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Das Online-Magazin von JACOBIN Deutschland

30. Mai 2025

Panzer füllen keine Brotdosen

Berlin rüstet auf, Washington gibt die Richtung vor – aber wer zahlt die Zeche? Ein Gastbeitrag von PTB-Generalsekretär Peter Mertens.

Peter Mertens, Generalsekretär der belgischen Partei der Arbeit.

Peter Mertens, Generalsekretär der belgischen Partei der Arbeit.

PVDA/PTB / Stefaan Van Parys

»Die Wiederbewaffnung Europas soll die NATO nicht ersetzen, sondern sie stärken und diversifizieren. Dies wird es den USA ermöglichen, sich auf den Pazifik und Ostasien zu konzentrieren, während Europa sich auf die Verteidigung der Ostflanke der NATO fokussiert«, so der belgische Verteidigungsminister Theo Francken. Francken ist auch stellvertretender Vorsitzender der Parlamentarischen Versammlung der NATO. Seine Worte zeigen auf, was derzeit in NATO-Kreisen gedacht wird.

Nach Ansicht Washingtons sind die USA aktuell im indopazifischen Raum am Rande ihrer Kapazitäten. In der Region will man China militärisch eindämmen und umzingeln. Die Vereinigten Staaten haben bereits Stützpunkte in Japan, Südkorea und auf den Philippinen, patrouillieren im Südchinesischen Meer, haben Partnerschaften wie AUKUS (mit Australien) und QUAD (mit Indien) und richten ihr Augenmerk konsequent auf Taiwan. Diese Militärinitiativen erfordern enorme Ressourcen in Form von Geld, Personal und Logistik.

Während China weiter wächst, verstrickt sich Washington in mehrere Krisen, sei es in der Ukraine, im Nahen Osten oder im Indopazifik. Gleichzeitig nehmen die innenpolitischen Spannungen in den Vereinigten Staaten zu. Der militärisch-industrielle Komplex hat Mühe, Schritt zu halten: Die Munitionsvorräte schwinden, der Schiffbau hinkt hinterher, es wird immer schwieriger, die Einsatzbereitschaft an allen Fronten aufrechtzuerhalten. Das einst unangreifbare amerikanische Imperium stößt offenbar an die Grenzen seiner Reichweite.

Und so heißt es aus Washington im übertragenen Sinne: »Klar, wenn die Europäer wollen, dürften sie auch mal eine Fregatte nach Südostasien schicken, aber das ist nicht ihre Kernaufgabe. Der Militarisierung Russlands zu begegnen, das ist Europas Aufgabe; die USA hingegen müssen sich auf China konzentrieren.«

Die Folge ist, dass Europa seine Sozialsysteme abbaut, öffentliche Dienstleistungen privatisiert und Renten kürzt, um die wahnwitzigen neuen Forderungen der NATO zu erfüllen. Und das alles, damit sich die USA voll und ganz auf ihren Hauptgegner China konzentrieren können.

Europas misslungene Strategie

Wie ich in meinem Buch Meuterei dargelegt habe, hatte der Krieg in der Ukraine schon immer einen »Januskopf« mit zwei Seiten: Auf der einen Seite steht die Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine durch Russland, ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Auf der anderen Seite handelt es sich um einen Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland, der auf dem Rücken der Ukrainerinnen und Ukrainer ausgetragen wird. Zehntausende junge Menschen werden als Kanonenfutter für einen geopolitischen Konflikt geopfert.

In Washington wird inzwischen offen zugegeben, dass es sich um einen Stellvertreterkrieg handelt, der von den USA geschürt und gelenkt wird. Trump behauptet nun jedoch, es sei der falsche Stellvertreterkrieg, den man dort führe. Demnach sei Russland nicht der eigentliche große Widersacher; man müsse vielmehr alle Anstrengungen auf den bevorstehenden Krieg gegen China ausrichten.

»Die meisten Menschen, die im 20. Jahrhundert aufgewachsen sind, haben gelernt, dass die Kombination aus Deutschland, Chauvinismus und Militarismus nichts Gutes bedeutet.«

Mit einem raffgierigen »Friedensabkommen« will Trump erreichen, dass Europa die Kosten des Krieges in der Ukraine trägt, während die USA sich die Kontrolle über die Mineral- und Rohstoffvorkommen des Landes sichern. In Trumps Augen sollte die Ukraine wie eine Kolonie ausgebeutet werden, ganz so wie die USA in ihrer Geschichte bereits viele Länder des Globalen Südens behandelt hatten. Das offenbart den wahren Charakter des Krieges: Es geht nicht um Normen oder Werte, sondern um geostrategische Interessen sowie um die Kontrolle über Ressourcen und fruchtbares Land.

Das Versäumnis Europas, in den vergangenen drei Jahren ernsthafte diplomatische Initiativen für einen Waffenstillstand zu ergreifen, rächt sich nun. Zur Erinnerung: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte betont, Putin müsse »diesen Krieg verlieren«. Die ehemalige estnische Ministerpräsidentin und jetzige EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas erklärte ihrerseits, Frieden sei »kein Ziel« und beharrte darauf, »dass die Lösung militärisch sein muss«. Von Anfang an wurde seitens der EU jeder Ansatz abgelehnt, der nicht auf eine weitere Eskalation des Krieges hinauslief. Im europäischen Diskurs wurden die Wörter »Frieden« und »Verhandlungen« regelrecht zum Tabu.

Zu keinem Zeitpunkt haben die europäischen Staats- und Regierungschefs durch Diplomatie oder Vermittlung staatsmännisches Geschick bewiesen. Stattdessen wurden Initiativen wie die der Türkei seitens Londons und Paris’ unterminiert. »Wir hatten drei Jahre Zeit, um uns für den Frieden einzusetzen, und kein einziger europäischer Staatschef hat etwas unternommen!«, kritisiert Tom Sauer, Professor für internationale Beziehungen an der Universität Antwerpen. Es ist schwierig, ihn zu widerlegen und das Gegenteil zu beweisen. Sauer weiter: »Unsere Strategie bestand darin, Waffen und Geld zu schicken und zu sagen: ›Findet eine Lösung‹. Wir haben diesen Krieg verlängert – zum Nachteil der Ukraine, da Russland seit zwei Jahren die Oberhand hat.«

Heute ist klar, dass diese Strategie gescheitert ist. Nun verhandelt Trump unilateral direkt mit Putin. Doch anstatt aus diesem Desaster zu lernen, halten Teile des europäischen Establishments an der gescheiterten Strategie fest und sind weiterhin entschlossen, den Krieg um jeden Preis zu verlängern. Dabei häufen sich die Widersprüche. Dieselben Leute, die gestern noch erklärten, der Sieg über ein schwaches Russland stehe unmittelbar bevor, warnen heute, Moskaus Truppen könnten »morgen schon auf dem Brüsseler Grand Place stehen«, wenn Europa nicht rasch aufrüstet. Beide Aussagen waren und sind unwahr. Das Ziel der Letzteren ist es, der europäischen Gesellschaft die massiven Aufrüstungspläne zu verkaufen.

Deutschland hat den Militarismus wiederentdeckt

Wenn der deutsche Militarismus gen Osten blickt, muss Europa die Scherben auflesen. So lassen sich die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts zusammenfassen. Im Ersten Weltkrieg wurden deutsche Jugendliche gegen den »russischen Despotismus« mobilisiert. Im Zweiten wurden Söhne deutscher Arbeiterinnen und Arbeiter an die Front geschickt, um die »bolschewistische Bedrohung« zu bekämpfen. Die Parolen änderten sich, aber das Ziel der Expansion nach Osten blieb.

Die meisten Menschen, die im 20. Jahrhundert aufgewachsen sind, haben gelernt, dass die Kombination aus Deutschland, Chauvinismus und Militarismus nichts Gutes bedeutet. Mit der Rüstungsindustrie im Ruhrgebiet wurden zwei der verheerendsten Kriege der Geschichte angeheizt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sich Europa einig: »Nie wieder«. Vor allem: Nie wieder deutscher Militarismus.

Und plötzlich fühlt sich die Welt wie eine schlechte TV-Wiederholung an. Da ist es wieder: Deutschland muss sich angeblich wieder behaupten. Deutschland muss seine »historische Rolle« akzeptieren und ernst nehmen. Deutschland muss aufrüsten; Deutschland muss sich militarisieren. Wir müssen »alles tun, was nötig ist«, um der »russischen Bedrohung« entgegenzuwirken. Diese Worte fallen heute im Bundestag. Es ist ein Déjà-vu.

Am 18. März 2025 verabschiedete der Bundestag Änderungen im Grundgesetz, die das größte Aufrüstungsprogramm seit dem Zweiten Weltkrieg ermöglichen. Nicht, dass Deutschland heute keine Armee hätte. Im Gegenteil, Deutschland liegt bei den Verteidigungsausgaben bereits auf Platz vier weltweit, nach einem Sprung vom zuvor siebten Platz. Jetzt geht es mit Volldampf voraus, um »kriegstüchtig« zu werden.

»Das Argument, Europa müsse mit Blick auf Russland aufrüsten, ist löchrig. Denn Europa verfügt bereits jetzt über viermal so viele Kriegsschiffe, dreimal so viele Panzer und Artilleriegeschütze und doppelt so viele Kampfflugzeuge wie Russland.«

Doch es gibt eine radikale Neuerung: Die deutsche Aufrüstung wird nun über Schulden finanziert. Bis vor Kurzem hatte Berlin noch jeden politischen Vorschlag, der mit einer höheren Verschuldung einhergehen würde, blockiert. Für soziale oder grüne Initiativen gilt diese Haltung nach wie vor, nicht aber für Rüstungsausgaben.

Zeitgleich hat die Europäische Kommission zusätzlich zu den deutschen Mehrausgaben ein massives Militarisierungspaket auf den Weg gebracht. Es wird teilweise durch Schulden und Kredite finanziert, teilweise durch die Plünderung von Kohäsions-, Klima- und Entwicklungsfonds.

Der ursprünglich »ReArm« betitelte Aufrüstungsplan der EU-Kommission wurde inzwischen in »Readiness 2030« umbenannt. Innerhalb der kommenden fünf Jahre sollen wir also »bereit« gemacht werden. Dafür will die EU 800 Milliarden ausgeben. Nochmals: All dies, damit die USA sich voll und ganz der militärischen Einkreisung Chinas widmen können. Lässt sich der Aufrüstungsplan der EU irgendwie anders verstehen als ein Kniefall vor Trump?

Militärkapazitäten für ein imperiales Europa

Während in offiziellen EU-Erklärungen von Frieden und Sicherheit die Rede ist, sieht die tatsächliche Politik ganz anders aus. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen lässt keinen Zweifel: Die EU soll nicht nur die Fähigkeit entwickeln, ihre globalen Interessen zu verteidigen, sondern auch bereit sein, diese einzusetzen. Mit anderen Worten: Europa will ein geopolitischer Akteur im Machtkampf mit China und den USA werden.

Doch kein EU-Staat ist wirklich bereit, seine nationale Armee aufzugeben. Stattdessen wird eine neue Ebene hinzugefügt, in Form von gemeinsamen »Battle Groups« und militärischen Strukturen auf EU-Level. Demokratische Kontrolle fehlt: Während die nationalen Streitkräfte zumindest in gewisser Weise rechenschaftspflichtig sind, bleibt die Kontrolle auf EU-Ebene vage. Dem Europäischen Parlament fehlen entsprechende Befugnisse und Transparenz, sodass Truppenentsendungen ohne Wissen der Öffentlichkeit möglich sind.

Im Februar 2024 beschloss die EU beispielsweise, Kriegsschiffe in den Nahen Osten zu entsenden – nicht, um Israel zu zwingen, seine Bombardierungen und illegalen Annexionen zu beenden, wie es der Internationale Gerichtshof gefordert hatte. Nein, zu diesem Zweck hat kein einziges Kriegsschiff einen europäischen Hafen verlassen. Sie wurden vielmehr entsandt, um die »freie Durchfahrt« auf den wichtigen Handelsrouten im Roten Meer und im Golf von Aden zu sichern. Mit anderen Worten: Militärschiffe schützen europäische Interessen, nicht aber Menschen.

Deutschland beliefert Israel weiter mit Waffen; Frankreich rüstet Kamerun und Indonesien auf; europäische Unternehmen verkaufen trotz Kriegen und Repression Waffen an Indien, Pakistan oder Nigeria. In der Sahelzone haben EU-Militäreinsätze seit zwei Jahrzehnten keinen Deut an mehr Stabilität gebracht. Die EU kümmert sich nicht um Menschenrechte, sondern um Ressourcen, Handelswege und Einflusssphären.

Das Argument, Europa müsse mit Blick auf Russland aufrüsten, ist löchrig. Denn Europa verfügt bereits jetzt über viermal so viele Kriegsschiffe, dreimal so viele Panzer und Artilleriegeschütze und doppelt so viele Kampfflugzeuge wie Russland. Moskau will keinen Krieg mit der NATO – und selbst wenn, würde der Wiederaufbau seiner Armee nach dem Ukraine-Krieg Jahre dauern. In Brüssel weiß man das sehr wohl.

In diesem Sinne geht es bei der Aufrüstung der EU nicht nur darum, den USA den Rücken freizuhalten, damit diese sich auf den Indopazifik konzentrieren können. Es geht auch darum, eine europäische Militärabteilung für Interventionen über die Verteidigung hinaus aufzubauen. Einige erträumen sich einen starken militärischen Arm für ein neues imperiales Europa.

Wohin geht es?

Explodierende Energiepreise, technologischer Rückstand gegenüber China und den USA sowie eine fehlende Zukunftsvision für die Industrie haben Deutschland, den ökonomischen Motor Europas, in die Rezession gestürzt. Die USA erheben 25 Prozent Zölle auf europäische Stahl- und Aluminiumprodukte sowie auf Autos, und Trump droht mit weiteren Maßnahmen. Dies könnte die deutsche Autoindustrie schwer treffen. Die deutsche Elite war Washington lange Zeit treu geblieben, doch inzwischen sprechen sich die Frankfurter Finanzkreise zunehmend für mehr europäische Souveränität und Unabhängigkeit von den USA aus.

Dieser Drang nach Autonomie findet sich auch im neuen Weißbuch für die europäische Verteidigung der EU wieder. Europa müsse bei der Verteidigung auf eigenen Beinen stehen, heißt es darin. Heute stammen 78 Prozent der Rüstungsgüter aus Ländern außerhalb der EU, vor allem aus den USA. Laut dem Weißbuch muss sich das ändern: Bis 2035 sollen 60 Prozent der Ausrüstung aus europäischer Produktion stammen.

Dieses Ziel erscheint unrealistisch. Die europäische Rüstungsindustrie ist zersplittert, deutsche, französische, italienische und auch britische Firmen konkurrieren um Milliardenaufträge. In Deutschland wird vor allem Geld in Rheinmetall gepumpt; daneben rangeln französisch-italienische oder britisch-französische Allianzen um Marktanteile.

Ein gemeinsames Oberkommando gibt es ebenfalls nicht. Das Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) fordert, man brauche rund 300.000 europäische Soldaten – die aber nach aktuellem Stand in 29 nationalen Armeen ausgebildet würden. Gemeinsame Rekrutierung und Ausbildung bleiben ein Problem.

»Im Kapitalismus steht ›Sicherheit‹ für die Kontrolle über Ressourcen und Handelswege, für Geostrategie und eine Neuaufteilung der Welt.«

Echte Unabhängigkeit von den USA ist in weiter Ferne. Das liegt unter anderem daran, dass proamerikanische Transatlantiker seit langem die EU-Führungen dominieren. Nach dem Brexit haben vor allem die baltischen Staaten und Polen – aufbauend auf Antikommunismus, Russophobie und Neoliberalismus – die frühere Rolle Londons übernommen. Der litauische Ex-Premierminister und nun EU-Kommissar für Verteidigung und Raumfahrt Andrius Kubilius machte bereits deutlich: Es soll keinen direkten Wettbewerb zwischen der EU und der NATO geben.

Tatsächlich fordern gerade die baltischen Staaten, Europa müsse sein Streben nach »strategischer Autonomie« aufgeben und sich wieder der NATO unterordnen. Aber warum sollten alle EU-Staaten ihre Außenpolitik an den Prioritäten der baltischen Staaten und Polens ausrichten, wenn sie selbst mit anderen Herausforderungen konfrontiert sind? Le Monde Diplomatique stellt fest: »Die Iberische Halbinsel fürchtet den Klimawandel mehr als eine russische Invasion; Frankreich setzt auf nukleare Abschreckung; Deutschland profitiert von einer ausgeglichenen Ost-West-Balance; Griechenland sorgt sich um Istanbul, nicht um Moskau; Italien blickt auf den Mittelmeerraum; Dänemark ist mit Trump beschäftigt.«

Dennoch bekräftigten die EU-Staats- und Regierungschefs im März 2025 ihre Loyalität gegenüber der NATO. Vor dem wichtigen NATO-Gipfel im Juni in Den Haag fügen sich die europäischen Staats- und Regierungschefs kleinmütig Trump und NATO-Generalsekretär Mark Rutte. Eine echte »strategische Autonomie« der EU bleibt somit in weiter Ferne. Wenn sie doch irgendwann erreicht würde, dürfte sie derweil ausschließlich einem europäischen Imperialismus dienen.

Im Kapitalismus steht »Sicherheit« für die Kontrolle über Ressourcen und Handelswege, für Geostrategie und eine Neuaufteilung der Welt. Wir brauchen eine neue Definition: »Sicherheit« als sicheren Zugang zu Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung, Schutz vor Pandemien und Klimachaos. Um dies zu erreichen, brauchen wir ein anderes Europa – ein Europa des Friedens, der Solidarität, der Demokratie und des Sozialismus.

Knarren statt Sozialleistungen

»Das 0,7-Prozent-Ziel der UN für Entwicklungszusammenarbeit wird ignoriert. Klimaziele werden verfehlt. Das sind deutlich größere Bedrohungen als Russland. Mit Russland kann man reden, mit dem Klima nicht«, argumentiert Professor Tom Sauer. Er hat recht. Soziale und ökologische Ziele werden seit Jahrzehnten missachtet, aber die Militärausgaben sind unantastbar, eine heilige Kuh. Wenn Trump und Rutte zwei Prozent des BIP für die NATO fordern, stellt das niemandinfrage Außer vielleicht Sauer: »Warum zwei Prozent? Das ist ein rein politischer Fetisch, kein Gesetz.«

Dennoch hat mein Heimatland Belgien die Militärausgaben von 3,9 Milliarden (2017) auf 7,4 Milliarden Euro (2024) verdoppelt. Um den Zwei-Prozent-Fetisch zu erreichen, erhöhte man mit dem sogenannten Osterabkommen 2025 die Ausgaben sogar auf 12,8 Milliarden jährlich – also nochmals fünf Milliarden Euro mehr pro Jahr, die von den Renten und Sozialleistungen gestohlen werden. Und noch bevor dies überhaupt erreicht ist, gibt es bereits Gerüchte über eine erneute Erhöhungsforderung seitens der NATO: fünf Prozent des BIP für Verteidigung, 3,5 Prozent für »harte Verteidigung«. Für Belgien würde das 22,3 Milliarden Euro jährlich bedeuten – 15 Milliarden mehr als 2024. Das ist Wahnsinn. Bezahlt wird mit unseren Renten, unseren öffentlichen Dienstleistungen, unserem Gesundheitswesen.

Als Verteidigungsminister Theo Francken dieses Jahr das US-Modell lobte, hielten einige das für einen schlechten Witz. »Wir haben über die Armut, die Suchtprobleme, die fehlenden sozialen Netze und die Zahnarztrechnungen über 1.000 Dollar in den USA gelacht«, sagte Francken gegenüber De Tijd. »Wir wollten nicht dort leben, weil sie so viel für ›harte Sicherheit‹ ausgeben. Da wäre es doch schöner, Renten, Arbeitslosigkeit und ein ›kubanisches Modell‹ zu finanzieren, bei dem man für 13 Euro eine vollgepackte Tüte Medikamente in der Apotheke bekommt. Aber wer hatte recht?

»Wenn ein Land aufrüstet, ziehen andere nach. Wer die Logik der Abschreckung konsequent zu Ende denkt, wird am Ende für die nukleare Bewaffnung Deutschlands und Europas eintreten.«

Ja, wer hat eigentlich recht?, fragt der stellvertretende Vorsitzende der Parlamentarischen Versammlung der NATO. Diejenigen, die Milliarden in einen kriegstreiberischen militärisch-industriellen Komplex stecken, während Millionen Menschen keine Grundversorgung haben? Diejenigen, die Geld für imperialistische Kriege verschwenden, während sechs Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner mit ihrer Opioidabhängigkeit kämpfen? Diejenigen, die 1.000 Dollar für Zahnpflege verlangen? Was Francken uns mitteilen will, ist klar: Der Übergang zu einer europäischen Kriegswirtschaft wird mit einer Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme einhergehen.

Der französische Journalist Rémi Godeau stößt in L’Opinion ins selbe Horn: »Seien wir ehrlich zu uns selbst: Die Kriegswirtschaft erfordert längere Arbeitszeiten sowie eine Eindämmung der Verschwendungssucht des Sozialstaates.« Soziale Sicherheit, Wohnraum, Altenpflege – all das wird heute also als »Verschwendungssucht« angesehen. Francken bezeichnet die belgische Sozialversicherung als »zu fett«, spricht aber wenig über die Dividenden der Rüstungsindustrie, Korruption oder die Milliarden Euro, die die Reichen horten.

Was von der Leyen als »Ära der Aufrüstung« bezeichnet, bedeutet für die europäische Arbeiterklasse eine Ära des Sozialabbaus. Mehr Geld für Panzer bedeutet weniger für Renten; mehr Geld für Drohnen bedeutet weniger für Kinderbetreuung.

»Die Bundesregierung hat unter anderem 105 Leopard-II-Panzer bei Rheinmetall bestellt. Ein Panzer kostet circa 27,8 Millionen Euro. Eine neue Grundschule in meinem Wahlkreis kostet 25 Millionen Euro«, hält Gesine Lötzsch von der Linkspartei fest. Was gut für Rheinmetall sei, sei schlecht für Kinder in Deutschland. Sie hat recht. All das sind politische Entscheidungen – mit Auswirkungen, die uns noch jahrzehntelang beschäftigen werden. Es gibt keinen Grund, derartige Entwicklungen einfach hinzunehmen. Es ist nie zu spät, »Nein« zu sagen.

Das wahnwitzige Wettrüsten muss enden

Laut Trump, Rutte und Francken haben wir angeblich zu wenig Waffen. Das ist grotesk. Die Militärausgaben auf der Welt bewegen sich seit zehn Jahren nur in eine Richtung: nach oben! Im vergangenen Jahr wurden weltweit 2,718 Billionen Dollar für Rüstung ausgegeben, ein Anstieg von fast zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr, wie das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) berechnet hat. Das ist der stärkste Anstieg seit 1988. Die Militärausgaben der europäischen Länder sind 2024 auf 693 Milliarden Dollar gestiegen. Das ist ein Plus von 17 Prozent gegenüber 2023 und 83 Prozent gegenüber 2015. Wie kann es da zu wenig Waffen geben?

Die Welt erstickt langsam unter diesem wahnwitzigen Wettrüsten. Es folgt immer derselben Logik: Wenn ein Land aufrüstet, ziehen andere nach. Wer die Logik der Abschreckung konsequent zu Ende denkt, wird am Ende für die nukleare Bewaffnung Deutschlands und Europas eintreten.

Im schlimmsten Fall gipfelt diese Spirale in einem großen Krieg mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern. Die Geschichte lehrt uns, dass dieser gefährliche Strudel nur durch gegenseitige Abrüstungsverträge durchbrochen werden kann. Dafür braucht es nüchterne Diplomatie, aber auch eine starke internationale Antikriegsbewegung, die Druck von unten ausübt.

Rüstung wird die Wirtschaft nicht wiederbeleben

»Was viele vergessen, wenn sie diese astronomischen Verteidigungsausgaben hören: Diese Steuergelder werden größtenteils wieder in unsere Wirtschaft zurückfließen«, behauptet Verteidigungsminister Francken. In einem seiner Social-Media-Posts bekräftigt er: »Verteidigung ist Business!«

Man kann Minister Francken zugute halten, dass er die grundlegenden Argumente der NATO und der Rüstungsindustrie überaus klar artikuliert. Die Theorie, dass eine verstärkte Militarisierung die Wirtschaft ankurbeln wird, ist ein Evergreen des militärisch-industriellen Komplexes. Dort ist stolz von »Militärkeynesianismus« die Rede: Regierungen sollen die Rüstungsindustrie massiv subventionieren. Da die europäische Autoindustrie ins Straucheln geraten ist und Deutschland vor dem dritten Rezessionsjahr in Folge steht, soll uns die Umstellung von Autos auf Panzer auch als ökonomische Lösung schmackhaft gemacht werden.

Das ist natürlich Unsinn, denn Endverbraucher-Familien kaufen keine Panzer, um damit die Oma auf dem Land zu besuchen. Aber diese Panzer müssen verkauft werden: Um die Rüstungsindustrie am Laufen zu halten, müssen ihre Produkte auch eingesetzt werden. Sonst bricht der Sektor zusammen. Mit anderen Worten: Die Militarisierung der Wirtschaft schafft einen permanenten Drang zum Krieg – ein Krieg, der nicht gewonnen werden soll, sondern endlos sein muss, weil Frieden die Profitmargen gefährdet.

»Die Geschichte lehrt uns: Kriege und Wettrüsten werden nicht von oben gestoppt. Die Machthaber beenden Militarisierung und Krieg nur, wenn sie von unten unter Druck gesetzt werden.«

Der einzige Weg, diese Margen zu sichern, ist daher ein permanenter Kriegszustand. Das ist im Prinzip das Modell der USA: 850 Militärstützpunkte weltweit, endlose Interventionen, Staatsstreiche, der Koreakrieg (1950), die Invasion in der Schweinebucht (1961), Vietnam, Grenada und Panama in den 1980er Jahren, der Golfkrieg (1991), Afghanistan und Irak im 21. Jahrhundert, der Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine... Die Liste ließe sich weiterführen. Permanenter Krieg ist das Lebenselixier des Militärkeynesianismus.

Darüber hinaus soll das neue Wettrüsten teilweise durch Schulden finanziert werden. »Genau wie in den USA«, frohlocken die Kriegstreiber. Sie verschweigen dabei, dass die Verschuldung der USA historisch hoch ist und die Ungleichheit im Land noch nie so groß war wie heute. Das sind die wahren Kosten eines quasi permanenten Krieges.

Panzer füllen keine Teller. Höhere Militärausgaben erhöhen nicht den Lebensstandard. Die Rüstungsproduktion bietet keine ökonomischen Vorteile. Der Bau von Panzern, Bomben oder Raketensystemen trägt nichts zur Gesamtwirtschaft bei. Der Mythos der Schaffung von Arbeitsplätzen ist ebenso falsch: Jeder Euro, der in Krankenhäuser investiert wird, schafft 2,5-mal mehr Arbeitsplätze als ein Euro, der in Waffen investiert wird. In Bezug auf die Beschäftigungseffizienz liegt die Rüstungsindustrie auf Platz 70 von 100 Branchen.

Darüber hinaus sind Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie nicht sicher, da sie vom permanenten Kriegszustand abhängig sind. Franckens Behauptungen sind in mehrfacher Hinsicht falsch. So fließen beispielsweise die Milliarden, die an Rüstungsunternehmen gezahlt werden, nicht »zurück« in die Gesellschaft. Sie fließen an eine einzige Gruppe: die Rüstungskonzerne selbst. Die Gewinne von Rheinmetall, Dassault, BAE Systems, Leonardo, Thales und Saab haben bereits astronomische Höhen erreicht: »Die Renditen sind innerhalb von drei Jahren auf teilweise mehr als 1.000 Prozent gestiegen. Der Durchschnitt in der Branche liegt bei 400 bis 500 Prozent. Das ist enorm, beispiellos«, kommentiert der Chefökonom der KBC Bank.

Wenigstens in einer Sache hat Francken somit Recht: Verteidigung ist Big Business.

Frieden und Wohlstand statt Krieg und Tod

Um den bereits überhitzten Drang zur Militarisierung weiter anzuheizen, greift der belgische Premierminister Bart De Wever gerne einen Spruch aus der späten Römerzeit auf, der einst dazu dienen sollte, den Niedergang des Weströmischen Reiches durch strengere militärische Disziplin und höhere Verteidigungsausgaben aufzuhalten: »Si vis pacem, para bellum« (»Wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor«). Dieser Spruch war nie ein Slogan für den Frieden. Er ist vielmehr ein Schlachtruf für Militarisierung und Krieg. Doch Militarisierung stärkt die Gesellschaft offensichtlich nicht: Nur wenige Jahrzehnte, nachdem der Spruch in Rom Einzug gehalten hatte, brach das Reich unwiderruflich zusammen.

Die Geschichte lehrt uns: Kriege und Wettrüsten werden nicht von oben gestoppt. Die Machthaber beenden Militarisierung und Krieg nur, wenn sie von unten unter Druck gesetzt werden. Es sind genau diejenigen, die den Preis zahlen – mit ihrem Wohlstand und ihrer Lebensumwelt, mit ihrer Zukunft, mit ihren Kindern – die etwas bewirken können. Wenn sich die Arbeiter- und Friedensbewegungen zusammenschließen, wird vieles möglich. Die Linke darf sich nicht dem neuen militärischen Konsens beugen. Sie muss stattdessen die Heuchelei des Westens, seine kriegerischen Interessenkonflikte und das verheerende Wettrüsten entschlossen bekämpfen.

»Frieden wird nicht durch die Kapitulation vor dem Dogma der Militarisierung und den heutigen Militärfetischen erreicht.«

»Wenn wir zum Krieg rüsten, werden wir Krieg haben«, schrieb Bertolt Brecht am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Die bittere Realität des 20. Jahrhunderts gibt ihm recht. Die Lehre ist einfach: Wenn du Frieden willst, muss du dich auf den Frieden vorbereiten.

Wenn es ans Thema Krieg geht, scheint plötzlich mühelos Geld in Milliardenhöhe da zu sein. Wenn es hingegen um Menschen und deren Wohlergehen geht, ist das nicht der Fall. Das ist absurd. Wir brauchen keine NATO – wir brauchen Frieden. Das Wettrüsten führt nicht zu Sicherheit, sondern zu größerer Ungleichheit, mehr Gewalt und endlosen Kriegen.

Frieden wird nicht durch die Kapitulation vor dem Dogma der Militarisierung und den heutigen Militärfetischen erreicht. Er erfordert den Aufbau neuer Machtstrukturen. Frieden ist nicht selbstverständlich – er ist vielmehr das Ergebnis eines Kampfes. Ein Kampf, der Forderungen nach sozialem Fortschritt in eine andere Logik einbettet, die es wagt, über die Grenzen des Kapitalismus hinauszudenken. Dieses System, in dem mächtige Monopole durch Eroberung, Krieg und eine Ökonomie der Zerstörung eine profitorientierte Herrschaft durchsetzen, ist keine zukunftsfähige Perspektive für die Menschheit und den Planeten.

»Barbarei oder Sozialismus«; diese Wahl sah Rosa Luxemburg einst. Wir wählen die Seite der Arbeiterklasse, den Frieden und den Sozialismus.

Peter Mertens ist der Generalsekretär der belgischen Partei der Arbeit und Autor des Buches Meuterei: Wie unsere Weltordnung ins Wanken gerät.