselte dann aber zur Forderung nach einem Ende des Vietnamkriegs. Damals wollte man »Rüstungsarbeiter« in »Friedensarbeiter« umwandeln: Man werde künftig nur noch Technologie für den Frieden bauen.«
Laut Mancilla folgte die jüngste Entscheidung zum Waffenstillstand-Aufruf auf eine Flut von E-Mails von Mitgliedern, die die Gewerkschaft zum Handeln aufforderten. Er und mehrere andere Gewerkschaftsführer, darunter auch UAW-Chef Fain, hätten eine große Anzahl solcher Schreiben bekommen, vor allem von jüngeren Mitgliedern und solchen aus dem Hochschul- und Rechtswesen. Hinzu komme, dass die Gewerkschaft viele arabischstämmige Amerikanerinnen und Amerikaner unter ihren Mitgliedern in Michigan zähle. Dort sei die Forderung nach einem Waffenstillstand besonders energisch vorgetragen worden. Das Thema scheint für die UAW somit unausweichlich zu sein.
Im März 2023 schrieb ich einen Bericht vom UAW-Kongress in Detroit. In der Überschrift fragte ich: »Can the UAW Rise Again?«. Acht Monate später ist diese Frage offensichtlich beantwortet.
Die heutige UAW ist meilenweit entfernt von der UAW der letzten Jahrzehnte. Die neue Führung brachte einen beeindruckenden Wandel mit sich. Das Jahr 2023 war zweifellos ein Erfolg für die Gewerkschaft. Nun will sie in der nahen Zukunft wieder zur, wie Reuther es ausdrückte, »Vorhut der Arbeiterbewegung« werden.
»Als Führungskraft in einem Unternehmen musst du in der Lage sein, dich zu verändern und anzupassen«, schließt Fain. »Wenn du nicht erkennst, dass die Menschen der Arbeiterklasse in diesem Land die Nase voll haben und dass die Gewerkschaftsmitglieder es satthaben, immer weitere Rückschritte hinzunehmen, dann wirst du als Wirtschaftsboss einfach nicht überleben. Die Zeiten der Selbstgefälligkeit, in denen man nur seinen Millionen-Dollar-Gehaltsscheck kassiert und den Angestellten faule Ausreden liefert, sind vorbei.«
Alex N. Press ist Redakteurin bei JACOBIN. Ihre Beiträge erschienen unter anderem in der »Washington Post«, »Vox«, »the Nation« und »n+1«.