19. Februar 2025
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Westen Vertreibung und Umsiedlungen zumindest auf dem Papier abgelehnt – faktisch aber lange toleriert. Heute sind selbst solche Lippenbekenntnisse zum Völkerrecht kein Standard mehr.
Trump bei einer Pressekonferenz mit Netanjahu, Washington, 4. Februar 2025.
Der Vorschlag von US-Präsident Donald Trump, den Gazastreifen zu annektieren und seine 2 Millionen palästinensischen Einwohnerinnen und Einwohner nach Ägypten und Jordanien »umzusiedeln«, hat wie erwartet einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Praktisch alle arabischen Staaten, allen voran Saudi-Arabien, lehnen Trumps Idee ab. Menschenrechtsorganisationen und Völkerrechtler erinnern, dies würde eine klare Verletzung des Völkerrechts darstellen.
Im Gegensatz dazu begrüßen die meisten Israelis den Vorschlag. Befürworterinnen und Befürworter verweisen auf Präzedenzfälle aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, beispielsweise den türkisch-griechischen Bevölkerungsaustausch von 1923, die Vertreibung Millionen ethnischer Deutscher nach Ende des Zweiten Weltkriegs aus Teilen Osteuropas oder die Teilung Indiens 1947. Wenn angesichts solcher historischer Beispiele eine Umsiedlung palästinensischer Menschen heute abgelehnt würde, zeuge dies von Doppelmoral und Diskriminierung gegenüber Israel, so die Anhängerinnen und Anhänger von Trumps Plan.
Um diese Debatte zu durchschauen, müssen fünf historische Fakten verstanden werden. Es zeigt sich, dass gewisse Einschränkungen in der vor achtzig Jahren neubegründeten globalen Ordnung der Vereinten Nationen heute erodiert sind. Dabei muss aber betont werden, dass diese Ordnung auch in der Vergangenheit offensichtlich wenig Erfolg dabei hatte, wiederholte Massenvertreibungen zu verhindern.
Wenn eine heute neu entstehende internationale Ordnung die gewaltsame Logik der Nationalstaatsgründungen und imperialen Machtpolitik des 20. Jahrhunderts kopiert, erinnert dies vor allem daran, welche Grundlagen die Gründung diverser Staaten nach den beiden Weltkriegen hatte, gerade im Globalen Norden. Es ist in diesem Zusammenhang auch kein Zufall, dass heute vor allem afrikanische Staaten – allen voran Gambia und Südafrika – als die lautstärksten Verfechter von Normen gegen ethnische Säuberungen und Völkermord agieren.
Der erste historische Fakt ist, dass groß angelegte Vertreibungen von Bevölkerungsgruppen seit mindestens 200 Jahren ein Merkmal imperialer Machtpolitik sowie Teil der Gründung von Nationalstaaten waren. Immer wieder wurden aus einst multinationalen Imperien einzelne Völker vertrieben, wenn dies den Sicherheitsinteressen des neuen Staates diente. Vermeintlich »fremde« Völker, die dem Ideal einer demografischen Homogenität entgegenstanden, den Zugang zu Ressourcen und/oder das Sicherheitsgefühl der neu entstehenden Nationalstaaten bedrohten, wurden sie aus letzteren verdrängt.
Indigene Völker in Amerika und im kolonialen Australien wurden in unattraktive Landstriche abgeschoben (wenn sie nicht gleich massakriert wurden). Im Kampf mit griechisch-orthodoxen Aufständischen um die Gründung eines griechischen Nationalstaates in den 1820er Jahren erwogen die osmanischen Behörden, Griechen nach Ägypten zu vertreiben; in Griechenland selbst sollten derweil Muslime von der Peloponnes entfernt – und viele von ihnen getötet – werden. In den 1860er und 70er Jahren veranlasste das Russische Reich die Flucht tausender muslimischer Tscherkessen in das Osmanische Reich, nachdem Gebiete am Schwarzen Meer erobert worden waren. An ihrer Stelle sollten griechische Menschen angesiedelt werden.
»Dass ein echtes humanitäres Motiv hinter dem US-amerikanischen Vorschlag steht, dürften nur wenige glauben. Trumps Plan steht in einer langen Tradition imperialer Staatsführung.«
In den folgenden Jahrzehnten wurden Hunderttausende osmanische Muslime aus den christlich geprägten Balkanstaaten vertrieben oder flohen aus diesen, nachdem die osmanischen Streitkräfte besiegt waren und neue Nationalstaaten gegründet wurden. Als Griechenland während der Balkankriege 1912 die größtenteils jüdisch und muslimisch-osmanisch geprägte Stadt Saloniki annektierte, ging es schnell daran, den Ort mit Griechinnen und Griechen aus türkischen Gebieten zu »hellenisieren«.
Solche Prozesse waren ebenfalls typisch für die Konsolidierung von Nationalstaaten im gesamten 20. Jahrhundert. Nachdem Polen 1918 (wieder)gegründet worden war, machten sich die polnischen Regierungen daran, das Drittel der lokalen Bevölkerung, das weder Polnisch sprach noch römisch-katholisch war, zu »polonisieren«. Israelische Regierungen versuchten ihrerseits seit der Staatsgründung, Galiläa zu »judaisieren«, weil die dort überwiegend palästinensische Bevölkerung nicht mit dem zionistischen Ideal einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit vereinbar war. Aus denselben Gründen werden auch heute noch Menschen aus dem Westjordanland vertrieben.
Der zweite Fakt ist, dass Umsiedlungen, die als offizielle »Austauschmaßnahmen« im Rahmen zwischenstaatlicher Abkommen – wie zwischen der Türkei und Griechenland oder Indien und Pakistan – stattfanden, oft mit humanitären Gründen gerechtfertigt wurden. Demnach würde das aktuelle Leid der Umsiedlung lediglich vorübergehend sein und künftige Generationen davon abhalten, (erneut) in Bürgerkriege zu verfallen. Diese wurden nicht selten als inhärent für multinationale Staaten angesehen: Die vorherrschende Meinung war, dass Minderheiten destabilisierend wirken und homogene Nationalstaaten letztendlich den Menschenrechten zuträglicher seien würden. Selbst einseitige Umsiedlungen wurden von liberalen westlichen Eliten zwischen den Weltkriegen als progressive Politik angesehen, unter anderem auch von führenden Vertretern der britischen Labour Party. So empfahl die britische Peel-Kommission bereits 1936 die Teilung Palästinas und die Umsiedlung arabischer Menschen nach Jordanien.
Freilich gab es auch Skrupel: Menschen per Zwang aus ihrer Heimat zu verdrängen, galt meist als rote Linie. Aus diesem Grund lehnte das britische Kabinett die Empfehlungen der Peel-Kommission letztendlich auch ab. Am Ende des Zweiten Weltkriegs kritisierten britische Führungspersönlichkeiten darüber hinaus die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa und verglichen sie mit den Zwangsumsiedlungen im Rahmen der Hitler-Stalin- und Hitler-Mussolini-Abkommens. Adolf Hitler selbst hatte seinerseits einst vorgeschlagen, Jüdinnen und Juden auf die Insel Madagaskar zu deportieren.
Die Befürworter von Trumps jüngstem Plan sind sich vermutlich bewusst, dass dieser sehr nach Zwangsvertreibung aussieht. Deshalb wird, unter anderem seitens der Vereinigten Arabischen Emirate, die Freiwilligkeit der potenziellen Maßnahmen betont. Dass ein echtes humanitäres Motiv hinter dem US-amerikanischen Vorschlag steht, dürften nur wenige glauben. Doch rein rhetorisch steht Trumps Plan offensichtlich in einer langen Tradition imperialer Staatsführungskunst.
Der dritte Fakt ist, dass die Nachkriegsordnung auf einem Paradox beruht: Die Homogenität der Nationalstaaten – von der man glaubte, dass sie die Menschenrechte sichern würde – wurde erst durch die Verletzung der Menschenrechte von Millionen vertriebener Menschen möglich. Im Jahrzehnt vor den Genfer Konventionen von 1949 kam es zu dramatischen geo-demografischen Umgestaltungen in Europa und Asien. Polinnen und Polen, Deutsche, Südasiatinnen und Südasiaten wurden im Zuge der (Neu-)Gründung von Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg gewaltsam vertrieben. Dasselbe gilt für palästinensische Menschen nach der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948: Viele von ihnen landeten im Gazastreifen. Dass die nationalen Eliten dieser Staaten sich heute nicht vorstellen können, die Nachkommen dieser Flüchtlinge und Vertriebenen in ihre eigentliche Heimat zurückkehren zu lassen, ist ein Beleg dafür, dass das Paradox weiterhin Bestand hat.
In dieser Hinsicht scheint ein alternatives Szenario aus den Jahren der Entkolonialisierung für viele heute nicht mehr vorstellbar; nämlich die »Rückkehr« der Siedler nach dem Ende der Kolonialherrschaft: In Algerien verließen die Franzosen und andere Europäer 1962 das Land. Als Angola und Mosambik zwischen 1975 und 1976 ihre Unabhängigkeit erlangten, machten sich rund 1 Million europäischer »Retornados« auf den Weg »zurück« nach Portugal. Einige pro-palästinensische Stimmen verweisen heute auf diese Fälle als Vorbild und plädieren dafür, dass Israelis in die europäischen Länder »zurückkehren« sollten, aus denen ihre Eltern oder Großeltern gekommen waren. Dabei stammt jedoch etwa die Hälfte der jüdischen Bevölkerung, die heute in Israel lebt, aus Gebieten, die in Ländern mit muslimischer Mehrheit liegen. Dass sie tatsächlich dorthin »zurückkehren« könnten, ist eine Chimäre. Auch wenn ihre Zuwanderung Israel damals sehr willkommen war – und Israel zum Teil mit muslimischen Ländern zusammengearbeitet hat, um die Ausreise dieser jüdischen Bevölkerung zu fördern –, muss man festhalten, dass viele von ihnen unter Zwang kamen, weil sie vor Gewalt und Diskriminierung nach Israel flohen. Derweil unterstreicht die Tatsache, dass sich absolut niemand im Westen vorstellen kann, dass aktuell geflüchtete Palästinenserinnen und Palästinenser aus Gaza in ihrer Heimat in Israel unterkommen könnten, während Gaza wieder aufgebaut wird, die weiterhin vorherrschende Fixierung auf homogene Nationalstaaten sowie einen anti-arabischen Rassismus.
Der vierte Fakt ist, dass mit der nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten internationalen Ordnung Gewalt eingedämmt werden sollte. Diese Ordnung, die in der Charta der Vereinten Nationen verankert ist, sollte »Frieden und Sicherheit« für ihre Mitgliedstaaten garantieren, indem Gewalt zwischen Staaten geächtet würde. Kriege, so die Annahme, seien der Nährboden für Völkermord und ethnische Säuberungen. Dementsprechend verbieten die Genfer Konventionen ebenso wie das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs die Umsiedlung oder Ausweisung von Bevölkerungsgruppen.
Allerdings – und das ist der fünfte Fakt – hatten diese Maßnahmen kaum Erfolg dabei, solche Gewalt tatsächlich zu verhindern. Uganda wies 1972 Zehntausende Asiaten aus. Zwei Jahre später kam es im Zuge der türkischen Invasion auf Zypern zu Vertreibungen. Während der Balkankriege in den 1990ern wurden ebenfalls Menschen zur Flucht gedrängt: Kroatien vertrieb beispielsweise ethnische Serben, als es 1994 den abtrünnigen Kleinstaat Republik Serbische Krajina eroberte. Aserbaidschan löste 2023 den proto-armenischen Staat Bergkarabach innerhalb seiner eigenen Grenzen mit Gewalt auf. Mit Blick auf Ex-Jugoslawien versuchte der Internationale Strafgerichtshof zumindest, kroatische Generäle wegen der Vertreibung der serbischen Bevölkerung strafrechtlich zu verfolgen. Insgesamt wurden die Ergebnisse der Vertreibungen aber in beiden letztgenannten Fällen von den Westmächten akzeptiert. Aserbaidschan ist heute gar zu einem wichtigen Energielieferanten für Europa geworden.
»Trumps Vorschlag für Gaza und die Sanktionen der USA gegen den Internationalen Strafgerichtshof lassen darauf schließen, dass Washington die bisherige Nachkriegsordnung nicht nur aufgibt, sondern ihre Kernprinzipien aktiv aushebeln will.«
1999 bombardierte die NATO Serbien, um die Deportation der Kosovo-Albaner zu stoppen; doch diese Entscheidung dürfte eher geopolitisch motiviert gewesen sein: Serbien galt als russlandnah. Es ist jedenfalls schwer vorstellbar, dass die NATO ähnliche Maßnahmen zugunsten palästinensischer Menschen ergreifen würde. Im Gegenteil, diese wurden und werden durch westliche Waffen in israelischen Händen getötet.
Gambia hat das Land Myanmar wegen der gewaltsamen Vertreibung von über 700.000 Rohingya im Jahr 2017 vor den Internationalen Gerichtshof (IGH) gebracht. Ebenso hat Südafrika den IGH ersucht, Israel im Rahmen der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord wegen des Militäreinsatzes in Gaza anzuklagen. Während europäische Staaten Gambias Antrag unterstützten (da Myanmar als China-höriger Staat gilt), kritisieren sie Südafrika heftig und betonen die uneingeschränkte Unterstützung für Israel.
Trumps Vorschlag für Gaza und die Sanktionen der USA gegen den Internationalen Strafgerichtshof lassen nun darauf schließen, dass Washington die bisherige Nachkriegsordnung nicht nur aufgibt, sondern ihre Kernprinzipien aktiv aushebeln will. Ein System, mit dem einst behauptet wurde, sich gegen Zwangsumsiedlungen und Vertreibung einzusetzen, wird ad absurdum geführt. Ab jetzt wird Vertreibung offen unterstützt.
Wie oben beschrieben, kam es jedoch selbst innerhalb der früheren Ordnung zu ethnischen Säuberungen mit dem Ziel nationaler Homogenität, wenn dies als sinnvoll erachtet wurde. So gesehen entsprechen auch Trumps aktuelle Vorschläge voll und ganz der tieferliegenden Logik des Nationalstaates (in diesem akuten Fall Israel) und einer imperialen Geopolitik, in der heute die USA der Hegemon sind.
Wie schon in den 1940er Jahren werden imperiale Eliten und ihre Günstlinge über das Schicksal der Palästinenserinnen und Palästinenser entscheiden. Damals konnten die schwachen arabischen Staaten die palästinensische Bevölkerung nicht schützen. Die Geschichte scheint sich nun zu wiederholen, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Im Jahr 2025 wird gar nicht erst mit Lippenbekenntnissen versucht, den Anschein von Zurückhaltung zu erwecken.
A. Dirk Moses ist Anne and Bernard Spitzer Professor für internationale Beziehungen am City College New York.