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29. Oktober 2025

Lea Ypi rechnet ab mit Geschichte und Gegenwart

In ihrem neuen Buch »Aufrecht« stellt Lea Ypi anhand des Lebens ihrer Großmutter vor und während Albaniens Hoxha-Regime Fragen über Flucht und Überwachung, die unsere von Ungleichheit und digitaler Datensammlung geprägte Gegenwart in ein neues Licht rücken.

Die Autorin und Philosophin Lea Ypi fotografiert in Stockholm, 7. Dezember 2022.

Die Autorin und Philosophin Lea Ypi fotografiert in Stockholm, 7. Dezember 2022.

IMAGO / TT

Im Sommer erzählte mir eine albanische Freundin in Istanbul eine Geschichte: Während des Kalten Krieges versuchten Menschen per Boot über den Skutarisee aus Enver Hoxhas Sozialistischer Volksrepublik Albanien zu fliehen. Wenn sie Glück hatten und nicht ertranken, von Wachpatrouillen gefasst oder erschossen wurden, gingen sie in dem Dorf, in dem meine Freundin lebte, an Land – in Montenegro, damals Teil Jugoslawiens.

Die beiden Staaten nahmen in der kommunistischen Welt diametral entgegengesetzte Positionen ein: Albanien schottete sich extrem ab, während Jugoslawien – seit Titos Bruch mit Stalin im Jahr 1948 – das offenste kommunistische Land war. Der rote jugoslawische Pass, auch heute noch Quell unzähliger jugonostalgischer Erinnerungen der Babyboomer-Generation, ermöglichte visumfreies Reisen in mehr als hundert Länder der Welt.

Die Exzentrizitäten der damaligen albanischen Führung sind bekannt. Im Prinzip verbot der weltweit erste offiziell atheistische Staat »bärtige Besucher, Amerikaner und Gott«, wie ein damaliger Beobachter zusammenfasste. Landesflucht galt als Verrat: Wer gefasst wurde, konnte sich glücklich schätzen, wenn er mit harter Zwangsarbeit davonkam. Die Geschichte meiner Freundin aus Montenegro stammt aus einer vergangenen Zeit, doch sie ließ mich an aktuelle Schlagzeilen denken: An die jüngsten Migrationsversuche, erneut von albanischen Menschen und erneut mit kleinen Booten – allerdings nach Großbritannien.

Allein im Jahr 2022 überquerten rund 12.300 Albanerinnen und Albaner den Ärmelkanal an Bord von kaum seetauglichen Schlauchbooten. Sie riskierten ihr Leben, um die britische Küste zu erreichen. Ich fragte mich: Warum bringe ich diese gefährliche Überfahrt nicht sofort mit einer grausamen Ideologie in Verbindung? Sicherlich spielen der globale Kapitalismus und Ungleichheiten eine große Rolle bei dieser aktuellen Form der Migration. Aber warum geben wir Kapitalismus und Ungleichheit nicht mit gleicher Vehemenz Schuld wie dem damaligen autarken Kommunismus von »Onkel Enver« in Albanien?

»In den Archiven fragt sich Ypi, ob und wie man das Überwachungssystem, das ihre Großmutter beschattete, mit den heutigen umfassenderen digitalen Kontrollsystemen vergleichen kann.«

Solche Fragen wirft Lea Ypis Werk bei den Leserinnen und Lesern immer wieder auf. Ypi ist Professorin für politische Theorie an der London School of Economics. Sie bezeichnet sich selbst als transgressive »kantianische Marxistin« – in einer Welt, in der die Rechte das Monopol auf Transgression für sich beansprucht. Sie hat sich als seriöse Interpretin der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts einen Namen gemacht, aber auch zahlreiche Publikationen zum Marxismus und zu politischen Parteien veröffentlicht. In Ypis letztem Buch Frei: Erwachsenwerden am Ende der Geschichte wirkte Hoxhas Albanien wie ein Zerrspiegel. Gleichzeitig wurden die ideologischen Illusionen des Liberalismus deutlich. Das Buch war ein internationaler Erfolg: Es wurde fast überall begeistert aufgenommen und in 35 Sprachen übersetzt.

In Albanien hingegen sorgte Frei für Empörung. Einige Kommentatoren beanstandeten, das Buch zeichne ein zu wenig düsteres Bild des Kommunismus. Andere zeigten sich angewidert von der Anwesenheit von Premierminister Edi Rama bei der Buchpremiere. Letztere Kritik führte zu einer hitzigen Auseinandersetzung in der London Review of Books zwischen Ypi und ihrem Rezensenten und Granta-Redakteur Thomas Meaney. Das fühlte sich an wie eine Rückkehr zu einer Zeit, in der die literarische Kultur noch größere Bedeutung hatte.

Im Sommer 2023 wurde ich auf Frei aufmerksam gemacht. Ich hatte gerade drei Wochen in Albanien verbracht, als mir nach der Rückkehr nach Serbien eine befreundete Professorin von der Universität Belgrad ein Taschenbuch in die Hand drückte. »Das musst du lesen«, sagte sie zu mir. Sie schwärmte von den Beschreibungen der westlichen Berater im Buch, die nach Albanien kamen, um Demokratie und »Schocktherapie« durchzusetzen, darunter eine besonders bemitleidenswerte Figur, die wegen des Lacoste-Logos auf ihren Hemden nur »das Krokodil« genannt wird.

Die in Frei geschilderten Erfahrungen Albaniens mit dem »Übergang« zur Marktwirtschaft erinnerten meine Freundin an die eigenen Erlebnisse in Serbien. Wir beide wurden zu lautstarken Verteidigern von Ypi und diagnostizierten bei ihren Kritikern auf dem Balkan vor allem provinziellen Neid. In Städten wie Tirana und Belgrad ist die Herabwürdigung der Leistungen derjenigen, die im Ausland erfolgreich sind, ein Mittel zum Schutz des lokalen Marktplatzes, auf dem die relative gesellschaftliche Position immer künstlich aufgebläht wird.

Somit ist es nicht verwunderlich, wenn Ypi erzählt, sie sei wegen Frei mit »Hasstiraden« überzogen worden. Ypis neues Buch Aufrecht: Überleben im Zeitalter der Extreme ist eine Antwort auf diesen Hass der Online-Trolle. Vor einigen Jahren wurde sie darüber informiert, dass ein bisher unbekanntes Foto ihrer Großeltern im Internet aufgetaucht war. Als sie das Bild fand, hatten die Trolle bereits mobilisiert: Sie bezeichneten Ypis Großmutter Leman als Spionin und Kollaborateurin und Ypi selbst als »Kommunistenschlampe«. Auf dem Schwarz-Weiß-Foto sind Ypis Großeltern während ihrer Flitterwochen 1941 in einem Chalet in Cortina d’Ampezzo zu sehen.

Aufrecht beginnt genau mit diesem Foto. Ypi ist irritiert. Sie fragt sich, warum ihre Großmutter diesen Moment, mitten im Zweiten Weltkrieg, als den »glücklichsten ihres Lebens« beschrieben hatte. War sie den Ereignissen, die sich in Europa abspielten, gegenüber gleichgültig, oder ahnte sie, dass dem jungen Brautpaar noch Schlimmeres bevorstehen könnte? Großvater Asllan sieht auf dem Bild hingegen besorgt aus. Was wusste er bereits? Ypi fragt sich auch, ob an den Kommentaren der Trolle etwas dran ist: War ihre Großmutter wirklich eine Spionin? Gab es da etwas an ihrer Großmutter, das sie nicht wusste? War sie eine Kollaborateurin? Oder ertrug sie die ihr bevorstehenden Repressionen und Schrecken mit Würde?

»Die Figuren in Aufrecht entstammen einem engen Zirkel, einem sozialdemokratischen Adel: Obwohl hin und wieder einige radikale Ansichten vertreten werden, ist der eigene Horizont letztlich durch ihren Status begrenzt. Sie wünschen sich ein humaneres System, möchten aber vermutlich auch ihre privilegierte Position darin behalten.«

Um diese Fragen zu beantworten, wendet sich Ypi den Archiven der früheren kommunistischen Sicherheitspolizei Albaniens (Sigurimi) zu. Auf dem Weg zur »Behörde für Informationen über die Dokumentation des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes« (so der fantastisch bürokratische Name für die Archive) unterhält sich Ypi mit einem Taxifahrer, der in typischer Balkan-Manier gleichermaßen Prophet und Spinner ist: Als sie ihm erklärt, dass sie die Akten der ehemaligen Geheimpolizei einsehen will, entgegnet er ihr, so etwas wie eine »ehemalige« Geheimpolizei gebe es nicht. Vielmehr sei diese immer noch aktiv und nie weggewesen. Diese Überzeugung kann nicht (ausschließlich) als Paranoia abgetan werden: In Albanien und Serbien gab es nach dem Sturz der Regime von Hoxha beziehungsweise Milošević keinerlei Aufklärungs- und Lustrationsprozesse.

Im Buch wird die Lebensgeschichte von Ypis Großmutter Leman nachempfunden. Ihre Kindheit und Jugend beginnt in den letzten Jahren des Osmanischen Reiches und erstreckt sich bis in das erste Jahrzehnt des albanischen Kommunismus. Leman wurde 1918 in Salonika, dem heute griechischen Thessaloniki, geboren. Ihr Großvater, Ibrahim Pascha, wird im Buch als »einer der engsten Berater des Sultans« beschrieben.

Im Alter von achtzehn Jahren zieht Leman nach Tirana. Ihr dortiges Leben als junge Erwachsene fällt mit dem sich anbahnenden Absturz Europas in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs zusammen. Ypi versteht es, durch kleine Andeutungen, die das Kommende bereits ankündigen, ein Gefühl der Angst aufzubauen, während ihre Figuren noch im Unklaren bleiben. Geschichte wird in erster Linie erlebt und erst von den Lesenden rückblickend verstanden; das Unvorstellbare bleibt für die Protagonisten unvorstellbar, bis es tatsächlich eintritt. Und als dann dieses Unvorstellbare geschieht, glauben alle, dass es bald wieder vorbei sein wird.

In den Archiven fragt sich Ypi, ob und wie man das Überwachungssystem, das ihre Großmutter beschattete, mit den heutigen umfassenderen digitalen Kontrollsystemen vergleichen kann. Letzteres sei allgegenwärtiger und effektiver: Es verfolge nicht nur jede unserer Bewegungen, sondern motiviere uns auch dazu, unseren Standort, unsere sozialen Kontakte, Aktivitäten und sogar unsere persönlichen Geheimnisse mit der Öffentlichkeit zu teilen. Wozu muss man noch spionieren, wenn die meisten Menschen ihre persönlichen Daten so bereitwillig preisgeben? Wie Ypi weiter anmerkt, werden unsere persönlichen Daten auch dazu genutzt, uns Dinge zu verkaufen, wodurch wir zu bloßen Konsumenten degradiert werden. Und das sei vielleicht sogar noch schlimmer. Ypis Versuch, einen Vergleich zwischen diesen zwei Systemen anzustellen, mag man für leichtfertig oder oberflächlich halten, doch im Zeitalter von Palantir erscheint er durchaus gerechtfertigt.

Ypi schreibt: »Möglicherweise maß das System, das Lemans Entscheidungen beobachtete, ihrem Menschsein mehr Bedeutung zu, als das System von heute dem meinen beimisst. Sie wird von ihren Zeitgenossen überwacht, die sie beschatten, ihre Bewegungen verfolgen und ihren Aufenthalt lückenlos dokumentieren. Ihre Gedanken sind von einem spezifischen Interesse, wogegen kein Unternehmen sich jemals für mich im Spezifischen interessieren wird. Ich bin eine gesichtslose Konsumentin, ein Rädchen in einer Datensammelmaschine, eine Profitquelle. Sie wird immer noch von einem anderen Menschen als Mensch anerkannt. Trotz des Machtgefälles, trotz der Manipulation und trotz der Kontrolle bleibt sie ein Selbstzweck, ein Subjekt, dem man seine Würde niemals restlos nehmen kann.«

»Ypis Intellektuelle mögen egalitäre oder teils sogar sozialistische Ansichten vertreten, aber sie lehnen auch eindeutig Vorstellungen wie die Wladimir Lenins ab, dass ›jede Köchin den Staat verwalten‹ könne.«

Ypis Familie gehört zur Elite, ja sogar zum Adel. Fragen zu Klassenunterschieden und den eigenen Privilegien schwingen daher stets mit. Ihre Großmutter lernte schon als Kind Französisch, hatte Kindermädchen und traf ihren Ehemann Asllan auf der Hochzeit von König Zog I. von Albanien. Ypis Großvater Xhafer war in den frühen 1920er Jahren Premierminister des Landes und während des faschistischen italienischen Protektorats kurzzeitig Minister.

Die Figuren in Aufrecht entstammen einem engen Zirkel, einem sozialdemokratischen Adel: Obwohl hin und wieder einige radikale Ansichten vertreten werden, ist der eigene Horizont letztlich durch ihren Status begrenzt. Sie wünschen sich ein humaneres System, möchten aber vermutlich auch ihre privilegierte Position darin behalten. Fabrikarbeiter sollen ein würdigeres Leben führen, aber nicht so weit gehen, die bestehende Ordnung zu stürzen.

An keiner Stelle sind die Klassenunterschiede deutlicher zu spüren als in dem Moment, in dem Ypis Großeltern in einem Café auf den jungen Enver Hoxha treffen. Er ist genauso alt wie sie, stammt jedoch aus einer niedrigeren sozialen Schicht – Stalin soll ihn in Gesprächen mit einer Delegation aus Belgrad einst abwertend als »Kleinbürger« bezeichnet haben. Ypi beschreibt Hoxha als jemanden, dessen Politik von Ressentiments gegenüber gesellschaftlich Höhergestellten geprägt ist. Während des Treffens erinnert sich Hoxha daran, dass Asllan ihm einmal angeboten hatte, die Miete des jungen Hoxha in Paris zu bezahlen, wo sie beide studierten. Während Hoxha gerade sein Stipendium verloren hatte, musste sich Asllan offensichtlich keine Sorgen um finanzielle Dinge machen. Hoxha war verärgert: Er lehnte das Angebot ab, zahlte seine Miete nicht und sprang auf der Flucht vor dem Vermieter aus dem Fenster, wobei er sich verletzte.

Die politischen Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Männern sind, wie Ypi andeutet, eine Folge dieser Klassenunterschiede. Hoxha beklagt, Ypis Großvater interessiere sich lediglich für »Reformen«; er wolle das bestehende System nicht zerschlagen, sondern es nur ein wenig aufbessern. Hoxha hingegen will es zerstören. Diese Darstellung ist natürlich etwas voreingenommen: Ypi schreibt mit den Schrecken von Hoxhas Albanien im Hinterkopf. Es fällt schwer, in ihren Argumenten nicht ein – wenn auch widerwilliges – Befürworten des Erhalts des reaktionären Status quo zu sehen, anstatt revolutionäre Veränderungen zu riskieren. Beim Lesen musste ich zu meiner eigenen Bestürzung feststellen, dass ich mit dem jungen Hoxha irgendwie sympathisiere: Es scheint fast, dass er zu Verbrechen und Intrigen greifen muss, um sich das zu sichern, was Ypis Familie aufgrund ihrer Klasse von Geburt an hatte.

In den späteren Kapiteln muss dieses erste Gefühl revidiert werden: Dort beschreibt Ypi das Schicksal ihrer Großeltern einige Jahre später. Unter Hoxhas Herrschaft werden sie zu »Klassenfeinden«. Asllan gerät bald in Verdacht, weil er während des Krieges Verbindungen zu britischen Offizieren in Tirana unterhielt, die im Hoxha-Jargon stets als »Anglo-Amerikaner« bezeichnet werden. (Tatsächlich sagt ein britischer Beamter in den letzten Wochen des Krieges zu Asllan: »Wir haben die Gründung einer sozialdemokratischen Partei durch integre Menschen aktiv unterstützt, durch Individuen, die sich den Kommunisten aus moralischer Stärke heraus entgegenstellen können – Leute wie Sie, die niemand der Kollaboration verdächtigen würde.«)

Den Akten zufolge verdächtigt die Geheimpolizei Leman auch der Spionage für Griechenland, da sie in Salonika geboren und aufgewachsen ist. Asllan wird inhaftiert; Hoxha beginnt mit der Hinrichtung diverser Mitglieder der intellektuellen Elite, darunter einige seiner ehemaligen Klassenkameraden. Zu den von Säuberungen Betroffenen gehört Sabiha Kasimati, Professorin für Biologie und eine der ersten Wissenschaftlerinnen Albaniens. Sie wird 1951 zusammen mit 21 weiteren Intellektuellen hingerichtet. Ypi schreibt: »Nachdem Enver Hoxha an die Macht gekommen war, hatte [Kasimati] den ehemaligen Mitschüler in seinem Büro aufgesucht und zur Rede gestellt. ›Mit wem willst du, wenn du alle Intellektuellen ermorden lässt, deinen Staat bauen – mit Blechschmieden und Schuhmachern?‹« Hoxha antwortet ihr: »Ich rate dir, weniger Texte der Aufklärung zu lesen und mehr von Marx und Lenin.«

»Ypis irritierende Fragen zwingen uns, unsere eigenen Annahmen über die Gegenwart zu überdenken: Während sie uns durch die Geschichte ihrer Familie im 20. Jahrhundert führt, wird deutlich, dass der klare Bruch, den wir gerne mit der Vergangenheit vollzogen zu haben glauben, eine Illusion ist.«

Zeitgleich werden Leman und ihr kleiner Sohn Zafo aus Tirana deportiert. Sie kommen nach Kavajë, einer Kleinstadt im albanischen Hinterland. Für Leman ist es ein absoluter Tiefpunkt. Sie wird »Hilfsarbeiterin zur Instandhaltung von Bewässerungskanälen« in einem nahegelegenen Dorf. Dort muss sie unter der Aufsicht einer zehn Jahre jüngeren Frau Erde schaufeln. Wieder einmal drängen sich unbequeme Fragen zum Thema Klasse auf. Ypis Intellektuelle mögen egalitäre oder teils sogar sozialistische Ansichten vertreten, aber sie lehnen auch eindeutig Vorstellungen wie die Wladimir Lenins ab, dass »jede Köchin den Staat verwalten« könne. Sie sind überzeugt, dass ihr rechtmäßiger Platz in der Gesellschaft ganz oben, an der Spitze, in der Elite ist. Während wir beobachten, wie Ypis Familie von dieser Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie stürzt, müssen wir auch unsere eigenen Annahmen darüber hinterfragen, wer zur Elite gehören und wer den Staat führen sollte.

Die Archive zu den kommunistischen Geheimpolizeien Ost- und Mitteleuropas können eine wahre Goldgrube für Autorinnen und Autoren jeglicher Couleur sein. Antonio Gramsci (der übrigens albanische Wurzeln hatte) beschrieb schon vor einem Jahrhundert in den Gefängnisheften, warum Archive hilfreich sind: »Der Anfang der kritischen Ausarbeitung ist das Bewusstsein dessen, was wirklich ist, das heißt ein ›Erkenne dich selbst‹ als Produkt des bislang abgelaufenen Geschichtsprozesses, der in einem selbst eine Unendlichkeit von Spuren hinterlassen hat, übernommen ohne Inventarvorbehalt.«

Als Ausgangspunkt für kritische Überlegungen müsse also ein Überblick geschaffen werden: »Ein solches Inventar gilt es zu Anfang zu erstellen.« Für Gramsci ist eine Bestandsaufnahme der Vergangenheit eine Voraussetzung für die Gestaltung der Zukunft. In dieser Sicht ist es nicht verwunderlich, dass der Balkan heute unter Massenabwanderung und einem chronischen Gefühl der Stagnation leidet: Das Fehlen einer gemeinsamen Geschichtsauffassung macht es unmöglich, etwas Neues aufzubauen. Ypis Buch ist ein Beitrag gegen dieses Versäumnis.

Aufrecht tut jedoch mehr, als lediglich Ereignisse der Vergangenheit aufzuzählen oder in die richtige Reihenfolge zu bringen. Ypis irritierende Fragen zwingen uns, unsere eigenen Annahmen über die Gegenwart zu überdenken: Während sie uns durch die Geschichte ihrer Familie im 20. Jahrhundert führt, wird deutlich, dass der klare Bruch, den wir gerne mit der Vergangenheit vollzogen zu haben glauben, eine Illusion ist. Die Geschichte entfaltet sich immer noch und offenbart sich uns langsam, manchmal fast unmerklich, mit kleinen Zeichen.

Lily Lynch ist Journalistin, die seit einem Jahrzehnt über den Balkan berichtet. Sie ist Redakteurin beim Magazin Balkanist und veröffentlicht unter anderem in New Left Review und New Statesman.