12. Februar 2025
Die Grünen haben sich minutiös auf eine Koalition mit den Konservativen vorbereitet. Nun passen die beiden Parteien so gut zusammen, dass man sich von ihren Streitereien um die Migrationsfrage nicht täuschen lassen sollte.
Am Abend vor der Asyldebatte hatten sich Spitzenkräfte von Union und Grünen gemeinsam »auf ein Glas Wein« in Laschets Wohnung getroffen, 31. Januar 2025.
An einem Novembertag im Jahr 2010 flanierte der damals 30-jährige Unionspolitiker Jens Spahn durch die verglasten Hallen der Freiburger Messe. So weit, so unspektakulär – hätte an diesem Tag in eben jenen Hallen nicht der Parteitag der Grünen stattgefunden. Bis heute ist Spahn einer der wenigen Christdemokraten, der dort je zu Gast war. Und mehr als zehn Jahre später ist ihm ein Eindruck dieses Tages ganz besonders in Erinnerung geblieben. »Als ich durch den Sponsorenbereich ging«, sagte er in einem Interview mit dem ehemaligen taz-Journalisten Ulrich Schulte, »wurde klar: So gewaltig sind die Unterschiede dann doch nicht«.
Dass Grüne und Christdemokraten Gemeinsamkeiten haben und diese pflegen, ist auch damals keine neue Erkenntnis. Seit 1995 Jahren existiert die Pizza-Connection, ein informelles Forum von sich wohlgesonnenen Politikerinnen und Politikern der beiden Parteien, das seinen Namen einem italienischen Restaurant verdankt, in dem es oft stattfand. Seit 2008 bilden sie regelmäßig gemeinsame Regierungskoalitionen in gleich mehreren Bundesländern. Einstimmig haben sie im Spätsommer 2022 das 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr beschlossen. Und noch am Abend vor dem historischen Vorstoß von AfD und CDU für ein neues Asylgesetz im Bundestag, trafen sich Spitzenkräfte der beiden Parteien gemeinsam »auf ein Glas Wein« in der Wohnung des einstigen CDU-Chefs Armin Laschet.
Man sollte sich also nicht täuschen lassen von den teils scharfen Vorwürfen, die sich Politiker beider Parteien in Interviews, Plenardebatten oder Wahlkampfreden machen. Eine ganze Reihe von Gründen spricht dafür, dass das Näheverhältnis von Grünen und Konservativen so eng ist wie nie zuvor. Alles ist angerichtet für die schwarz-grüne Bundesregierung.
Schon bei ihrer Parteigründung 1980 warfen Sozialisten den Grünen vor, in erster Linie als Pipeline zu fungieren, die linke Aussteigerinnen und Aussteiger möglichst geräuschlos ins bürgerliche Zentrum schleust. Eine ganze Reihe einstiger K-Gruppen-Mitglieder wie Joschka Fischer oder Ralf Fücks zeugen davon. Doch die Partei war schon in ihrer Frühphase mehr als nur ein Sammelbecken vormals außerparlamentarischer Protestler. Auch aus den Kirchen, bürgerlichen Öko-Bewegungen und anderen Parteien strömten fortan Funktionärinnen und Funktionäre in ihre Reihen.
Nach der Wende und der Fusion mit der ostdeutschen Bürgerbewegung Bündnis90 stieß so auch Katrin Göring-Eckardt zur Partei. Die Reala entstammt der christlichen Bürgerbewegung der DDR, hat in den vergangenen 35 Jahren fast jedes Spitzenamt innerhalb der Partei bekleidet und ist heute Vizepräsidentin des Bundestags. Besonders relevant ist jedoch, dass sie einst für einen bemerkenswerten wirtschaftspolitischen Kurswechsel der Grünen verantwortlich war.
1998 nahm die erste Bundesregierung ihre Arbeit auf, an der die Grünen unter dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhard Schröder beteiligt waren. Göring-Eckardt, damals Fraktionsvorsitzende im Bundestag, setzte sich nicht nur entschieden für die Agenda 2010 ein, die die Sozialleistungen schrumpfen und den Niedriglohnsektor wachsen ließ, sie entwickelte auch erstmals das grüne Politikziel der »Generationengerechtigkeit«.
»Wirtschaftsminister und Parteichef Robert Habeck konnte sein kreditfinanziertes Investitionsprogramm nicht an der Blockade der FDP vorbeischleusen, die von den Liberalen stets mit eben jenen Argumenten verteidigt wurde, die einst Göring-Eckardt in die Welt setzte: Wir dürfen den kommenden Generationen keine Schulden hinterlassen.«
Das Ziel war es, der strengen Fiskalpolitik des sozialdemokratischen Finanzministers Eichel einen vorwärtsgewandten grünen Anstrich zu geben. Der Staat sollte daran gehindert werden, »Probleme der heutigen Gesellschaft durch höhere Staatsverschuldung zukünftigen Generationen aufzubürden«. Damals, so der langjährige Grünenpolitiker und Ökosozialist Ludger Volmer, verabschiedeten sich die Grünen vom Keynesianismus. Dieser hatte sich lange in Form großer Umbaupläne für die Industriegesellschaft in ihren Parteiprogrammen niedergeschlagen, und dort mehr schlecht als recht mit verschiedenen Ideen von Kreislaufwirtschaft und Post-Wachstum gepaart.
Bemerkenswert ist dieser Moment in zweierlei Hinsicht. Erstens, weil es junge Unionspolitiker wie Alexander Dobrindt oder Jens Spahn waren, die 2006 gemeinsam mit Grünen wie Katrin Göring-Eckardt den Entwurf einbrachten, der unter dem Titel »Generationsgerechtigkeitsgesetz« die fiskalische Zurückhaltung in den 20. Paragrafen des Grundgesetzes gießen sollte. Und zweitens, weil die Grünen in ihrer zweiten Bundesregierung den Keynesianismus wiederentdecken – und an ihren eigenen Ideen scheitern sollten.
Der Krieg, die Pandemie und eine massive Strukturkrise der deutschen Industrie haben die Legislatur der jüngsten Ampelregierung geprägt. Die Transformation der Wirtschaft ist unterdessen das zentrale Anliegen der Grünen geworden. Und letztlich ist die Regierung auch daran zerbrochen, dass Wirtschaftsminister und Parteichef Robert Habeck sein kreditfinanziertes Investitionsprogramm für Infrastruktur und den Umbau von Energiewirtschaft und Industrie nicht an der Blockade der FDP vorbeischleusen konnte, die ironischerweise von den Liberalen stets mit eben jenen Argumenten verteidigt wurde, die einst Göring-Eckardt in die Welt setzte: Wir dürfen den kommenden Generationen keine Schulden hinterlassen.
Doch so vehement die Grünen von der FDP das »Go« für kreditfinanzierte Investitionsprogramme forderten, so schnell rudern sie in ihrem Wahlprogramm wieder zurück. Von einer Abschaffung der Schuldenbremse oder einer Neubewertung davon, was konsumtive Ausgabe und was Investition ist, keine Spur. Die Bündnisfähigkeit mit der Union steht klar im Vordergrund und soll keinesfalls durch zu ambitionierte Reformvorschläge riskiert werden. Trotz der gescheiterten Ampelregierung gilt: Man will das Land weiterhin im Verwaltungsmodus durch die Polykrise steuern.
»Ziel sei es in diesem Wahlkampf, die ›Merkel-Lücke‹ zu füllen, sagt Habeck. Und zu diesem Zweck hat der amtierende Vizekanzler den Parteiapparat umgebaut. Das letzte Restrisiko, dass mittel- bis langfristig neue Parteilinke in den Apparat gespült werden ist geschwunden.«
Es sind nicht nur fiskal- und wirtschaftspolitische Fragen, in denen die Grünen seither große Flexibilität beweisen. In der Außen- und Verteidigungspolitik sind die Beziehungen der Grünen zu den transatlantischen Thinktanks und den Spitzen der NATO heute ähnlich eng, wie die der Christdemokraten. Robert Habeck überbietet die Konservativen sogar noch mit der Forderung, mindestens 3,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für das Militärbündnis auszugeben. Und das, obwohl die Partei lange auch den Pazifismus als Markenkern mit sich trug.
Hinzu kam zuletzt, dass sich auch die migrationspolitische Linie der Grünen deutlich nach rechts verschoben hat. Lange stand die Partei für eine liberale und humanitäre Migrationspolitik, die deutlich von den restriktiven Ideen der Konservativen abwich. Doch im Zuge der Ampelregierung trieben sie mit dem sogenannten Sicherheitspaket und dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem, kurz GEAS, asylpolitische Verschärfungen voran, die weit über das hinausgehen, was zuvor Unionspolitiker gefordert hatten.
Der Rechtsdrift der Grünen zeichnet sich auch personell ab. Mit Parteichef Robert Habeck steht, nach Jahren der Doppelbesetzung, ein mit voller Machtfülle ausgestatteter Realo an der Parteispitze. Ziel sei es in diesem Wahlkampf, die »Merkel-Lücke« zu füllen, sagt er. Und genau zu diesem Zweck hat der amtierende Vizekanzler den Parteiapparat umgebaut. Ein Stichtag für den letzten Schritt in diesem personellen Umbau war der 26. September 2024. Zunächst wechselte Habeck an diesem Tag den Bundesvorstand aus. Er ersetzte Omid Nouripour und die eher sozialpolitisch veranlagte Parteilinke Ricarda Lang mit Felix Banaszak, einem erfahrenen Wegbereiter von Schwarz-Grün in Nordrhein-Westfalen, und Franziska Brantner, einer Reala aus Habecks Umfeld.
Zudem traten wenige Stunden später der Vorstand und weitere linke Mitglieder aus der Jugendorganisation der Grünen Jugend aus. Mit ihnen schwand auch das letzte Restrisiko, dass mittel- bis langfristig neue Parteilinke in den Apparat gespült werden. In einem Essay des den Grünen eng verbundenen Zeit-Journalisten Bernd Ullrich und seinem Kollegen Robert Pausch heißt es, die Partei sei heute »gewissermaßen ausrealoisiert«.
Dass Konservative und Grüne mittlerweile so etwas wie natürliche Koalitionspartner sind, lässt sich auch damit erklären, dass die Ökologiefrage schon lange nichts Subversives mehr an sich hat. Die marktbasierte Transformation der Energiewirtschaft hin zu Strom aus Sonne und Wind ist ausgemachte Sache. Nicht etwa, weil die Welt plötzlich von Öko-Aktivisten regiert wird, sondern weil dies auf den Weltmärkten und von der chinesischen Volkspartei entschieden wurde. Die Frage ist heute nur, wie lange diese Transformation dauern wird.
Auch die Union will sich laut Wahlprogramm für den Ausbau der »Netze, Speicher und alle Erneuerbaren« einsetzen. Und die Habeck-Grünen haben mit Vorstößen wie einer pauschalen Investitionsprämie ihre hohen Ansprüche an den grünen Umbau der Wirtschaft abgemildert. Einzig die Frage nach der Atomkraft spaltet beide Parteien. Aber angesichts der Tatsache, dass dies ohnehin nur ein Randthema ist, dürfte dieser Konflikt nicht unüberwindbar sein.
»Nur Stunden nachdem die Union versucht hat, mit Stimmen der AfD das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz durch den Bundestag zu bringen, waren es die Grünen, die trotz Tabubruch-Vorwürfen weiterhin ihre Offenheit für eine gemeinsame Koalition signalisierten.«
Dass beide Parteien sich so nah sind wie nie, ist auch ihrer jeweiligen Wählerklientel zu verdanken. Die Grünen rekrutieren sowohl Personal als auch Wählerinnen und Wähler überwiegend aus der sogenannten Professional Managerial Class (PMC), also akademisch gebildeten Berufsgruppen im öffentlichen und staatsnahen Dienstleistungssektor, wie Alexander Brentler bereits an dieser Stelle schrieb. Lehrerinnen, Verwaltungsbeamte des mittleren und höheren Dienstes, Sozialarbeiter, Wissenschaftlerinnen sowie Angestellte zivilgesellschaftlicher Organisationen prägen maßgeblich die Partei. Zudem nimmt der Anteil von kleinen und mittelständischen Unternehmern zu.
Die Union wird nach wie vor von einer breiten Wählerschaft unterstützt, hat ihre Stärken aber in den ländlichen Regionen, bei Unternehmerinnen, höheren Einkommensgruppen und vor allem Rentnern. Auffällig ist jedoch, dass die Konservativen ebenso wie die Grünen besonders erfolgreich bei Akademikern sind. 59 Prozent aller Wähler mit Hochschulabschluss gaben bei der Europawahl im vergangenen Jahr einer der beiden Parteien ihre Stimme. Zudem sind beide Parteien stark bei Angestellten und Selbstständigen, während Arbeiter die kleinste Wählergruppe stellen.
Das Ergebnis: Die Grüne PMC und die konservative Mittelschicht vertreten – abseits einiger gesellschaftspolitischer Differenzen – sehr ähnliche Interessen: Wohlstandserhalt, attraktive Bedingungen für Unternehmen, moderate Verteilungs- und Steuerpolitik, eine starke transatlantische und europäische Bindung und eine Priorisierung der inneren und äußeren Sicherheit.
Wie stark die Bindungskraft dieser Gemeinsamkeiten ist, zeigt sich dieser Tage. Nur Stunden nachdem die Union versucht hat, mit Stimmen der AfD das sogenannte »Zustrombegrenzungsgesetz« durch den Bundestag zu bringen, waren es die Grünen, die trotz Tabubruch-Vorwürfen weiterhin ihre Offenheit für eine gemeinsame Koalition signalisierten. »Es gibt zwei Lager, die nicht mehr miteinander gesprächsfähig sind. Und die sich nur noch mit moralischen Vorwürfen überziehen«, sagte Robert Habeck. Zusammenarbeiten wolle man trotzdem.
Hält man sich für einen Moment die Ohren zu, blendet das Geplärre aus, dann schmelzen die Differenzen der beiden Parteien auf ein paar Kleinigkeiten zusammen. Der Eklat um die konservativen Avancen an die AfD scheint dann nicht mehr zu sein als Friedrich Merz’ letzter Stabilitätstest für die schwarz-grünen Beziehungen. Und diesen haben die Grünen mit Bravour bestanden. »So gewaltig sind die Unterschiede dann doch nicht«, hatte Jens Spahn gesagt. Heute muss man sagen: Das ist untertrieben.