09. Mai 2025
In einer zutiefst ungleichen Gesellschaft, in der das männliche Selbstwertgefühl an Reichtum geknüpft ist, ist es vorprogrammiert, dass verzweifelte junge Männer sich frauenfeindlichen Ideen zuwenden, um sich selbst aufzuwerten. Die Linke muss Alternativen dazu anbieten.
Der antifeministische Influencer Andrew Tate (links) und sein Bruder Tristan (rechts) sitzen maskulin während eines UFC-Kampfes in Las Vegas, USA, 8. März 2025.
Die Netflix-Serie Adolescence handelt vom Nachspiel eines Mordes, bei dem ein Teenager seine Mitschülerin getötet hat. Die Serie ist äußerst erfolgreich, hat fast 100 Millionen Aufrufe erzielt und ist damit einer der bisher größten Hits des Streamingdienstes. Die Zuschauerschaft lobt die nuancierte Darstellung einer jugendlich-männlichen Lebenswelt, die von den misogynen Ansichten der »Manosphere« im Internet durchdrungen ist.
Nicht alle sind begeistert. Der Manosphere-Held (und mutmaßliche Menschenhändler) Andrew Tate wird in der Serie explizit genannt. Ein Sprecher des Top-Influencers kritisierte gegenüber Newsweek: »Der Verweis auf Andrew Tate in Adolescence ist ein Versuch, breitere gesellschaftliche Probleme auf ein einzelnes Individuum zu projizieren. Das ist weder fair noch sachlich richtig. Online-Influencing ist zweifellos ein wichtiges Thema, aber es ist ungerecht, ihn zum Sündenbock für komplexe Probleme wie Radikalisierung und Gewalt zu machen, die weitaus tieferliegende kulturelle und systemische Ursachen haben.«
Damit liegt Tates Sprecher durchaus richtig: Sein ebenso toxischer wie wütender Chauvinismus ist tatsächlich ein Symptom tiefgehender kultureller und auch ökonomischer Trends. Die Anthropologin Kristen Ghodsee sprach mit Meagan Day von Jacobin über den sozialen Druck und die sozialen Widersprüche, die junge Männer in den Bann von Figuren wie Tate ziehen und letztere zu Stars machen.
Im Gespräch stellt Ghodsee die These auf, dass die Manosphere eine Leere füllt, die dadurch entstanden ist, dass männlicher (Selbst-)Wert an Reichtum geknüpft wird – und das in einer Gesellschaft mit immer größer werdender Ungleichheit. Wir sollten demnach die Theorie ernst nehmen, dass die moderne Gesellschaft in gewisser Weise »überschüssige Männer« produziert, wodurch wiederum ein Element sozialer Instabilität entsteht, das alle etwas angeht. Die Frage ist, wie wir mit dem Problem entmutigter, wütender, frustrierter und verletzter junger Männer umgehen – ohne dabei hart erkämpfte feministische Errungenschaften zu gefährden.
Was macht die Manosphere für junge Männer so attraktiv?
Viele Jungen und junge Männer sind buchstäblich »lost«, also entmutigt und orientierungslos. Die Zukunft erscheint ihnen düster; sie suchen verzweifelt nach Möglichkeiten, sich bestätigt und wertgeschätzt zu fühlen. Die meisten Männer sind ökonomisch abgehängt, aber der gesellschaftliche Status von Männern wird nach wie vor in erster Linie an ihrem finanziellen Wohlstand gemessen. Eine Umfrage des Pew Research Center aus dem Jahr 2017 ergab, dass 71 Prozent der US-Bürgerinnen und -Bürger der Meinung sind, es sei »sehr wichtig, dass ein Mann seine Familie finanziell versorgen kann«. Nur dann sei er »ein guter Ehemann oder Partner«. Jungen Männern wird vermittelt, dass sie Geld verdienen müssen, um begehrt und respektiert zu werden. Doch unsere Wirtschaftsform macht ihnen das unglaublich schwer.
Ob bewusst oder unbewusst, glauben diese Männer, dass Frauen sie ohne Geld schlicht nicht wollen – und andere Männer sie nicht respektieren. Sie sehen Figuren wie Elon Musk, Mark Zuckerberg und Jeff Bezos als Ideale an, wissen aber gleichzeitig, dass sie ihnen in materieller Hinsicht niemals auch nur annähernd gleichkommen werden. Also suchen sie nach Alternativen, nach etwas, das eher in ihrer Reichweite liegt.
Da kommt diese aufgepumpte, aufgemotzte Männlichkeit ins Spiel: Sie ist einfach billiger und leichter zu erreichen. Männer haben per Natur das »Rüstzeug« - sie wurden damit geboren; und rund die Hälfte der Gesellschaft hat diese Eigenschaften nicht. Das wirkt wie ein automatischer Vorteil. Genau deshalb schwärmt Tucker Carlson von Dingen wie Rotlichttherapie für die Hoden. Es geht darum, die eigenen natürlichen Ressourcen zu schätzen und kultivieren. Natürlich geht dies meist einher mit einer Herabwürdigung von Frauen. Man denke an Andrew Tate und dessen offenen Frauenhass. Oder daran, wie UFC-Kampfsportler ihre Gegner möglichst aggressiv feminisieren.
»Kapitalismus und Monogamie gehen in der Regel Hand in Hand. Das ist kein Zufall.«
Wenn Männer allein für die Tatsache hochgejubelt werden, dass sie Männer sind, wird kaschiert, dass ihnen in Wirklichkeit die Früchte ihrer Arbeit vorenthalten werden. Das ist ein klassischer Schachzug, wenn man eine stark entrechtete oder machtlose Bevölkerungsgruppe hat, die eine Gefahr für die soziale Stabilität darstellen kann: Man muss sie beschwichtigen. In Utopien für den Alltag erkläre ich mit einem Blick in die Geschichte, dass es als eine Möglichkeit angesehen wurde, wütende junge Männer, die ein von großer Ungleichheit geprägtes Wirtschaftssystem destabilisieren könnten, zu beschwichtigen, indem man jedem Mann eine Frau gibt, damit er in seinem eigenen Zuhause den Diktator geben kann. Wenn Männer sich in der öffentlichen Sphäre entmachtet fühlen, können sie diese Frustration zu Hause kompensieren, im Sinne von: »Wenigstens in meinem eigenen Haus bin ich der König.« Das ist eine uralte Technik zur Stabilisierung der Gesellschaft.
Junge Männer denken meist nicht kritisch darüber nach. Dabei meinen es die meisten von ihnen nur gut: Die meisten Männer, die ich unterrichte – insbesondere junge – wollen einfach nur Wertschätzung. Sie wollen respektiert, geliebt und geschätzt werden. Da ist überhaupt nichts Niederträchtiges dran, aber es kann in schreckliche Auswüchse führen.
Die Manosphere beschäftigt sich viel mit Ungleichheit unter Männern selbst. So gibt es die Debatte über Alpha- und Beta-Männer und den Incel-Diskurs zu 80–20 [80 Prozent der Frauen fänden lediglich 20 Prozent der Männer attraktiv]. In gewisser Weise geht der Kampfsport in eine ähnliche Richtung und Trump spricht dies ebenfalls immer wieder an. Es scheint fast, als werde kollektiv über nichts anderes nachgedacht als die soziale Stellung des Mannes.
Das ist aber sicher nicht typisch »maskulin« oder in jeder Gesellschaft unvermeidlich, oder? Welche Rolle spielte beispielsweise die Gesellschaftsform im osteuropäischen Staatssozialismus, in dem die Ungleichheit zwischen Männern nivelliert wurde? Welche Auswirkungen hatte das auf die Beziehungen der Männer untereinander sowie zu Frauen?
In Osteuropa gab es zwar immer noch das Patriarchat – die Abschaffung des Kapitalismus führt nicht automatisch zur Abschaffung des Patriarchats. Aber das Patriarchat war von seiner Rolle als Aufrechterhalter der Vermögensungleichheiten losgelöst worden. Das schwächte es.
Es gab auch nach wie vor Ungleichheiten. Doch dabei handelte es sich um Ungleichheiten in Bezug auf Privilegien, nicht auf Reichtum. Selbst auf den höheren sozialen Stufen der kommunistischen Gesellschaft gab es Beschränkungen hinsichtlich der Größe der Wohnungen. Eine Villa war nicht drin. Ebenso war es sehr schwierig, ein Auto zu bekommen – und wenn man eins hatte, war es dasselbe, das alle anderen auch bekommen konnten. Die Leute prahlten eher damit, wie viele Bücher sie gelesen hatten oder in welchem Monat sie in den staatlich geführten Seebädern Urlaub machen durften. (Der Juli war übrigens der Statussymbol-Monat.)
Um Partnerinnen zu finden und gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen, investierten die Männer nicht in höhere Einkommen. In einer sozialistischen Gesellschaft hätte das ohnehin nicht funktioniert – auch, weil es schlichtweg nichts zu kaufen gab. In diesem Kontext wählten Frauen ihre Partner aufgrund von Anziehung, Gemeinsamkeiten, gemeinsamen Interessen und Zuneigung. Ob der Mann die Miete bezahlen konnte, spielte keine Rolle; es gab ja sowieso Wohnungen vom Staat. Diese Staaten boten darüber hinaus Kindergeld, Kinderbetreuung und bezahlten Elternurlaub mit Arbeitsplatzgarantie. Im Sozialismus mussten Männer aufmerksam und gute Partner sein, um für Frauen attraktiv zu sein.
Wie ich in meinem Buch Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben darlege, führte dies dazu, dass Männer »in sich selbst investierten«, um interessante Männer zu werden, mit denen Frauen zusammen sein wollten. Wenig verwunderlich, verbesserte dies die Beziehungen zwischen den Geschlechtern!
Nach dem Sozialismus, als materieller Reichtum plötzlich wichtig wurde, um Frauen anzuziehen, stellten Männer fest, dass es deutlich einfacher ist, Geld zu verdienen, als interessant zu sein. Dieser Wandel war nicht gut für Frauen; aber er war insbesondere schlecht für Männer. Ich habe mit Männern gesprochen, die im Staatssozialismus aufgewachsen sind und erzählten, nach 1989/91 seien sie sich nie mehr sicher gewesen, ob eine Frau mit ihnen zusammen war, weil sie sie liebte oder weil sie ihr Geld brauchte. Sie hatten eine idealisierte Vorstellung von Liebesbeziehungen in Zeiten vor dem Kapitalismus: Wenn eine Frau damals mit dir zusammen war, dann weil sie dich wirklich mochte. Das gab den Männern ein Gefühl der Sicherheit.
Du sagtest vorhin, junge Männer müssten »beschwichtigt« werden, weil die Eliten Angst vor ihrem destabilisierenden Potenzial haben. Was genau meinst Du damit?
Es gibt zahlreiche anthropologische Studien darüber, dass abgehängte und partnerlose junge Männer eine ernsthafte Bedrohung für die soziale Ordnung darstellen. Besonders interessant ist ein Artikel von Joseph Henrich und seinen Kollegen darüber, dass Polygamie von Natur aus für Instabilität sorgt. Denn polygame Gesellschaften bringen eine ganze Schicht unverheirateter Männer mit niedrigem sozialem Status hervor, die sich dann in diversen antisozialen Verhaltensweisen ergehen – weil sie ja ohnehin nichts zu verlieren haben.
»Je größer die ökonomische Ungleichheit wird, desto verzweifelter werden benachteiligte Männer nach Möglichkeiten suchen, sich von anderen abzuheben.«
Kapitalismus und Monogamie gehen in der Regel Hand in Hand. Das ist kein Zufall. Es wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass Monogamie für den Kapitalismus wichtig ist, weil sie den generationsübergreifenden Transfer von Reichtum von den Vätern an ihre legitimen Söhne erleichtert. Was wir jedoch übersehen, ist, dass in einer Gesellschaft mit extremer Ungleichheit zwischen Männern – mit einigen wenigen sehr reichen Männern an der Spitze und vielen nicht reichen Männern am unteren Ende – diese benachteiligten Männer ein Problem für die Machthaber darstellen können. Die Monogamie stellt sicher, dass die Männer, die den ganzen Reichtum bekommen, nicht auch noch alle Frauen bekommen. Aufbauend auf den Arbeiten von Henrich und Historikerinnen wie Laura Betzig argumentiere ich daher, dass die gesellschaftlich auferlegte universelle Monogamie ein Instrument ist, mit dem männliche Eliten die Stabilität in einer ungleichen Gesellschaft aufrechterhalten: Wenn Ehefrauen sozusagen möglichst breitflächig in der gesamten Gesellschaft »umverteilt« werden, lassen sich dadurch gesellschaftliches Chaos, Unruhe und Rebellion eindämmen.
In einer Studie aus dem Jahr 2016 wurde der Zusammenhang zwischen Monogamie und Gewalt von Männern untersucht und festgestellt, dass eine feste Partnerschaft tatsächlich gewalttätiges Verhalten von Männern reduziert. Ein Paper von 2019 über »überschüssige Männer« im Journal of Conflict Resolution lieferte ebenfalls gute Belege dafür, dass »junge Männer, die polygamen Gruppen angehören« – sprich: polygamen Gesellschaften mit mehreren Frauen pro Mann und somit vielen alleinstehenden Männern – »sich ungleicher behandelt fühlen und eher zu Gewalt neigen als Männer, die monogamen Gruppen angehören«. Monogamie ist quasi die Lösung für den Ehefrauenmangel in polygamen Gesellschaften.
Was passiert aber, wenn der Mangel an verfügbaren Ehefrauen andere Ursachen hat? Wenn dieser Mangel entsteht, weil Frauen später heiraten, oder weil sie gar nicht heiraten, oder weil sie ihr hart erkämpftes Recht auf Ehescheidung wahrnehmen – und eben nicht, weil die wenigen reichen Männer sie alle für sich haben? Was, wenn all dies auf Basis feministischer Fortschritte und größerer Unabhängigkeit von Frauen geschieht? Das schafft dasselbe Problem wie die Polygamie: Es entsteht eine Klasse von rastlosen, orientierungslosen, potenziell unberechenbaren, partnerinnenlosen Männern.
Und diese Männer sind sehr verletzlich. Aus sozial konstruierten Gründen erhalten Männer emotionale Unterstützung primär von Frauen, während Frauen diese untereinander finden. Als ich 2022 in Deutschland lebte, hatte ich zwei Kolleginnen, ukrainische Psychologinnen, die Telefonberatung für traumatisierte Menschen an der Front in der Ukraine anboten. Sie erzählten mir, dass fast alle ihre Anruferinnen Frauen waren, obwohl die meisten Soldaten ja Männer sind und diese selbstverständlich auch mit massiven Traumata zu kämpfen haben. Diesen Männern ist es offenbar peinlich, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Und junge Männer ohne emotionale Unterstützung lassen sich leicht radikalisieren, denn sie leiden unter echtem Schmerz.
Deiner Ansicht nach müssen wir das destabilisierende Potenzial von Männern ohne Partnerin erkennen. Der Kapitalismus will das Chaos, das diese Situation mit sich bringen kann, nicht haben – wir auch nicht.
Es ist also ein reales Problem. Aber die Lösung kann nicht darin bestehen, feministische Errungenschaften zurückzunehmen oder, noch schlimmer, »staatlich zugewiesene Freundinnen« einzuführen, wie es einige Incel vermeintlich im Scherz sagen. Die Autonomie der Frau trägt in gewisser Weise zur Problematik bei, aber wir wollen diese Autonomie auch nicht einschränken oder zurückschrauben, um das Problem zu lösen. Was also tun?
Wir müssen alternative Anerkennungsmodelle für männliche Leistungsfähigkeit etablieren, die über das Dasein als UFC-Kämpfer oder Milliardär hinausgehen.
Je größer die ökonomische Ungleichheit wird, desto verzweifelter werden benachteiligte Männer nach Möglichkeiten suchen, sich von anderen abzuheben. Wir werden dann noch mehr Frauenfeindlichkeit in der Manosphere erleben und damit mehr Bigotterie jeglicher Art. Ziel von Manosphere-Content ist es, die Partnerlosen, die »überschüssigen Männer«, abgelenkt zu halten. Das wird nicht verschwinden, solange die Vermögensungleichheit nicht angegangen wird. Die große Lösung wäre also, die Vermögensungleichheit durch Umverteilung zu verringern. Das ist das ganz große Projekt.
»Abgesehen von Klassenkämpfen und zivilgesellschaftlichen Organisationen brauchen wir vor allem gute Arbeitsplätze. Denn Arbeitsplätze können auch diesen Zweck erfüllen, nur im Kapitalismus tun sie das absolut nicht.«
Darüber hinaus könnten wir uns aber auch andere Quellen für den Selbstbewusstseinsaufbau vorstellen, die nicht in der Anhäufung von Reichtum und roher körperlicher Aggression begründet liegen. Um das zu erreichen, brauchen wir Institutionen, die junge, unverheiratete Männer für andere Werte und Eigenschaften belohnen. Interessanterweise gibt es eine Institution mit zahlreichen unverheirateten jungen Männern, die es schafft, die chaotische Energie weitgehend zu kontrollieren: das Militär. Warum? Weil man beim Militär Anerkennung bekommen kann. Soldaten erhalten Beförderungen, erlangen Abzeichen und höhere Ränge, die festlegen, wie sie behandelt werden müssen oder wie man ihnen salutiert. Militärische Strukturen haben eine eingebaute, nicht-monetäre Form der Anerkennung.
Wir brauchen also Institutionen, die partnerinnenlosen Männern eine verlässliche Quelle für positives Selbstwertgefühl bieten. Im Idealfall würden diese Institutionen Ungleichheit beseitigen, statt nur Ablenkung zu bieten oder Ängste umzuwandeln.
Eine aktive Arbeiterbewegung könnte solche Belohnungen für Eigenschaften wie politische Führungskompetenz oder für gemeinnützige Arbeit, politische Bildungsarbeit et cetera bieten. Ein hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad schafft komplette soziale Welten mit eigenen Anreiz- und Bestätigungsstrukturen. Dies könnte eine starke stabilisierende Kraft sein. Wenn man zurückdenkt, distinguierten sich alleinstehende Männer am unteren Ende der Gesellschaft in den 1930er Jahren durch Klassenkampf. Durch ihre aktive Partizipation wurden sie zu Menschen, auf die sie selbst stolz sein konnten. Sie erlebten echte Abenteuer, wie sie in Romanen von John Steinbeck oder Upton Sinclair vorkommen könnten.
Deswegen betone ich, dass wir einen Blick auf die damaligen sozialistischen Länder Osteuropas werfen sollten. Sie waren wirklich gut darin, Institutionen wie die Pioniere oder den Komsomol aufzubauen. Diese zivilgesellschaftlichen Organisationen boten den Menschen Aufstiegsmöglichkeiten und ein Gefühl des Erfolgs und Aufstiegs. Sie stellten alternative Quellen der Wertschätzung bereit – als Gegenentwurf zum Anhäufen von Reichtum und physischer Dominanz. In Deutschland gibt es heute noch eine hohe Dichte an zivilgesellschaftlichen Organisationen. In den USA sind diese, wie Robert Putnam in seinem Buch Bowling Alone beschrieben hat, hingegen bereits verlorengegangen.
Die Lösung für das Problem massenhaft ideologisch instabiler, partnerinnenloser Männer ist es also nicht, feministische Errungenschaften zurückzuschrauben, sondern dem lokalen Lions Club den Rücken zu stärken?
[Lacht.] Vielleicht nicht unbedingt das. Aber vielleicht Amateurfußball an den Wochenenden oder traditionelle Kampfsportarten, wo man Gürtel gewinnen und Rangstufen erklimmen kann. Wir leben in einer Gesellschaft, in der sich alles um Reichtum dreht; wir brauchen andere Maßstäbe für Erfolg: Man verdient sich Respekt nicht nur durch Geld oder einen Sixpack, sondern durch Leistungen. Die angesprochenen Institutionen fördern das Selbstwertgefühl sowie pro-soziales Verhalten.
Abgesehen von Klassenkämpfen und zivilgesellschaftlichen Organisationen brauchen wir vor allem gute Arbeitsplätze. Denn Arbeitsplätze können auch diesen Zweck erfüllen, nur im Kapitalismus tun sie das absolut nicht.
Guter Punkt. Für Menschen aus der Arbeiterklasse bieten Arbeitsplätze in der Regel kein Gefühl der Erfüllung oder Wertschätzung. Für viele Menschen gibt es keine Aufstiegsmöglichkeiten, keine aufrichtigen Glückwünsche für gute Arbeit, kein befriedigendes Gemeinschaftsgefühl und keine positive Bestärkung der Selbstwahrnehmung. »Bessere Jobs« bedeutet in dieser Hinsicht nicht nur »bessere Bezahlung«. Bessere Jobs müssen auch eine solche Quelle für ein besseres Selbstwertgefühl sein…
Zunächst einmal braucht jeder Mensch Geld. Aber darüber hinaus wollen alle dasselbe: geschätzt, bestätigt und anerkannt werden für das, was sie sind und was sie der Welt geben. Deshalb war Jordan Petersons 12 Rules for Life ein solcher Bestseller. Es war ein Buch, das sich an junge Männer richtete und ihnen sagte: »Hier sind einige Möglichkeiten, wie ihr Wertschätzung erlangen könnt.« Diese Männer dürsten danach.
»Typen wie Andrew Tate versuchen, junge Männer davon zu überzeugen, dass es keinen anderen Weg zu Bewunderung und Status gibt als Reichtum sowie Dominanz über andere Männer und Frauen.«
Als Sozialistinnen, Feministen und Humanistinnen müssen wir diesen Umstand unbedingt verstehen. Unsere Politik muss darauf basieren. Wir sollten realisierbare Alternativen vorschlagen, die den Menschen ein besseres Gefühl gegenüber sich selbst verleihen.
Ich persönlich würde das Problem der rasenden, unzufriedenen Junggesellen ja lieber durch eine Umverteilung des Reichtums und den Wiederaufbau zivilgesellschaftlicher Organisationen lösen, als Frauen wieder in die finanzielle und rechtliche Abhängigkeit von Männern zu drängen...
Die Rechte ist aber sehr aktiv dabei, die zweite Option zu verwirklichen. In den USA wurde beispielsweise Roe v. Wade rückgängig gemacht. Rechte versuchen, bei Frauen Scham auszulösen, beispielsweise wenn J. D. Vance sich über »kinderlose Katzen-Ladies« lustig macht. Und sie bewerben Tradwife-Content, mit dem Frauen davon überzeugt werden sollen, aus dem Berufsleben auszusteigen. Einige Konservative sprechen sogar schon davon, Scheidungen zu erschweren, schließlich werden diese überwiegend von Frauen eingereicht. Die Rechten wollen das Problem beheben, indem sie verhindern, dass Frauen sich aus ihren Ehen lösen können.
Typen wie Andrew Tate versuchen, junge Männer davon zu überzeugen, dass es keinen anderen Weg zu Bewunderung und Status gibt als Reichtum sowie Dominanz über andere Männer und Frauen. Wer andere Ansätze verfolgt, ist halt kein echter Mann.
Wenn es für Männer andere Formen der Wertschätzung und Anerkennung gäbe, wären sie glücklicher. Unsere Gesellschaft basiert aber auf diesem Wettbewerbsgedanken, dass es uns irgendwie allen besser geht, wenn jeder für sich um die Krümel vom Tisch der Milliardäre kämpft. Das ist eine Form der gesellschaftlichen Kontrolle. Jungen Männern, die sich auf das ganze Manosphere-Zeug einlassen, muss klar werden, dass sie damit lediglich abgelenkt und ausgenutzt werden.
Kristen Ghodsee ist die Autorin der Bücher Utopien für den Alltag und Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben. Sie leitet die Fakultät für Russland- und Osteuropastudien an der University of Pennsylvania.