23. Februar 2025
Die Faschisten von heute setzen nicht auf totalitären Terror. Sie haben ihren völkischen Nationalismus und ihre Politik der Entmenschlichung den Bedingungen des 21. Jahrhunderts angepasst. Diese politische Entwicklung hat niemand so hellsichtig vorausgesehen, wie der Philosoph G. M. Tamás.
Alice Weidel bekommt nach ihrer Wahl zur Kanzlerkandidatin Applaus auf dem Bundesparteitag der AfD in Riesa, 11. Januar 2025.
Als Fredric Jameson zu einem Symposium über Georg Lukács’ Die Zerstörung der Vernunft: Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler eingeladen wurde, stellte er fest: »Der Faschismus scheint tatsächlich ein Comeback zu erleben und manches von Lukács mag inzwischen nicht mehr so irritierend ›orthodox‹ klingen. Ich glaube man muss Lukács immer mit Blick auf seinen eigenen historischen Kontext lesen, der nicht unserer ist (es sei denn, er stellt sich doch als solcher heraus).«
Lukács veröffentlichte seine einflussreiche antifaschistische Analyse im Jahr 1952, aber er begann bereits zwei Jahrzehnte vor dem brutalen Ausbruch des Nazi-Terrors daran zu arbeiten. Heute mag es etwas weit hergeholt erscheinen, Goethe für den Aufstieg des deutschen Imperialismus verantwortlich zu machen. Aber in Zeiten der Verzweiflung suchen Menschen nach radikalen Wegen, um eine Kultur zu verstehen, die imstande war, eine derart genozidale Gewalt hervorzubringen.
Wenn es schon für diejenigen, die unter dem Faschismus lebten, nicht einfach war, den Faschismus zu verstehen, dann ist es für uns heute nicht einfacher geworden. In den frühen 2000er Jahren beklagte die ungarische Philosophin Ágnes Heller, dass die Philosophie durch die Abwesenheit von Fragen, die über Leben oder Tod entscheiden, ihre Schärfe verloren habe. Doch das Revival des Faschismus in Ungarn in den letzten zwei Jahrzehnten hat dazu geführt, dass wieder ernsthafte darüber nachgedacht wird, wie der Faschismus in einer Welt funktioniert – und erstarkt –, in der nicht dieselben Bedingungen herrschen, unter denen sich der Faschismus im 20. Jahrhundert emporstieg. Diese besorgniserregende politische Entwicklung hat keiner so hellsichtig analysiert, wie der 2023 verstorbene Philosoph Gáspár Miklós Tamás.
Tamás wurde 1948 in Kolozsvár (heute das rumänische Cluj) geboren. Seine Eltern waren aktive Kommunisten, die die Nazi-Besetzung überlebt hatten. Sein Vater, so erzählte Tamás, habe den Kommunismus trotz seiner Wut über die Exzesse des Stalinismus der Nachkriegszeit niemals aufgeben können, weil seine Freunde und seine Familie von Nazi-Kollaborateuren gefoltert und ermordet wurden. Tamás, der eine klassisch linke Ausbildung durchlaufen hatte und mehrere Sprachen fließend beherrschte, wurde in den 1980er Jahren zum prominentesten antisowjetischen Dissidenten der Region, der vor der Repression des Ceaușescu-Regimes schließlich nach Budapest floh.
Anfang der 1990er Jahre standen Tamás und der aufstrebende Viktor Orbán noch Seite an Seite, um für mehr Freiheit zu kämpfen. Doch ihre Vision eines post-sozialistischen Ungarns war nicht dieselbe: Tamás war damals noch ein Anhänger von Ideen des klassischen Liberalismus, wurde aber bald desillusioniert, als die Schocktherapie die Wirtschaft lahmlegte und Millionen von Menschen in Ungarn über Nacht in tiefe Armut stürzte. Jahrzehntelange Fortschritte in der Industrialisierung, dem Wohnungsbau bis hin zu Kultur und Bildung wurden durch den Neoliberalismus zunichtegemacht. Der darauffolgende Anstieg der Arbeits- und Obdachlosigkeit war für Tamás ein Wendepunkt.
»Als der historische Faschismus seinen Zweck erfüllt hatte, wurde er von den Mächtigen, die sich zuvor noch auf ihn gestützt hatten, auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt.«
Fortan argumentierte er, dass sämtliche hart erkämpften Errungenschaften der Moderne in der kapitalistischen Ära nach 1989 verloren gehen könnten. Ohne die Verbrechen der kommunistisch geführten Regierungen herunterzuspielen, muss man festhalten, dass sie den Arbeitern und Bauern in Ungarn und der Region Transsilvanien zum ersten Mal in der Geschichte Zugang zu Tolstoi, Puschkin, Rilke und anderen großen Humanisten eröffneten. Durch Bildungsprogramme wurde der Analphabetismus in der gesamten Region fast vollständig überwunden. Kultur war damit nicht mehr länger ein Privileg, das dem städtischen Bürgertum vorenthalten war: In der Sowjetzeit fanden Psychoanalyse, Expressionismus, atonale Musik, Bauhaus, Feminismus und marxistische Theorie so ihren Weg nach Ungarn.
Heute steht dieses kulturelle Erbe sowohl vonseiten der rechtsextremen Fidesz-Partei, als auch vonseiten liberaler Eliten unter Beschuss, wobei es den Liberalen in dieser Frontstellung vor allem darum geht, die Kräfte kleinzuhalten, die sich gegen die Dominanz der USA in Ungarn auflehnen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hinterließ in den post-sozialistischen Ländern ein Vakuum, das von ultrarechten Bewegungen besetzt wurde und aus denen Regierungen hervorgegangen sind, die faschistische Zügen tragen – Regierungen, die Tamás als »post-faschistisch« bezeichnete.
Der Begriff des »Faschismus« wird tendenziell mit der exzessiven Anwendung politischer Gewalt, ethnischen Säuberungen und einem extrem autoritären Politikstil in Verbindung gebracht. Erst als Hitlers imperialistische Ambitionen drohten, das damals bestehende Machtgefüge zu destabilisieren und er anstrebte, ganz Europa zu besetzen, wurde der Faschismus zum Feind des organisierten Kapitals. Als der historische Faschismus seinen Zweck erfüllt hatte, wurde er von den Mächtigen, die sich zuvor noch auf ihn gestützt hatten, auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt.
Wie Tamás argumentiert, ist die Rolle des Postfaschismus zwar in mancher Hinsicht vergleichbar mit der des Faschismus des 20. Jahrhunderts – sozialistische Bewegungen sollen von der Macht ferngehalten werden –, weist aber einige entscheidende Unterschiede auf. Der Postfaschismus muss nicht so tödlich agieren wie sein Vorgänger, auch die Eugenik oder imperialen Ambitionen kann er ablegen. Die ultra-imperialistische Rhetorik von Zwischenkriegsfaschisten wie Mussolini und Franco mag den Postfaschisten von heute lachhaft erscheinen. Manche von ihnen, wie Viktor Orbán, sind sogar Kriegsgegner und bekunden ihre flammende Unterstützung für die Beendigung des Ukraine-Kriegs, wenn auch zu Putins Bedingungen. Während der Neofaschismus die Ideologie und Ästhetik des klassischen Faschismus nostalgisch verklärt, hat sich der Postfaschismus den Bedingungen des 21. Jahrhunderts angepasst. In reaktionärer Manier versucht er, die Nation und nationale Identität gegen die Globalisierung zu verteidigen.
»Die Elite der politischen Rechten Europas drückt ihre rabiaten Positionen unverhohlener und selbstbewusster aus, sodass es nicht verwunderlich ist, dass die Staatsbürgerschaft immer mehr zu einem umkämpften Privileg wird.«
Im Vergleich zum klassischen Faschismus inszeniert sich der Postfaschismus auch nicht als subversive Opposition zum hegemonialen Liberalismus. Die Postfaschisten von heute kokettieren nicht mit der Vorstellung, eines radikalen Bruchs mit etablierten gesellschaftlichen Normen, der Abschaffung der Demokratie oder dem Einsatz von totalitärem Terror – sie wollen vielmehr nationalistische Regierungen stärken. Genau deswegen betreiben sie eine nationalistische Identitätspolitik, die migrantische Menschen und andere marginalisierte Gruppen ausgrenzt. Tamás zufolge gehe es dem Postfaschismus darum, die Tendenz der Aufklärung, die Staatsbürgerschaft immer mehr in die conditio humana zu integrieren, wieder umzukehren. Die Idee einer universell gültigen Staatsbürgerschaft ist ihnen verhasst. Gerade deswegen wurden Menschen ohne Papiere, Wohnungslose, Migranten oder Geflüchtete zum Feindbild vieler postfaschistischen Kräfte: Ihr Ziel ist es, diejenigen aus der Gesellschaft zu drängen, die sie für unzivilisiert halten oder deren Leben sie nicht als gleichwertig erachten. Wer von dem Erwerb der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen wird, dem wird für Tamás der Status der Menschlichkeit genommen.
Dass Tamás mit seiner Theorie Recht behalten sollte, lässt sich heute bei politischen Bewegungen weltweit beobachten. Neben Donald Trumps Project 2025 kann man Züge des Postfaschismus auch in den politischen Vorhaben von Viktor Orbán in Ungarn, Marine Le Pens Rassemblement National, der Alternative für Deutschland, Giorgia Meloni und der Fratelli d’Italia erkennen. Was sie alle eint, ist ihre migrationsfeindliche Haltung, ihre Xenophobie und Islamophobie und ihr Hang zu modernen, nationalistischen Ideologien wie dem Femonationalismus oder dem Homonationalismus.
Inzwischen werden faschistische Bewegungen von Frauen angeführt – ein Phänomen, das vor drei Jahrzehnten unvorstellbar gewesen wäre. Aufsteigende Postfaschistinnen wie Marine Le Pen und Giorgia Meloni verschieben die Grenzen der politischen Mitte in Europa, und brechen mit traditionellen Vorstellungen faschistischer Männlichkeit. Le Pen und Orbán integrieren den Femonationalismus in ihr Narrativ und instrumentalisieren den Kampf um Frauenrechte für ihre Hetze gegen »die anderen«. Orbán behauptete etwa in einer Rede vor dem Europäischen Parlament im Oktober 2024, dass »illegale Migration die Ursache für den zunehmenden Antisemitismus, die Gewalt gegen Frauen und die Homophobie in ganz Europa ist«. Diese Erzählung ist für die Entmenschlichung von Muslimen – und zunehmend auch von Palästinensern – zentral. So behauptete etwa FDP-Politikerin Karoline Preisler, Israels Existenz als »Rechtsstaat« entlaste es von der Schuld an Kriegsverbrechen. In dieser Haltung kommt die aktuelle postfaschistische Stimmung zum Ausdruck.
Die Elite der politischen Rechten Europas drückt ihre rabiaten Positionen unverhohlener und selbstbewusster aus, sodass es nicht verwunderlich ist, dass die Staatsbürgerschaft immer mehr zu einem umkämpften Privileg wird. Menschen, die vor Kriegen und Not fliehen und einen sicheren Zufluchtsort suchen, werden in Lager gesteckt oder dem Tod im Mittelmeer überlassen. Ihre Menschlichkeit wird von Politik und Medien untergraben, indem man sie zu »Asylanten« macht.
»Während der Neofaschismus die Ideologie und Ästhetik des klassischen Faschismus nostalgisch verklärt, hat sich der Postfaschismus den Bedingungen des 21. Jahrhunderts angepasst.«
Tamás war überzeugt, dass dieser Gedanke – also der Ausschluss von Teilen der Menschheit aus der menschlichen Gemeinschaft – im Zentrum eines neuen Faschismus stehen würde. Der Postfaschismus, so Tamás, wird diejenigen, die er zu »Nichtbürgern« degradiert, nicht mit Güterzügen in den Tod schicken. Er wird einfach nur verhindern, dass die »Nichtbürger« Züge besteigen, die sie in Länder bringen, in denen alles im Überfluss vorhanden ist und die Mülltonnen überquellen. Für Tamás besteht also ein grundlegender Unterschied zwischen den Anliegen des alten und des neuen Faschismus: In einer Zeit, in der immer mehr Staaten des Westens die Bedingungen für die Erlangung von Staatsbürgerschaft, Visa und Aufenthaltsgenehmigungen und Arbeitserlaubnissen verschärfen, um sich gegen Menschen aus verarmten Teilen der Welt abzuschotten, entstehen auch neue politische Allianzen.
Deutschland ist ein drastisches Beispiel dieser Entwicklung, wo Menschen, die gegen den Völkermord in Palästina demonstrieren, inhaftiert oder sogar abgeschoben werden können. Aktuell wird darüber diskutiert, die Einbürgerung an das Bekenntnis zum Existenzrecht Israels zu koppeln. Der Zugang zur Staatsbürgerschaft wird somit benutzt, um Menschen, die der Staatsideologie widersprechen, abzustrafen. Die immer weiter eskalierende Klimakrise wird zu neuen Fluchtbewegungen führen und migrationsfeindliche Haltungen werden sich in der Politik voraussichtlich weiter verstärken. Das von Angst getriebene gesellschaftliche Klima hat schon jetzt rassistische und antisemitische Verschwörungstheorien und Bewegungen hervorgebracht. Trumps Project 2025, das eine weitere Militarisierung der Grenzkontrollen und Massenabschiebungen fordert, trägt eindeutig die Handschrift Viktor Orbáns.
In Großbritannien, wo im letzten Jahr Rechtsextreme Migranten, Geflüchtete und Organisationen, die sich für Geflüchtete einsetzen, attackierten, vergegenwärtigte sich Tamás’ Konzept vom »dualen Staat«: auf der einen Seite der »normative Staat« für die Bevölkerung der kapitalistischen Zentren und auf der anderen Seite ein »Staat mit besonderen Vorrechten« für Nichtbürger, die in ein Land migrieren oder fliehen. Diese Dualität des Staats und der staatlichen Regulierung wird in den fortgeschrittenen kapitalistischen Demokratien immer deutlicher sichtbar. Das rassistische Grenzregime der Europäischen Union bildet den Nährboden, auf dem sich der Faschismus entwickeln kann. Der Prozess der »Faschisierung« ist vielschichtig: Er vollzieht sich auf der Ebene des Nationalstaats, der globalen Metropolen, der politischen Parteien – und er vollzieht sich in Abwesenheit eines organisierten globalen antifaschistischen Widerstands. Jamesons ominöse Aussage, dass sich Lukács’ historischer Kontext als der unsere herausstellen könnte, scheint sich immer mehr zu bewahrheiten.
Anita Zsurzsán ist unabhängige Wissenschaftlerin und lebt in Budapest.