29. April 2025
Deutschlands staatliche Erinnerungskultur entstand nicht aus moralischen, sondern aus geopolitischen Erwägungen. Was bis heute fehlt, ist eine ehrliche historische Aufarbeitung, die sich den Opfern des Nationalsozialismus und nicht dem deutschen Eigeninteresse verpflichtet fühlt.
Die Geschichte der deutschen Erinnerungskultur ist durchzogen von der Sehnsucht nach Rehabilitation.
2014 hatte ich meine erste Erfahrung mit einem Deutschen, der mir meine jüdische Identität absprach: Als ein Streit mit dem Ehemann einer Freundin über Netanjahus Ausbau der illegalen israelischen Siedlungen eskalierte, erklärte er mir: »Dabei bist du nicht einmal wirklich jüdisch.« Ohne Vorwarnung wurde ich in die Abgründe der hochgepriesenen deutschen Erinnerungskultur gestoßen, die mir bereits ein Begriff war. Daher war ich wenig überrascht von seiner Überidentifikation mit Israel. Aber die seltsame Selbstverständlichkeit, mit der er sich dazu berechtigt fühlte, mir Vorschriften über meine Identität zu erteilen – ganz so, als ob er selbst Jude wäre – war verstörend.
Bereits als Teenager hatte ich Bekanntschaft mit der deutschen Erinnerungskultur gemacht, als ich das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas besucht hatte. Damals erschien es mir ein eindeutiger Beweis dafür zu sein, dass Deutschland sich seiner Vergangenheit verantwortungsvoll gestellt hatte. Deutschland verkündete der ganzen Welt: Wir bekennen uns absolut und ohne Vorbehalt zu unseren Nazi-Verbrechen. Wir gedenken der ermordeten Juden Europas, als ob sie unser eigenes Volk wären – als ob es ein Denkmal für uns selbst wäre. Hatte Deutschland gehofft, seine Nazi-Vergangenheit zu überwinden, indem es selbst jüdisch wurde?
Dieses Absorbieren jüdischen Traumas in die deutsche nationale Identität – deren narzisstische, chauvinistische und gelegentlich geradezu neurotischen Elemente durch diese Erinnerungskultur genährt werden – ist seit dem Beginn des israelischen Völkermordes in Gaza das Thema zahlreicher, meist englischsprachiger Beiträge, die darin die Kulmination der schwelenden historischen Widersprüche Deutschlands erblicken. Beinahe täglich wird die Pervertierung der historischen Lehren des Holocaust zum Spektakel gemacht: Berichte über nichtjüdische Bürokraten, die Juden zurechtweisen und canceln, weil sie ihre Meinung zu jüdischen Themen geäußert haben; die Zensur, Festlegung und Hierarchisierung der jüdischen Identität durch die deutsche Regierung im Rahmen von Kampagnen zum vermeintlichen »Schutz jüdischen Lebens«; jüdische Wissenschaftler, die Repressionen ausgesetzt sind, weil sie für das Verbrechen in Gaza historische Vergleiche anstellen; die allgemeine Abschaffung der einst großzügigen staatlichen Kunstförderung, um Kritiker Israels zum Schweigen zu bringen – die Liste ist schier endlos.
Linke im Ausland sind über die ungeheuerlichen moralischen Versäumnisse Deutschlands häufig überrascht. Deutschland scheint das diametrale Gegenteil von dem zu tun, was die Lehren aus der Geschichte vorschreiben. Das ist deswegen für viele eine Überraschung, weil die deutsche Erinnerungskultur international als einer der größten Erfolge der politischen Massenbildung des 20. Jahrhunderts gilt. Nie war es für Außenstehende offensichtlicher als jetzt, dass bei der Aufarbeitung der deutschen NS-Vergangenheit einiges schief gelaufen ist. Aber was genau?
»Bis in die 1980er hinein war es der westdeutschen Regierung noch immer möglich, das palästinensische Selbstbestimmungsrecht zu unterstützen und diese Unterstützung als historische Lehre aus der nationalsozialistischen Gewalt zu begreifen.«
Der gegenwärtige deutsche Holocaustdiskurs erweckt den Eindruck, dass er sich vor allem Israel – nicht den Opfern des Nationalsozialismus – verpflichtet fühlt. Ein Beispiel dafür ist die kaum verfassungskonforme Antisemitismus-Resolution, die jede Form von Israelkritik als antisemitisch zensiert und bereits vor Gericht zitiert wird. Aber die Tendenz, die historische Verantwortung Deutschlands als eine spezifische Verantwortung gegenüber Israel auszulegen, ist eine jüngere Entwicklung. Es war nicht immer so.
Bis in die 1980er hinein war es der westdeutschen Regierung noch immer möglich, das palästinensische Selbstbestimmungsrecht zu unterstützen und diese Unterstützung erstaunlicherweise als historische Lehre aus der nationalsozialistischen Gewalt zu begreifen und darzustellen. So tat es beispielsweise Bundeskanzler Helmut Schmidt im Jahr 1978 in einer Rede im Gedenken an die Reichspogromnacht. 1981 konnte der Spiegel-Gründer und Herausgeber Rudolf Augstein Israel noch dafür kritisieren, dass es Deutschland erpresst hatte, eine rassistische, illegale und destruktive militärische Offensive gegen die arabische Bevölkerung zu führen: »Es mag ja sein, daß die Israelis ihr Verhalten [Verstöße gegen die Menschenrechtskonvention, Folter, rassistische Verbrechen] rechtfertigen und entschuldigen können. Aber doch gewiss nicht mit dem Hinweis auf die Vergangenheit. Denn die Araber haben an dieser Vergangenheit nicht teil. Wie die Juden Opfer der deutschen Nazis waren, so sind die Araber nunmehr Opfer der Israelis [...] Würde Israel alle militärische und finanzielle Unterstützung erhalten, die es begehrt, so wäre sein Untergang beschlossene Sache«, so Augstein. Diese Worte haben Augsteins Karriere damals nicht geschadet.
Im gegenwärtigen medialen Klima ist nicht nur unvorstellbar, dass solche Aussagen in einer der größten Zeitungen des Landes abgedruckt werden würden, es ist außerdem auch unvorstellbar, universell gültige moralische Lehren aus den Verbrechen der Nazis zu ziehen – Lehren, die Israel ebenso wie alle anderen Staaten zu befolgen hätte. Diese Haltung steht der identitären Auslegung der Lehren des Holocaust, die in Deutschland heute weitverbreitet ist, diametral gegenüber.
Die seismischen Veränderungen, die dieser Wende zugrunde liegen, erfordern eine klare Unterscheidung zwischen der sogenannten Vergangenheitsaufarbeitung und Vergangenheitsbewältigung, die zwischen den späten 1940er bis zu den späten 70er Jahren vorherrschte, und der staatlich gelenkten Erinnerungskultur, die sich in den 1980er Jahren herausbildete.
Anders als in Ostdeutschland gab es in Westdeutschland bis in die frühen 1980er Jahre keinen gesamtgesellschaftlichen Diskurs über die NS-Vergangenheit. In dem Jahrzehnt nach der Kapitulation der Nazis hatte die US-Besatzung in der immer noch zutiefst antisemitischen Nachkriegsbevölkerung keine nennenswerte antirassistische Kultur etabliert. Und da die Kernaufgabe der USA weniger in einer ernsthaften Entnazifizierung als vielmehr in der Errichtung eines verlässlichen liberal-demokratischen Partners im Kalten Krieg bestand, wurden die wenigen antifaschistischen Gruppen, die sich nach dem Krieg auf amerikanischem und britischem Territorium bildeten, wegen ihrer antikapitalistischen Ausrichtung verboten.
Zwar gab es in der Zivilgesellschaft mehrere Initiativen zur Erinnerung an den Holocaust, doch bis zur Studentenbewegung der späten 1960er Jahre gab es nur wenige Bezugspunkte von breiter gesellschaftlicher Bedeutung. Frühere Initiativen, die sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit beschäftigten, verstanden den Holocaust vor allem als interreligiöses Thema. Die evangelische Kirche gründete 1958 etwa die Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste – ein Freiwilligendienst zur Begleitung und Betreuung von Überlebenden des Holocaust. Adenauers Wiedergutmachungszahlungen an Israel im Jahr 1952 sowie die nachfolgenden Entschädigungs- und Restitutionsgesetze wurden zum Teil durch das Engagement des Zentralrats der Juden – der wichtigsten Vertretung der überlebenden Juden –, und der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit geprägt, einer Bildungsinitiative, die antisemitische Tendenzen in Religionsschulen und der Theologie zu bekämpfen versuchte.
Das ansonsten programmatische Schweigen der Adenauer-Ära wurde zwar durchbrochen, doch die Vernichtung der Juden wurde eher als eine Begleiterscheinung exzessiver Kriegsgewalt und nicht als zentrales Ziel des politischen Projekts der Nazis betrachtet. Die kollektive Verantwortung wurde geleugnet, indem Hitler und die SS-Elite für die Verbrechen der Nazis verantwortlich gemacht wurden. Man ging von der Unschuld der Massen und der Schuld der Elite aus, weshalb die hoch antizipierten Auschwitzprozesse die historische Aufarbeitung nicht beförderten – die Bevölkerung akzeptierte die mediale Darstellung der Täter als sadistische Außenseiter zu willig.
Dieser Reflex, die Schuld nach außen zu verlagern, setzte sich auch nach der Wiedervereinigung fort. Als etwa die Wehrmachtsausstellung von 1995 die Mitschuld der Wehrmacht – deren vermeintliche Unschuld viele Gewissen beruhigt hatte – an den Nazi-Verbrechen aufzeigte, löste dies emotionale Erschütterung aus. Auch der westdeutsche Eifer, auf das vermeintliche relative Versagen Ostdeutschlands bei der Aufarbeitung seiner Nazi-Vergangenheit hinzuweisen, ist eine Folge dieses Reflexes. Obwohl der Holocaust seit den 1960er Jahren Eingang in die Schulbücher gefunden hatte, wurden Erklärungen für die Gewalt der Nazis ausgelassen oder als Exzesse von einzelnen pathologischen Figuren dargestellt. Erst in den 1980er Jahren begannen die Schulbücher, sich mit kulturellem Antisemitismus, jüdischem Leid und gesellschaftlicher Schuld zu befassen.
»Der einzig gangbare Weg, um Deutschlands Position in der Weltordnung wiederherzustellen, schien darin zu bestehen, sich nachdrücklich zu seiner Nazi-Vergangenheit zu bekennen – indem man proklamativ ›niemals vergisst‹, wollte man endlich vergessen.«
Als westlich-marxistische und psychoanalytische Theorien über den Faschismus die Universität zu durchdringen begannen, entstand mit der radikalen kulturellen und politischen Kritik der Generation der 68er ein breiterer kultureller Diskurs. Die intergenerationelle Konfrontation der Studentenbewegung und ihre Auseinandersetzung mit nicht-hierarchischen, solidarischen und alternativen Formen gesellschaftlicher Organisation trugen zur Demokratisierung der deutschen Gesellschaft insgesamt bei und legten den Grundstein für eine Welle des Aktivismus in den 1970er Jahren.
Ein Ereignis von breiterer, gesamtgesellschaftlicher Auswirkung war die Ausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust im Jahr 1979. Was als Unterhaltung daher kam, verleitete rund 15 Millionen deutsche Zuschauerinnen und Zuschauer dazu, sich durch die fiktive Familie Weiss mit der jüdischen Erfahrung der Naziverfolgung zu identifizieren.
Weder der Studentenbewegung noch der Fernsehserie Holocaust war es jedoch gelungen, eine gesamtgesellschaftliche Debatte anzustoßen. Aber beides weckte ein Bedürfnis nach historischer Aufarbeitung, was in die 1980ern zu einem regelrechten medialen Boom führte. Viel wichtiger war jedoch, dass die Gesellschaft für die Kehrtwende in der Israel- und Holocaustpolitik, die Anfang der 1980er Jahre vollzogen wurde, empfänglicher wurde.
In den 1980ern fielen aktivistische Strömungen, die sich für eine neue Erinnerungskultur einsetzten, erstmals auf fruchtbaren Boden. Es wurden mehr Holocaustmahnmale errichtet als in den vorausgehenden drei Jahrzehnten zusammen. Lange Kämpfe um die Errichtung vieler Denkmäler wurden endlich gewonnen und die ersten Pläne für staatliche Museen entworfen. Die Anzahl von Museen und Ausstellungen stieg in den Jahren zwischen 1982 und 1990 um etwa ein Drittel.
Aber mit dem zunehmenden Erfolg dieser aus dem Aktivismus hervorgegangenen Erinnerungskultur verlor sie auch zunehmend ihren kritischen Impetus und wurde vom Staat, der die überwältigende Anzahl der Denkmalprojekte umsetzte und finanzierte, vereinnahmt und neutralisiert.
Bis in die 1980er Jahre verfolgte die BRD eine primär finanzielle Strategie zur Aufarbeitung ihres Nazi-Erbes – in Form von Entschädigungszahlungen an Israel und einzelne Überlebende. Dies änderte sich jedoch Anfang der 1980er Jahre dramatisch, als vergebliche Versuche, den israelischen Staat zu normalisieren, und in den USA immer mehr ehrgeizige Bildungsinitiativen über den Holocaust Bonn alarmierten. Der einzig gangbare Weg, um Deutschlands Position in der Weltordnung wiederherzustellen, schien darin zu bestehen, sich nachdrücklich zu seiner Nazi-Vergangenheit zu bekennen – indem man proklamativ »niemals vergisst«, wollte man endlich vergessen.
Zwischen Schmidt und Kohl vollzog sich in der Israelpolitik der Bundesrepublik eine Kehrtwende: Bundeskanzler Schmidt sprach sich 1981 noch für eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel aus – also dafür, Israel wie jeden anderen Staat zu behandeln –, nur um ein Jahr später öffentlich von der »historischen Verantwortung« Deutschlands gegenüber Israel zu sprechen. Ein wichtiger Auslöser für diesen neuen Kurs war ein geplanter Waffen-Deal mit Saudi-Arabien, das sich Anfang der 1980er Jahre im Krieg mit Israel befand, und der auf heftige Kritik stieß. Als sich die Spannungen zwischen Schmidt und dem israelischen Premierminister Begin im Vorfeld der Übergabe verschärften, wurde der Regierung Schmidt bewusst, wie brüchig ihre Beziehungen nicht nur zu Israel, sondern auch zur jüdischen Diaspora in den USA und zur amerikanischen Öffentlichkeit im Allgemeinen waren.
»Angela Merkels berühmte Rede, in der sie Israels nationale Sicherheit als deutsche Staatsraison bezeichnete, zeigt, wie sich die strategische Sprache der ›Interessen‹ zu einem absolutistischen Glaubensbekenntnis gewandelt hat.«
Vor dem Hintergrund des NATO-Doppelbeschlusses von 1979, der die BRD zur Frontlinie des sich aufheizenden Kalten Krieges verwandelt hatte, war der Image-Schaden, den Deutschland in den USA erlitten hatte, zunehmend Anlass zur Sorge. Seit man in Bonn Ende der 1970er Jahre von den Plänen für ein ambitioniertes Holocaust-Gedenkmuseum in Washington erfuhr, wusste man um die US-amerikanische Wahrnehmung des westdeutschen Verhältnisses zu Nazideutschland. Das Museum, das von Jimmy Carters neu gegründeten Holocaust-Kommission konzipiert werden sollte, sollte im Herzen der Hauptstadt errichtet werden. Als das neu geplante U.S. Holocaust Museum in Washington zu einem zentralen Anliegen der Regierungen Schmidt und später der Regierung Kohl wurde, entstand in den 1980er Jahren eine Flut von Komitees und Initiativen zur Erinnerung an den Holocaust. Deutsche Diplomaten verfolgten die Entwicklung des »antideutschen Museums« in Washington, wie es der damalige Botschafter Peter Hermes nannte, über mehrere Jahrzehnte hinweg bis zu seiner Eröffnung im Jahr 1993 äußerst aufmerksam. In der Zwischenzeit wurde die Erinnerungskultur, wie wir sie kennen, installiert.
Archivdokumente zeigen, wie sehr antisemitische Stereotype im Denken führender westdeutscher Politiker verankert blieben. In einem einflussreichen Bericht von 1981 mit dem Titel »Bericht über die amerikanisch-jüdische Gemeinschaft«, mahnt der CDU-Politiker und vermeintlich geläuterte ehemalige Nazi Peter Petersen: »Der jüdische Einfluß auf die Massenmedien ist nicht zu überschätzen«.
Der Rüstungsexport nach Saudi-Arabien wurde im Januar 1982 abgeblasen. Obwohl die Annullierung des Deals nicht mit einer öffentlichen Erklärung zu Israel verknüpft war, hatten kritische israelische und amerikanische Beobachter verstanden, woher der Wind wehte. Die Recherchen des Historikers Hubert Leber zeigen, dass die BRD einige Monate später erstmals eine »Israel-Klausel« beschloss, die besagte, dass die »Gesamtinteressen Deutschlands« es erforderten, »der historischen Verantwortung der Deutschen gegenüber dem jüdischen Volk Rechnung zu tragen«. Als 1984 erneut ein Streit wegen geplanter Waffenverkäufe nach Saudi Arabien entbrannte, setzte sich unter der Regierung Kohl wieder die neue Treue zu Israel durch.
Die Israel-Klausel erklärt nicht nur Schmidts Kehrtwende in Bezug auf Israel, sondern leitete auch eine epochale Neuausrichtung der Nachkriegsnormalisierung in Deutschland ein. Normalisierung – im Sinne einer Wiederherstellung der wirtschaftlichen, militärischen und politischen Beschränkungen, denen Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ausgesetzt war – wurde in der Folge als nur durch eine öffentliche Haltung erreichbar verstanden, die deutsche und israelische nationale Interessen enthusiastisch zusammenführte. Angela Merkels berühmte Rede vor der Knesset im Jahr 2008, in der sie Israels nationale Sicherheit als deutsche Staatsraison bezeichnete, zeigt, wie sich diese Haltung in den dazwischen liegenden Jahren von der strategischen Sprache der »Interessen« zu einem absolutistischen Glaubensbekenntnis gewandelt hat.
In der Erwartung, dass das Holocaust-Museum in Washington 1984 eröffnet werden könnte, und inmitten zunehmender Proteste gegen die NATO bemühte sich die Kohl-Regierung um ein positives Image, schmiedete Allianzen mit wichtigen jüdischen Persönlichkeiten und startete eine Reihe von Initiativen: Dazu gehörten die ersten Partnerschaften mit amerikanisch-jüdischen Organisationen wie dem American Jewish Committee und dem Armonk Institute, die Einrichtung von Exzellenzzentren für Germanistik an renommierten amerikanischen Universitäten und die Gründung des United States-German Committee on Learning and Remembrance. Die bislang die lautstarke westdeutsche Unterstützung für das palästinensische Selbstbestimmungsrecht verstummte in derselben Zeit.
In den 1980er Jahren gab es weitere bahnbrechende Veränderungen im öffentlichen Diskurs über den Holocaust – etwa die Rede von Bundespräsident Weizäcker, in der er den 8. Mai, der vormals noch »Kapitulationstag« genannt wurde, zum »Tag der Befreiung« erklärte – oder auch das PR-Desaster von Bitburg, als Kohl und Reagan den 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs auf einem Friedhof begingen, auf dem neben deutschen Soldaten auch Angehörige der Waffen-SS lagen, was unter Jüdinnen und Juden in aller Welt für Empörung sorgte.
»Das Hauptproblem für die Kohl-Regierung war nicht die grassierende rechtsextreme Gewalt, sondern die ausländische Berichterstattung darüber.«
Als nach der Wiedervereinigung in den 1990ern eine Welle rassistisch motivierter, rechtsextremer Gewalt das Land erfasste und nicht nur bei jüdischen Journalistinnen und Journalisten, sondern auch bei Präsident Bush Senior Besorgnis hervorrief, der sich fragte, wie weit das wiedervereinigte Deutschland angesichts seines anhaltenden Versagens beim Minderheitenschutz wirklich gekommen war, war die Regierung entschlossen, sich als Nation zu inszenieren, die aus ihrer Geschichte gelernt hat.
Aus internen Dokumenten geht hervor, dass CDU-Diplomaten in panischen Briefen davor warnten, dass alle Bemühungen, das auf Auschwitz reduzierte Deutschlandbild zu reparieren, hinfällig sein würden, wenn es der Bundesregierung »nicht gelingt, des Phänomens Herr zu werden« – so formulierte es etwa der deutsche Botschafter in Washington Immo Stabreit, als er dem Sicherheitsberater Peter Hartmann in 1992 schrieb. Dokumente aus den Unterlagen der Kohl-Regierung bezeugen eine Fixierung auf Außenwahrnehmung und Selbstinszenierung: Das Hauptproblem für die Kohl-Regierung war nicht die grassierende rechtsextreme Gewalt, sondern die ausländische Berichterstattung darüber.
Neben der unterkühlten Ignoranz gegenüber der legitimen, wenn auch manchmal bissigen Berichterstattung jüdischer Journalisten über die rechte Gewalt in Deutschland zeigt sich in den Briefen aus Kohls Kanzleramt auch eine Empörung über die vermeintlich ungerechte Behandlung Deutschlands durch Juden, die einfach keinen Schlussstrich unter die deutsche Geschichte ziehen wollen. Die rechte Gewalt selbst wird als eine Art unabwendbare Naturgewalt behandelt, für die die Kohlschen Politik keinerlei Verantwortung trage – Gewalt gebe es schließlich in anderen Ländern auch!
»Es geht nicht nur darum zu verstehen, dass die Hinwendung zu einer staatlich verordneten, israelzentrierten Erinnerungskultur eher geopolitischer als moralischer Natur gewesen ist. Die Briefe zwischen Bonner Beamten zeigen auch, dass dieser Wandel von einer antisemitischen Rhetorik angeleitet wurde.«
Unaufrichtige Inszenierungen der Solidarität mit Jüdinnen und Juden halfen ebenfalls nicht, das Bild Deutschlands in der ausländischen Presse zu verbessern: Als etwa der damalige Außenminister Klaus Kinkel 1992 nach einem Brandanschlag auf die Gedenkstätte des KZ Sachsenhausen einen Kranz niederlegte, erläuterte er seinen Besuch vor der Presse mit folgenden Worte: »Es geht vor allem darum, wie das alles im Ausland aussieht, und deshalb bin ich als Außenminister hier«
Es geht nicht nur darum zu verstehen, dass die Hinwendung zu einer staatlich verordneten, israelzentrierten Erinnerungskultur eher geopolitischer als moralischer Natur gewesen ist. Vielmehr zeigen die Briefe zwischen Bonner Beamten auch, dass der Wandel hin zu einer zunehmend öffentlichen Inszenierung der historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel von einer antisemitischen Rhetorik angeleitet wurde. Während der gesamten Nachkriegszeit zeigte die westdeutsche Regierung, dass die finanzielle und diplomatische Unterstützung Israels mit Antisemitismus und der Förderung der politischen Karriere ehemaliger Nazis Hand in Hand gehen konnte. Bundeskanzler Adenauer ließ sich bei seinen Zahlungen an Israel in den 1950er Jahren ausdrücklich von antisemitischem Verschwörungsdenken leiten, und sein Kabinett war voll von Nazis, insbesondere die Justiz und die Geheimdienste war durchsetzt von ihnen.
Durch Petersen wurde diese »Holocaust Angst«, wie es der Historiker Jacob Eder nennt, zum Leitmotiv der deutsch-jüdischen Diplomatie, mindestens bis zum Anfang der 1990er Jahre. Seit Anfang der 1990 Jahre wird die Informationslage prekärer, nicht zuletzt durch die dreißigjährige Geheimhaltungsklausel. Diese Angst trieb nicht nur die Entwicklung des Museums in Washington an, sondern wurde auch sonst zum Ausdruck deutsch-jüdischer Freundschaft. Als etwa 1986 der Friedensnobelpreises an den Holocaust-Überlebenden Elie Wiesel verliehen werden sollte, versuchte Petersen andere CDU-Mitglieder davon zu überzeugen, Wiesels Kandidatur zu unterstützen, um auf diese Wege die Allianz des Westens zu stärken – das sei notwendig, schließlich könnte diese Allianz durch »die einflußreichen Juden in Amerika« und ihrer Berichterstattung über das Debakel in Bitburg »vergiftet« werden.
Wie Adenauer, der warnte, man dürfe »auch heute, besonders in den Vereinigten Staaten, die Macht der Juden nicht unterschätzen«, zeigen Politiker der Kohl-Ära wie Petersen, wie die Umarmung des Zionismus und die Erinnerungskultur zu einer Strategie wurde, durch die man versuchte, Deutschlands andauerndes »Problem« mit den Juden, das die Rehabilitierung Deutschlands in der Nachkriegszeit bedrohte, zu bewältigen. Die ewig »bösen« und »allmächtigen« Juden, die einst als Feinde betrachtet wurden, mussten nun zu Bündnispartnern werden.
Die staatlich geförderte Erinnerungskultur von heute entstand nicht aus dem uneigennützigen Bestreben, den Opfern des Holocaust zu gedenken und das Leben jüdischer Menschen zu schützen. Sie entstand aus geopolitischen Erwägungen inmitten des Kalten Krieges, aus dem Bedürfnis heraus, auf der Weltbühne trotz der eskalierenden rechten Gewalt ein »judenfreundliches« Image zu kultivieren und war begleitet von antisemitischen Wahnvorstellungen einer mächtigen jüdischen Presse. Kurz gesagt, es ging darum, Deutschland von der wirtschaftlichen und militärischen Mäßigung der Nachkriegszeit zu befreien.
Diese Strategie ist aufgegangen. Diese selbstzentrierte Erinnerungskultur, die das nationale Interesse Deutschlands in die Israel-Klausel einschrieb und die durch die Staatsraison besiegelt wurde, muss überwunden werden – und sie muss vor allen Dingen losgelöst werden von aufrichtiger Trauer, von Trauma und Scham, die so viele Deutsche noch immer empfinden.
Die Illusion der Rechtschaffenheit der deutschen Erinnerungskultur hat sich sehr lange gehalten. Das ist kaum verwunderlich – sie wurde akribisch darauf ausgelegt, möglichst viel öffentlichen Beifall zu erhalten, während eine ehrliche historische Aufarbeitung auf der Strecke blieb. Und so hat die Erinnerungskultur ihre eigentliche Aufgabe nicht erfüllt: nämlich allen Opfern des durch die Nazis begangenen Völkermordes zu gedenken; genau zu verstehen, was eine ganze Bevölkerung dazu verleitet, eine Menschengruppe zu marginalisieren und schließlich zu vernichten; und eine politische Kultur zu schaffen, die dafür sorgt, das so etwas niemals wieder möglich wird. Aber so ist es nicht gekommen – heute werden Überlebende eines anderen Völkermords an deutschen Grenzen abgewiesen, wenn sie ihren Henkern nicht die Treue schwören, und Jüdinnen und Juden, werden von Nazi-Nachfahren im Namen eines hochbürokratisierten »Schutzes jüdischen Lebens« verhaftet.
»Deutschland definiert Jüdinnen und Juden allein durch den Blickwinkel der deutschen historischen Erfahrung und benutzt sie für die eigene Aufarbeitung. Aber nicht nur das – Deutschland legitimiert damit auch die Fortsetzung von genozidaler Gewalt.«
Viele Deutsche sind heute bereit, das alles zu akzeptieren. Die offizielle Politik der Bundesrepublik seit den 1980er Jahren und des wiedervereinten Deutschlands geben uns einen Hinweis darauf, wie es dazu kommen konnte: Wenn das historische Erbe rassistischer Ideologie in Deutschland auf den Antisemitismus reduziert werden kann und man Juden als Gruppe mit dem Staat Israel gleichsetzt, dann können alle unbequemen, offenen Fragen, die das historische Verbrechen des Holocaust hinterlassen hat, ein für alle mal geklärt werden, in dem man einfach bedingungslose Loyalität zum israelischen Staat schwört.
Die meisten Deutschen kennen keine Juden und begegnen ihnen in ihrem alltäglichen Leben so gut wie nie – auch deswegen kann der ideologische Äther der staatlichen Erinnerungskultur ungestört die Art von Überidentifikationen auslösen, die es beschämten Deutschen erlaubt, sich gedankenlos dazu berechtigt zu fühlen, für und als Juden zu sprechen. Es ist nicht zuletzt auch die verschleiernde Kraft der Staatsraison, die Deutsche und Israelis gleichermaßen – ob sie es wollen oder nicht – unter den schützenden Schirm der deutschen Nation stellt und alle anderen Menschen mit Nichtbeachtung straft.
Besonders verhängnisvoll ist, dass Deutschlands Strategie, feinsäuberliche, identitäre Kategorien zu bilden, um damit komplexe historische Dynamiken zu begreifen, nicht mit der kruden Logik der faschistischen Ideologie bricht. Stattdessen wird das rassistische, identitäre Denken, das die Verfolgung der Juden ermöglichte, auf pervertierte Art und Weise fortgesetzt und mündet in der Forderung nach der bedingungslosen Verteidigung Israels. Deutschland definiert Jüdinnen und Juden allein durch den Blickwinkel der deutschen historischen Erfahrung und benutzt sie für die eigene Aufarbeitung. Aber nicht nur das – Deutschland legitimiert damit auch die Fortsetzung von genozidaler Gewalt.
Die Tatsache, dass es der Erinnerungskultur gelungen ist, die angebliche Sorge um das jüdische Leben in den Dienst einer migrationsfeindlichen Agenda zu stellen, vollendet die Logik der deutschen Rehabilitation, die Anfang der 1980er eingeleitet wurde. Die Akzeptanz kultureller und religiöser Differenz, deren Beseitigung im Zentrum des nationalsozialistischen Projekts stand, hat sich nicht eingestellt. Heute neutralisiert Deutschland durch die Staatsraison die Andersartigkeit, die Juden einst zugeschrieben wurde, und nimmt sie vollständig in seinen eigenen Staatskörper auf – vorausgesetzt sie sind Israelis. Das Ergebnis ist ein Ansatz zur historischen Versöhnung, bei dem jedes Grauen, das einst an Jüdinnen und Juden verübt wurde, als faktische politische Möglichkeit zum Schutz des israelischen und deutschen Lebens bewahrt wird.
Beunruhigend daran ist vor allem, in welchem Ausmaß sich die deutsche Öffentlichkeit – einschließlich Teile der gesellschaftlichen Linken – mit dieser Erinnerungskultur identifiziert hat, und zwar bis zu dem Punkt, an dem ein aufrichtig moralischer und kritischer Diskurs zunehmend unmöglich wird. Unter diesen ideologischen Bedingungen führt die reale Heterogenität innerhalb der Kategorie »jüdisch« zu einer kognitiven Dissonanz, weil sie einen Pluralismus wiederbelebt, den die Eindämmungsstrategie der »historischen Verantwortung« von Anfang an verleugnet hat: weil sie ausschließlich Juden gedenkt – und nicht etwa Juden, Queers, Roma und Sinti, Behinderten und Kommunisten.
Es sollte daher nicht überraschen, dass es gerade denjenigen Deutschen, die am meisten in die Erinnerungskultur investiert haben, leichter fällt, die Realität so zu verbiegen, dass sie ihrer Fantasie entspricht, als zuzulassen, dass die Komplexität und Ambivalenz der realen Welt ihre Überzeugen in Zweifel ziehen könnte. Die zutiefst politischen und strategischen Motive, die – oft antisemitische – deutsche Politiker dazu brachten, die Treue zum Staat Israel als einzig legitimen Modus der historischen Versöhnung zu sakralisieren, stehen auf der einen Seite. Auf der anderen steht die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass die von oben eingeleitete ideologische Wende in der Erinnerungskultur so bereitwillig und widerstandslos von der deutschen Gesellschaft absorbiert wurde.
Das tiefe Entsetzen, die Schuld und die Verwirrung, die viele Deutsche – die oft von Kindheit an mit Bildern von Vernichtungs- und Konzentrationslagern vertraut sind – in sich tragen, wurden vom Staat für die Ziele des israelischen Ultranationalismus nutzbar gemacht. Ohne die Möglichkeiten, geschweige denn die notwendige Rede- und Pressefreiheit, um sich mit dieser Realität auseinanderzusetzen, stehen viele der Kraft ihrer Affekte hilflos gegenüber. Und wenn sie Rechte sind, sind sie noch häufiger verbittert oder wütend darüber, dass sie – die vermeintlich Unschuldigen – überhaupt derlei Emotionen ertragen müssen. Aber diese unverarbeitete Schuld und die Ignoranz ihr gegenüber kann auch der Motor für eine historische Aufarbeitung sein, die die NS-Geschichte entmystifiziert und auf Basis der Lehren dieser Geschichte eine neue, moralische Orientierung entwickelt.
Noch 2016 waren 70 Prozent der Deutschen der Meinung, dass »Israel seine Interessen ohne Rücksicht auf andere Nationen verfolgt«. Eine Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen vom März 2024, die für das ZDF-Politbarometer geführt wurde, ergab, dass 69 Prozent der Bevölkerung den militärischen Angriff Israels auf den Gaza-Streifen wegen der hohen Anzahl ziviler Opfer für ungerechtfertigt halten, während 87 Prozent sagte, dass der Westen mehr Druck auf Israel ausüben sollte, damit die Nahrungsmittel- und Medizinversorgung nicht blockiert wird.
All diejenigen, die angesichts des gegenwärtigen Völkermords, für den Deutschland weiter Waffen liefert, und des stetigen Rechtsrucks Deutschlands das Gefühl haben, dass in dem Gedenken an den Holocaust etwas furchtbar schief gelaufen ist und dass dies nicht ihrer Vorstellung von »historischer Verantwortung« entspricht, sollten sich die Geschichte der deutschen Erinnerungskultur vergegenwärtigen. Diese von Ignoranz und politischem Eigeninteresse durchzogene staatliche Erinnerungskultur muss nicht Eure sein. Es geht auch anders.
Die politische Elite Westdeutschlands entwarf ein Selbstbild, das ihren eigenen antisemitischen Ängsten vor von Juden gesteuerten, antideutschen Hetzkampagnen entgegenwirkte – die vermeintlich nur darauf abzielten, die wirtschaftlichen und militärischen Ambitionen Deutschlands kleinzuhalten. Dieses Deutschlandbild wurde noch jahrzehntelang keiner moralischen Überprüfung durch die Öffentlichkeit unterzogen. Solange es noch palästinensisches Leben in Gaza gibt, ist es Zeit, genau das zu tun.
Dr. Samantha Carmel ist eine US-amerikanische Autorin und lebt in Berlin. Ihre Forschung befasst sich mit der radikalen politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Geistesgeschichte der Weimarer Republik.