15. Januar 2025
Die Hegemonie des Linksliberalismus in der deutschen Politik ist vorüber. Denn wer wirtschaftliche Fragen den Liberalen überlässt, verliert am Ende alles.
Haben inzwischen nicht mehr gut lachen: Die Parteien der linksliberalen Ampel stecken im Umfragetief.
Die Ampelregierung war als Koalition zwischen gemäßigt-linken und liberalen politischen Kräften die Verkörperung des Linksliberalismus. Die ökonomische Bilanz der Ampel fällt miserabel aus. Das reale Wirtschaftswachstum liegt bei 0 Prozent und meilenweit unter dem EU-weitem Durchschnitt, sagen die Liberalen. Die Inflation treibt die Umverteilung von unten nach oben, Reallohnverluste sorgen für leere Geldbeutel, resümieren die Sozialdemokraten. Der ökologische Umbau wurde nicht nur verschlafen, sondern durch Regierungshandeln aktiv sabotiert, monieren die Kritischeren innerhalb der Grünen. Ein bisschen Scheitern für Alle.
Die Ampel, und insbesondere die FDP, hat es während ihrer Regierungszeit geschafft, Wirtschaftsfragen endgültig zu entpolitisieren, während Ängste vor Wohlstandsverlust um sich greifen. Um die Inflation kümmert sich die Zentralbank, und den Rest regelt die Schuldenbremse. Drei Jahre lang wurde vor allem über die immer miesere Lage von Geflüchteten diskutiert und die Position der rechten Opposition letzten Endes von der Bundesregierung adaptiert. Es müsse endlich wieder in großem Stil abgeschoben werden, so Scholz. In einigen öffentlichen Auftritten bemühen sich die scheidenden Regierenden, den Schein aufrechtzuerhalten, etwa wenn die SPD im Wahlkampfmodus verlautbart, »mit humanitärer Verantwortung Migration steuern« zu wollen, weswegen sie die Aufhebung des Asylrechts, wie sie von der CDU gefordert wird, ablehnt. Aber das Kind ist bereits in den Brunnen gefallen. Der einstmalige Verteidiger der Rechte Geflüchteter, Robert Habeck, weiß im Interview in der Küche der Bild-Chefredakteurin zu berichten, dass arabisch sprechende Kinder das Schulsystem überlasten und Migration die Kriminalität anheizt.
Der Fall der Ampel ist das endgültige Todeszeichen des seit Jahren elendig vor sich hinsiechenden Linksliberalismus. Während dem Neoliberalismus in den letzten zehn Jahren in beeindruckender Regelmäßigkeit der Tod attestiert wurde, kann man kaum dasselbe über den Linksliberalismus behaupten. Noch bis in die letzten Tage der Ampelregierung versuchten die Regierenden das Versprechen der sozial-ökologischen Transformation und eines grünen Kapitalismus aufrechtzuerhalten. Dieses Reformprojekt, an dem auch viele Linke sich beteiligten, stellte einen teilweisen Bruch mit dem Neoliberalismus dar. Der Staat wurde nicht als zu beseitigender Apparat betrachtet, sondern als Instanz, die zwar primär dem Markt dienen, aber doch auch irgendwie alles ein bisschen diverser und grüner machen sollte.
Das politische Projekt des Linksliberalismus, das in einigen Perioden des 21. Jahrhunderts eine hegemoniale Position beanspruchen konnte, lebte im Gegensatz zum Neoliberalismus von der Annahme, zwischen liberaler Wirtschaftspolitik und reformerischer Anerkennungs- und Repräsentationspolitik sei ein Kompromiss zu schließen. Im Klartext heißt das: Sozialdemokratische, grüne und linke Kräfte gaben sich der Illusion hin, die zerstörerischen Folgen des wirtschaftspolitischen Neoliberalismus durch Geländegewinne in der Gendergerechtigkeit, queeren Rechten, Klimaschutz und Antirassismus auffangen zu können. Einige dieser Gewinne bedeuteten materielle Verbesserungen, organisiert durch Eingriffe des Staates. Doch es zeigt sich: Wer die Wirtschaftsfragen den Liberalen überlässt, verliert letztlich alles.
Der Linksliberalismus ist Ergebnis einer längeren politischen Entwicklung. Diese verlief in vielen der kapitalistischen Zentren seit Mitte des 20. Jahrhunderts entlang ähnlicher Bahnen. In den Ruinen Nachkriegseuropas und in Nordamerika erlangte die von Linksaußen unter Druck stehende Sozialdemokratie einen hegemonialen Status und erarbeitete sich eine breite Basis. Das, was als politisch links galt, hatte einen klaren Fokus auf ökonomische und soziale Fragen, wenn auch Forderungen marginalisierter Gruppen in die sozialdemokratische Linie aufgenommen wurden. Die feministischen Bewegungen in Europa und den USA sowie vor allem in Nordamerika auch die antirassistischen Kämpfe unter anderem geführt von den Black Panthers, erkämpften sich entgegen der weißen und patriarchalen Hegemonie in den Gewerkschafts- und Arbeiterbewegungen ihren Platz. Diese Kämpfe wurden mit harten Bandagen geführt. Antagonistin war etwa die bürgerlich-weiße Frauenbewegung, die von Organisationen rassifizierter Feministinnen herausgefordert wurde. Innerhalb der Bürgerrechtsbewegung war die Militanz der Panthers vielen gemäßigten Kräften, auch innerhalb der Gewerkschaften, ein Dorn im Auge.
Diese Kämpfe marginalisierter Gruppen innerhalb der arbeitenden Klasse artikulierten ihre jeweils spezifische Erfahrung der Herrschaft im Kapitalismus. Sie benannten die Funktion von Rassismus und Sexismus im Kapitalismus: die Spaltung der arbeitenden Klasse und die Bereitstellung billiger oder unbezahlter Arbeit. Zugleich betonten sie die Gemeinsamkeiten von Unterdrückung und Ausbeutung in der arbeitenden Klasse. Aus diesen geteilten Erfahrungen wurde der gemeinsame Kampf für Gerechtigkeit und die Überwindung der Klassengesellschaft abgeleitet. Wie Fred Hampton von den Panthers über seine Bewegung sagte: »Es ist ein Klassenkampf, verdammt!«. Der Aufbau von Gegenmacht, also der Organisation einer breiten Basis, um den Unterdrückten die Werkzeuge ihrer Befreiung an die Hand zu geben, war – zumindest phasenweise – zentral.
»Im Zuge der Wirtschaftskrise in den 1970er Jahren konnten die Rechten aufgrund schwächelnder linker Kräfte und der Ratlosigkeit keynesianischer Wirtschaftspolitik im Angesicht niedrigen Wachstums und hoher Inflation beachtliche Wahlerfolge erzielen.«
Entgegen dieser linksgerichteten Hegemonie brachte sich die politische Rechte in Stellung. Auch sie hatte ein in sich kohärentes Programm: rechte, also neoliberale, Wirtschaftspolitik gepaart mit rechter Kulturpolitik. Auf dem Programm stand die Zerstörung der öffentlichen Daseinsvorsorge, kombiniert mit einer »Frauen an den Herd«-Politik und der Ablehnung von Minderheitenrechten. Ronald Reagans Wahlkampagne etwa war nur aufgrund der umfassenden Unterstützung der Evangelikalen erfolgreich. Im Gegenzug unterstütze Reagan deren Kampf gegen das Abtreibungsrecht und das »Equal Rights Amendment«, einen Verfassungszusatzes zur Geschlechtergleichstellung, dessen Ratifizierung Reagan verhinderte. Im Vereinigten Königreich gab Margaret Thatcher etwa zeitgleich zu Protokoll: »Ich hasse Feminismus. Er ist Gift!«. Im Zuge der Wirtschaftskrise in den 1970er Jahren konnten die Rechten mit dieser Rhetorik punkten und aufgrund schwächelnder linker Kräfte und der Ratlosigkeit keynesianischer Wirtschaftspolitik im Angesicht niedrigen Wachstums und hoher Inflation beachtliche Wahlerfolge erzielen. So konnte die politische Rechte Margaret Thatcher und Ronald Reagan 1979 und 1981 an die Macht hieven.
Die linke Opposition gegen diese globalisierte rechte Politik des Neoliberalismus spitzte sich in der Antiglobalisierungsbewegung zu, welche ihren Höhepunkt in den 1990er und frühen 2000er Jahren hatte. Diese profitierten von der umfangreichen Basisarbeit vorheriger linker Hegemonie. Im Fokus standen Fragen globaler Gerechtigkeit und Verteilung. Diese wurden in einem internationalistischen Kontext mit einem Fokus auf die Auswirkungen des entfesselten Kapitalismus auf den Globalen Süden erarbeitet. Feministische Kräfte agierten im Zentrum der Bewegung, und forderten ökonomische Gerechtigkeit ein. Die Anerkennung feministischer Rechte sowie der Bedeutung von zumeist unbezahlter Care-Arbeit liefen Hand in Hand.
Die Anti-Globalisierungsbewegung ist zwar nicht endgültig tot, und in ihren Ausläufern findet nach wie vor wichtige politische Organisierung statt, aber ab Beginn der 2000er Jahre verlor sie ihren Deutungs- und Gestaltungsanspruch. Ihre Basis schwindet. Seitdem gibt es in den kapitalistischen Zentren eine Vielzahl linker politischer Kämpfe, die aber meist marginal bleiben.
Die politische Rechte, in Deutschland repräsentiert von CDU und AfD, hat nach wie vor ein kohärentes politisches Programm. Neoliberale, also rechte, Wirtschaftspolitik wird kombiniert mit rechtem Kulturkampf. Seit Thatcher hat sich bei ihnen nichts Wesentliches verändert. Anders sieht es auf der politischen Linken aus. Denn die großen Parteien auf der linken Seite des Bundestages, also SPD und B90, haben spätestens seit Schröder mit den Agenda-Reformen, aber – zumindest die SPD – auch in der großen Koalition unter Merkel sowie in der Ampel, jeden Anspruch linke Verteilungspolitik zu betreiben, an den Nagel gehängt. Der Kurs der Rechten in Wirtschaftsfragen, der soziale Kahlschlag, wurde blindlings kopiert. Zumindest auf dem Papier schreiben sich SPD und Grüne allerdings Feminismus und Antirassismus auf die Fahnen. Ihr Feminismus und Antirassismus ist aber entleert von der ökonomischen Dimension und Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Es ist das, was Bafta Sarbo als liberalen Antirassismus, als moralische Selbstvergewisserung ohne jeden materiellen Effekt, bezeichnet. Das gilt analog ebenso für den liberalen Feminismus. Dieser liberale Feminismus und Antirassismus stehen nicht im Gegensatz zur Politik der Liberalen. Sie sind vollkommen kompatibel, weil sie Fragen nach materieller Gerechtigkeit ausklammern. Denn auch die Liberalen beanspruchen gerne die Verteidigung queerer Rechte für sich, solange damit keine Umverteilung oder Eingriffe in die Wirtschaft einhergehen.
»Das linksliberale Zweckbündnis sowie der Minimalkonsens des liberalen Feminismus und Antirassismus hat die Glaubwürdigkeit einer linken Alternative radikal infrage gestellt.«
Der hegemoniale Pseudo-Konsens des Linksliberalismus entstand aufgrund der relativen Schwäche linker Kräfte und einem gewissen Pragmatismus, der mit dem Abflauen der globalisierungskritischen Bewegung entstand. Wenn der Sturz des Kapitalismus schon in unerreichbare Ferne rückt, so bleibt es doch trotzdem ein Erfolg, das Selbstbestimmungsgesetz durch den Bundestag zu bringen und damit eine reale, spürbare Verbesserung für transidente-Menschen zu erreichen. Das Problem: Das gleichzeitige Einstehen für rechte Wirtschaftspolitik und linke Repräsentations- und Anerkennungspolitik – also der Fokus auf die Rechte marginalisierter Gruppen – eröffnet der Rechten ein politisches Einfallstor: den Kulturkampf. Die politische Linke lässt sich leicht delegitimieren und als wohlstandsverwahrloste Elite abtun, wenn sie auf Repräsentationspolitik reduziert werden kann, die von Verteilungsfragen entkoppelt ist. Sie wird im alltäglichen Diskurs mit dem gescheitertem Projekt der sozial-ökologischen Transformation hin zum grünen Kapitalismus assoziiert, das die Ampel gründlich gegen die Wand gefahren hat. Im Terrain des Kulturkampfes fühlt sich die politische Rechte wohl, denn Fragen der Wirtschaft und wie diese zum Wohlergehen der Menschen gesteuert werden kann, bleiben unbeantwortet.
Ob wir uns den Linksliberalismus noch zurückwünschen werden, weil in ihm immerhin gewisse politische Erfolge zu gewinnen waren? Vielleicht. Aber wir müssen uns wohl oder übel mit seinem Ende anfreunden und fragen, was der Tod des linksliberal-demokratischen Paradigmas bedeutet. Wie ist heute linke Politik zu machen, da Appelle an Moral oder universalistische Werte, etwa das Menschenrecht auf Asyl, an einem von der politischen Rechten bestimmten Diskurs abprallen? Weder SPD noch Grüne setzen der systematischen Entmenschlichung Geflüchteter noch etwas entgegen. Statt dem vom Linksliberalismus versprochenen grünen Fortschrittskapitalismus blüht das Gegenteil: Rechte drängen an die Macht und zielen darauf ab, im Linksliberalismus erzielte Fortschritte wie das Selbstbestimmungsgesetz zu kassieren. Gleiches geschah schon unter Trumps erster Amtszeit in den USA, mit weitreichenden, existenzvernichtenden Folgen, vor allem für rassifizierte Menschen, Frauen, nicht-binäre sowie transidente Menschen und Queers. Sich dennoch dagegen zur Wehr zur setzen, ist und bleibt notwendiger Teil linker Politik.
Darüber hinaus täten wir gut daran, uns nicht an die sterbenden Reste des langsam verwesenden Linksliberalismus und die darin angewandten Methoden linker Politik zu klammern. Das linksliberale Zweckbündnis sowie der Minimalkonsens des liberalen Feminismus und Antirassismus hat die Glaubwürdigkeit einer linken Alternative radikal infrage gestellt. Ob die Wiederherstellung dieser Glaubwürdigkeit gelingt, wird davon abhängen, wie überzeugend linke Kräfte sich vom Linksliberalismus abgrenzen können und wieder eine Basis und letztlich Gegenmacht aufbauen können. Das erklärte Ziel muss eine Repolitisierung und Demokratisierung der Wirtschaftspolitik und der Wirtschaft, ihre Steuerung zum Wohl der Menschen, sein. Dafür gibt es bereits Mehrheiten und es lassen sich noch deutlichere schaffen. Dieser Weg verspricht wesentlich weitreichendere feministische und antirassistische Gewinne als jemals im linksliberalen Bündnis möglich wären.
Robin Jaspert ist Politökonom und promoviert an der Goethe-Universität in Frankfurt. Er forscht zu Staatsfinanzen, Süd-Nord-Beziehungen, Fiskal- und Geldpolitik.