06. April 2024
Der Gaza-Krieg hat eine katastrophale Hungersnot zur Folge. Doch es ist nicht das erste Mal, dass Israel versucht, die Menschen in Gaza auszuhungern: Dokumente der israelischen Regierung deuten darauf hin, dass sie diese Strategie bereits von 2007 bis 2010 explizit verfolgte.
Kinder in der Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen drängen sich um Nahrungsmittelhilfe zu erhalten, 21. März 2024.
»Um die Grundversorgung im Gazastreifen zu gewährleisten, hat der stellvertretende Verteidigungsminister genehmigt, dass 106 Lastwagen mit humanitären Gütern in den Gazastreifen einfahren dürfen.«
Diese Zusage könnte eine von zahllosen ähnlichen Aussagen sein, die die israelische Regierung seit dem Beginn der israelischen Massaker in Gaza getätigt hat. Tatsächlich stammt sie aber aus Dokumenten des israelischen Verteidigungsministeriums aus dem Jahr 2008. Die Präsentation Food Consumption in the Gaza Strip – Red Lines zeigt detailliert die Menge der verbrauchten, produzierten und verteilten Lebensmittel im Gazastreifen auf. Sie soll die israelische Regierung bei ihrem erklärten Ziel unterstützen, die Einfuhr von Lebensmitteln nach Gaza zu begrenzen.
Das israelische Verteidigungsministerium behauptet seinerseits, die »Roten Linien« (wie die Präsentation inzwischen oft genannt wird) seien lediglich ein Entwurf gewesen und hätten nie »als Grundlage für die Umsetzung von Zivilpolitik gegenüber dem Gazastreifen gedient«. Allerdings scheint die Strategie zumindest von 2007 bis 2010 verfolgt worden zu sein.
Als die Präsentation Jahre später öffentlich gemacht wurde, bestätigte sie freilich nur, was die Menschen in Gaza bereits erlebt und vermutet hatten: Israel hat versucht, sie auszuhungern.
Als Reaktion auf den Wahlsieg der Hamas bei den palästinensischen Wahlen und ihrer Übernahme der Kontrolle über Gaza begann die israelische Regierung im Jahr 2007 mit der anhaltenden Blockade des Streifens. Zwar zielte die Blockade in erster Linie darauf ab, die Versorgung Gazas mit Treibstoff und Strom zu reduzieren und den Personenverkehr in und aus dem Gazastreifen einzuschränken, doch die israelische Regierung beschäftigte sich auch mit Nahrungsmitteln. Das wird in den Roten Linien deutlich. In der Präsentation werden die Mengen an unterschiedlichen Lebensmitteln – Mehl, Gemüse, Milch et cetera – geschätzt, die notwendig seien, um die Bevölkerung des Gazastreifens zu ernähren. Einbezogen wird dabei, was innerhalb der Enklave produziert wird sowie die Produkte, die über die wenigen Übergänge der von Israel um das Gebiet errichteten militarisierten Grenze gebracht werden.
»Das offizielle Ziel dieser Politik war es offensichtlich, einen ökonomischen Krieg zu führen«, meint Shai Grunberg, Sprecher der israelischen Menschenrechtsorganisation Gisha. Gisha veröffentlichte die Roten Linien im Jahr 2012 nach einem dreijährigen Rechtsstreit mit dem israelischen Verteidigungsministerium, das versucht hatte, die Offenlegung des Dokuments zu verhindern.
Der vordergründige Zweck der Roten Linien bestand darin, die absolute Mindestmenge an Nahrungsmitteln zu ermitteln, die in den Gazastreifen gelassen werden muss, um Unterernährung zu vermeiden (man kam auf die oben zitierten 106 Lkw pro Tag). Nachforschungen von Gisha ergaben jedoch, dass diese Grenze in den ersten drei Jahren der israelischen Blockade kaum erreicht wurde. Vom Beginn der Blockade im September 2007 bis zu ihrer teilweisen Lockerung im Juli 2010 erreichte die Zahl der täglich von Israel nach Gaza zugelassenen Lastwagen nur etwa einen Monat lang (im März 2009) die in der Präsentation genannte Menge. Die restliche Zeit lag die Zahl deutlich tiefer und sank im November 2008 auf nahezu Null.
»Selbst nachdem Israel die Beschränkungen für Lebensmittellieferungen aufgehoben hatte, gab es weiterhin Restriktionen für den Personen- und Warenverkehr, mit denen die Entwicklung der Wirtschaft des Gazastreifens und der zivilen Infrastruktur behindert wurden.«
Trotz der israelischen Politik, mit der die Einfuhr von Nahrungsmitteln in den Gazastreifen beschränkt wurde, gab es in den Jahren 2007 bis 2010 keine Hungersnot in dem Gebiet. Gisha führt das Ausbleiben einer solchen massenhaften Unterernährung sowohl auf die angelegten Vorräte der Händler in Gaza als auch auf die Verteilung von Hilfsgütern durch humanitäre Organisationen zurück.
Darüber hinaus gelang es der Hamas im Januar 2008, die Blockade zu durchbrechen, nachdem sie monatelang heimlich mit Acetylenbrennern Begrenzungsteile am Übergang zu Ägypten durchtrennt und schließlich gesprengt hatte. Der einwöchige Durchbruch ermöglichte den Zugang nach Ägypten, wo genügend Lebensmittel für drei Monate gekauft und nach Gaza gebracht werden konnten. Über die Aktion berichtete unter anderem die US-amerikanische Nachrichtenagentur Associated Press.
Im Mai 2010 – nach dem Überfall auf die Gaza-Flottille, bei dem das israelische Militär zehn Aktivisten auf sechs zivilen Schiffen tötete, die mit humanitären Hilfsmitteln von der Türkei nach Gaza unterwegs waren – lockerte Israel schließlich seine Blockade der Enklave. Die Untersuchungen von Gisha bestätigen, dass die Zahl der von Israel in den Gazastreifen zugelassenen Lastwagen seit Juli 2010 tatsächlich meist bei über 106 lag. Seitens der Organisation wird aber betont, dass die Lockerung der Blockade nicht gleichbedeutend sei mit einer vollständigen Aufhebung.
»Selbst nachdem Israel die Beschränkungen für Lebensmittellieferungen aufgehoben hatte, gab es weiterhin Restriktionen für den Personen- und Warenverkehr, mit denen die Entwicklung der Wirtschaft des Gazastreifens und der zivilen Infrastruktur behindert wurden. Das führte zu einer Rückentwicklung und zu einem starken Anstieg der Armut in Gaza, wodurch die Ernährungssicherheit auf andere Weise gefährdet wurde«, kommentiert Grunberg. »Infolgedessen waren bereits vor dem 7. Oktober 2023 mehr als 80 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens auf humanitäre Hilfe angewiesen, um ihre Grundbedürfnisse zu decken.«
Israel dürfte also bereits von 2007 bis 2010 versucht haben, Lebensmittel als eine Form der wirtschaftlichen Kriegsführung zu nutzen. Seit dem 7. Oktober 2023 ist Nahrung zweifelsohne Teil der israelischen Kriegspolitik. Das andauernde Massaker im Gazastreifen – bei dem laut Al Jazeera bereits mindestens 33.000 Palästinenserinnen und Palästinenser ums Leben gekommen sind, darunter mehr als 13.000 Kinder und 8.400 Frauen – spiegelt mehrere Merkmale der früheren Blockade wider. Diesmal scheint jedoch die Absicht vorzuliegen, tatsächlich eine Hungersnot zu verursachen.
Gisha listet die israelischen Handlungen auf, die für Hunger im Gazastreifen sorgen: Bombardierungen und Bodenoperationen des israelischen Militärs, die die Nahrungsmittelproduktion und -verteilung treffen; strenge Beschränkungen für Importe, einschließlich der Schließung aller bis auf zwei Grenzübergänge; kein oder stark erschwerter Zugang für humanitäres Personal; die Weigerung, israelische Proteste an den verbleibenden Übergängen aufzulösen; Angriffe auf palästinensische Polizeieskorten für humanitäre Hilfskonvois oder Attacken gegen die Konvois selbst.
»Die Situation vor Ort deutet darauf hin, dass Israel Kollektivbestrafung anwendet – und das in einem Ausmaß, dass man von Verhungern als Kriegswaffe sprechen kann.«
»Israels Missbrauch seiner Kontrolle über die Bewegungsfreiheit und den Zugang hat nach dem 7. Oktober ein neues Ausmaß angenommen«, kommentiert Grunberg. Dazu gehören demnach »die Entscheidungen, die Stromversorgung zu blockieren, die Versorgung mit Wasser und Treibstoff erheblich einzuschränken und die Tatsache, dass Israel weiterhin den Zugang zu und die Verteilung von Hilfsgütern einschränkt, insbesondere im Norden Gazas«.
Angesichts dieses Vorgehens der israelischen Regierung haben Gisha und vier weitere israelische Menschenrechtsorganisationen Anfang dieses Monats eine Petition beim Obersten Gerichtshof Israels eingereicht. In dieser beschuldigen sie die Regierung, die Lieferung von Lebensmitteln und anderer humanitärer Hilfe nach Gaza aktiv zu verhindern. Sie fordern das Gericht auf, die Regierung anzuweisen, alle humanitären Hilfsgüter, Ausrüstung und Hilfspersonal über zusätzliche Grenzübergänge in den gesamten Gazastreifen zu lassen. Sie weisen außerdem ausdrücklich die Behauptungen zurück, Hilfsleistungen würden nicht behindert, und verweisen auf die Unzulänglichkeit der Maßnahmen anderer Nationen, die immerhin vereinzelte Luftabwürfe durchführen oder versuchen, Hilfe auf dem Seeweg zu liefern.
»Die Situation vor Ort deutet darauf hin, dass Israel [unter anderem] Kollektivbestrafung anwendet – und das in einem Ausmaß, dass man von Verhungern als Kriegswaffe sprechen kann«, heißt es in der Petition. »Die Tatsache, dass im Norden des Gazastreifens Kinder an den Folgen von Unterernährung gestorben sind und weiter sterben, sollte die Adressaten, die israelische Öffentlichkeit und die ganze Welt in ihren Grundfesten erschüttern.«
Arvind Dilawar ist Journalist und Redakteur. Seine Artikel erschienen unter anderem bei Newsweek, The Guardian und Al Jazeera.