06. Mai 2025
Die Grünen berufen sich gerne auf das Völkerrecht – doch wenn man sie auf israelische Kriegsverbrechen in Gaza anspricht, folgen Ausweichmanöver.
Die Vermeidungsstrategie von Franziska Brantner ist bezeichnend für die Debatte in Deutschland.
»Links zu sein heißt für mich, antiimperialistisch zu sein«, sagt die neue Co-Vorsitzende der Grünen, Franziska Brantner der taz im Interview und weckt Hoffnungen auf eine grüne Politikwende, die etwas weniger auf »staatstragenden« Interessen beharren und etwas mehr universelle Prinzipien vertreten möchte. Eine stärkere parlamentarische Linke hätten wir angesichts der neuen Rückschrittskoalition und den entmenschlichten Logiken der Kollektivbestrafung schließlich bitter nötig.
Antiimperialistische Politik bedeute, »den Angegriffenen beizustehen und nicht den Aggressoren«, führt Brantner weiter aus, als es um den Schutz der Ukraine vor den imperialen Ansprüchen Putins geht und das friedenspolitische Prinzip, dass Grenzen nicht mit Gewalt verschoben und Gebiete nicht in chauvinistischer Manier besetzt werden dürfen: Sicherheit durch Regeln, Einstehen für das Völkerrecht.
»Völkerrechtsbruch ist Völkerrechtsbruch«, sagt Brantner auch bezüglich des Gaza-Kriegs, als sie auf die Grüne Jugend angesprochen wird, die die Parteiführung dafür kritisiert, die israelischen Kriegsverbrechen nicht deutlich genug anzusprechen. Bemerkenswert wird es, als sie anschließend gefragt wird, wie man nach der grünen Wahlschlappe bei den Bundestagswahlen die Leute zurückholen könnte, die wegen der Politik der Ampel bezüglich eben dieser Kriegsverbrechen in Gaza vermeintlich zur Linken gegangen sind.
Zwei Sätze, zwei Antworten, die in ihrer Knappheit so viel sagen: »Ich führe Debatten, um gute Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit zu finden«, so Brantner und fährt fort: »Würde mir jemand sagen, ich wähle euch nur, wenn ihr das Existenzrecht Israels in Frage stellt, wäre meine klare Antwort: Dann halt nicht.«
Und da ist sie wieder, diese in Deutschland weit verbreitete Eigenart bezüglich Israel und Palästina, einen zuvor als komplex beschriebenen Konflikt auf das Existenzrecht Israels herunterzubrechen, obwohl man danach nicht gefragt wurde. Gleichzeitig wird dadurch auch der Anschein erweckt, jede Position zu diesem Konflikt, die links der Grünen anzusiedeln ist, ließe sich darauf reduzieren, dass sie dieses Existenzrecht anzweifle. Nicht nur verpasst Brantner hier die Möglichkeit, eine für die hiesige politische Debatte so bitter notwendige, ehrliche Reflexion über die deutsche (und grüne) Verantwortung bei der ungebremsten und gezielten Zerstörung Gazas anzustoßen oder zu fragen, wie man gedenkt, auf die anhaltenden Aushungerung und Zwangsvertreibung seiner Bewohnerinnen und Bewohner wirksam zu reagieren. Und ganz nebenbei wird hier auch noch suggeriert, dass die Linke – parlamentarisch und außerparlamentarisch – keine anderen Argumente und Forderungen vertreten würde, als Israel von der Landkarte löschen zu wollen.
Brantners Antwort auf eine Frage, die ihr eigentlich nicht gestellt wurde, deutet auf eine entmenschlichende politische Vermeidungsstrategie hin, mit der sich deutsche Politikerinnen und Politiker aller Lager mit der rechten bis rechtsextremen israelischen Regierung, ihren weltweiten Unterstützern und großen Teilen der Medienlandschaft zu überbieten versuchen: Fragen nach Israels Kriegsverbrechen, nach der Geschichte und Gegenwart der Besatzungsherrschaft, nach der aggressiv betriebenen Siedlergewalt und vorsätzlichen Vertreibung der Menschen in Gaza und der Westbank werden mit dem Verweis auf islamistische Hamas-Ideologie mit einer Nicht-Antwort bedacht. Die dringende Reflexionen darüber, ob die deutsche Doktrin der Staatsräson mittlerweile nicht zu einem Instrument der Lächerlichmachung internationalen Rechts sowie der Untergrabung hiesiger rechtsstaatlicher Prinzipien wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit geworden ist, kann man so getrost aussitzen.
Die einzige kritische Äußerung Brantners bezüglich der israelischen Kriegsführung – sie verweist darauf, dass Annalena Baerbock die anhaltenden Waffenlieferungen an die Einhaltung des Völkerrechts geknüpft hatte – wirkt angesichts der Zehntausenden zivilen Opfer in Gaza, der gezielte Zerstörung der medizinischen und landwirtschaftlichen Infrastruktur und einer vorsätzlich verfolgten Aushungerspolitik schal und naiv. Die Grünen würden sich laut Brantner gerade den Raum für differenzierte Debatten »erarbeiten« – nur erfolgt das nun reichlich spät.
Brantner führt zur Erklärung der konsequenzlosen Wohlfühl-Kritik an Netanjahu – einem gesuchtem Kriegsverbrecher – die barbarische deutsche Geschichte an. Doch wenn aus dieser Geschichte eine Folgerung gezogen werden kann, dann, dass »Nie Wieder« ein universalistisches Bekenntnis sein muss – es muss für jüdisches wie für alles andere Leben auch gelten. Genau darauf wäre auch der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm bei einer Gedenkveranstaltung im KZ-Buchenwald zu sprechen gekommen, wäre er nicht auf Drängen der israelischen Regierung ausgeladen worden. In der von der SZ nachträglich veröffentlichten Rede sagt Boehm mit Blick auf das Massaker des 7. Oktobers und den bis heute andauernden Vertreibungsfeldzug Israels: »›Nie wieder‹ ist nur in seiner universellen Form gültig, und nur dann kann es seiner besonderen Formulierung gerecht werden.«
In der Tat könnten sich grüne Debattenräume und der deutsche Diskurs allgemein einiges von oppositionellen israelischen Stimmen abschauen. Bezüglich der Vorwürfe des Völkermords sowie der Besatzungsherrschaft und fortschreitenden Annexion palästinensischer Gebiete legen sie einen Realismus an den Tag, der einem Großteil der deutschen Leitartikel, Regierungserklärungen und Bundestagsreden der letzten zwei Jahre fremd ist.
Warum das nicht passiert und sich der deutsche Diskurs lieber weitgehend von der Realität abschottet, jüdische Stimmen selektiv ausschließt und palästinensische unterdrückt, lässt sich zum Teil mit Daniel Marweckis Bemerkungen zu den deutsch-israelischen Beziehungen erklären: »Wenn Deutsche über Israel reden, reden sie meist über sich selbst.« In der nach moralischer Rehabilitierung strebenden »Wiedergutmachungspolitik« Adenauers, die vornehmlich der Westbindung diente, und der heutigen Identifizierung des deutschen Staates mit Israel durch die Doktrin der Staatsräson sieht er einen »Ersatznationalismus«. Der führe dazu, dass sich viele in Deutschland gar nicht vorstellen könnten, dass Israel Kriegsverbrechen begehe, weil dies das deutsche Selbstbild stören würde.
Die deutsche Beteiligung an der Entmenschlichung palästinensischen Lebens mit Verweis auf eine falsch verstandene »Vergangenheitsbewältigung« liegt heute so klar auf der Hand wie nie zuvor. Doch während sich die Beweise für einen Völkermord verdichten, wurden aus der Union schon Stimmen laut, die Waffenlieferungen an Israel sogar ausweiten zu wollen und der designierte Bundeskanzler, Friedrich Merz, kündigte lapidar an, den gesuchten Kriegsverbrecher Netanjahu nach Deutschland einladen zu wollen.
Die dem zugrundeliegende Staatsräson Deutschlands kollidiert so offensichtlich mit dem Völkerrecht, dass es die Aufgabe progressiver politischer Kräfte im Parlament wäre, diese fatale Logik einseitiger Moral und Selbstgefälligkeit zu durchbrechen. Der Vorstoß von Abgeordneten der Grünen, Linken und SPD für einen Stopp der Waffenlieferungen an Israel ist ein Anfang. Alle, die es mit ihrer vermeintlichen Verpflichtung für das Völkerrecht ernst meinen, sollten sich ihnen anschließen.
Wasil Schauseil ist freier Journalist und Teil des Netzwerks migration-control.info.