12. Dezember 2024
Während der Krisen der letzten Dekaden haben Parteien der Sozialdemokratie ihre einstige Basis im Regen stehen lassen. Das rächt sich nun.
Zwei, die sich einig sind: Tony Blair und Gerhard Schröder, November 1998.
Kann die Sozialdemokratie ohne Arbeiterinnen und Arbeiter funktionieren? Diese Frage wäre vor einigen Jahrzehnten noch undenkbar gewesen. Heute ist sie eine zentrale Herausforderung, mit der Parteien links der Mitte weltweit konfrontiert sind.
In den Vereinigten Staaten hat die Demokratische Partei, obwohl sie sich innenpolitisch etwas nach links bewegt hat, weniger Unterstützung aus der arbeitenden Klasse als je zuvor. Sowohl Umfragen des Center for Working-Class-Politics, die Berufsangaben verwenden, als auch CNN-Wählerbefragungen, die Bildung als Näherungswert für Klasse nutzen (ein ungenauer, aber dennoch hilfreicher Marker), zeigen eine zunehmende Distanz zwischen der Demokratischen Partei und der Arbeiterschaft. Im Jahr 2020 verlor Joe Biden im Segment der Wählerinnen und Wähler ohne College-Abschluss gegen Donald Trump mit 4 Prozentpunkten Unterschied. Bei der jüngsten Wahl lag Kamala in diesem Bereich sogar 14 Prozentpunkte hinter Trump.
Die Anziehungskraft der Partei hat sogar unter gewerkschaftlich organisierten Arbeiterinnen und Arbeitern gelitten. 1992 bevorzugten sie Bill Clinton mit 30 Punkten Vorsprung. Donald Trump lag 2020 nur noch 19 Punkte zurück und verringerte den Abstand bei der jüngsten Wahl auf acht Prozentpunkte.
Ähnliche Dynamiken sind in der gesamten entwickelten kapitalistischen Welt zu beobachten, beispielsweise in Deutschland, wo die Linkspartei 2019 in den östlichen Bundesländern noch fast ein Drittel der Stimmen erhielt, heute aber landesweit nicht einmal mehr die Fünf-Prozent-Hürde schafft. Auch die aktuell noch regierende SPD schneidet unter Arbeiterinnen und Arbeitern eher schlecht ab. Letztere scheinen sich zunehmend von den rechtsextremen Parolen der AfD angesprochen zu fühlen.
Auf diese Krise reagieren diejenigen, die sich nach wie vor einem traditionellen sozialdemokratischen Programm verpflichtet fühlen, seit Jahrzehnten immer gleich: das Problem wird heruntergespielt, es wird ein Ersatz für verlorene Wählerschichten aus der Arbeiterklasse gesucht oder der Versuch unternommen, die frühere Basis durch eine Rechtsverschiebung in gesellschaftspolitischen Fragen zurückzugewinnen. Bisher hat sich keine dieser »Lösungen« als zufriedenstellend erwiesen.
Um die Entfremdung der sozialdemokratischen Parteien von der Arbeiterklasse zu verstehen, müssen wir zu den Ursprüngen dieser Parteien zurückgehen: Im Zuge des Entstehens einer Massenarbeiterschaft im 19. Jahrhundert forderten diese Arbeiterinnen und Arbeiter eine politisch-wirtschaftliche Vertretung. Da die Kapitalisten bereits die politische und wirtschaftliche Macht innehatten, brauchte die Arbeiterschaft Organisationen, die ihre kollektiven Interessen vertraten. Sozialdemokratische Parteien wurden zum politischen Ausdruck dieser Interessen der Arbeiterklasse in der Gesellschaft im Allgemeinen; die Gewerkschaften kämpften darüber hinaus am Arbeitsplatz für sie. Es ist irrelevant, ob oder inwiefern diese Institutionen wirklich effektive Vertreter waren oder ob sie auch Bäuerinnen, Handwerker und andere Personen umfassten, die kaum als Teil der klassischen Industrie-Arbeiterklasse betrachtet werden können: Sie waren untrennbar mit ihrer sozialen Kernbasis verbunden.
»In Städten wie Manchester oder Turin lebten die Leute in dicht besiedelten Vierteln und arbeiteten in kapitalistisch geführten Fabriken. Das führte zu Gemeinsamkeiten. Es überrascht nicht, dass diese Menschen hauptsächlich für linke Parteien stimmten.«
Eine linke Politik, die auf diesen Arbeiterparteien und Gewerkschaften aufbaute, war anderthalb Jahrhunderte lang die Norm. Diese Politik stellte jedoch keineswegs eine einheitliche Bewegung dar. Brüche und Spaltungen – zwischen Sozialdemokratie und Anarchismus vor den Weltkriegen, zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus in der Nachkriegszeit – waren keine Seltenheit. Doch auch im innerlinken Wettbewerb ging es immer darum, die Loyalität derselben Menschen für die jeweilige Gruppe zu gewinnen.
In Städten wie Manchester oder Turin lebten die Leute in dicht besiedelten Vierteln und arbeiteten in kapitalistisch geführten Fabriken. Das führte nicht immer zu starken Solidaritätsbanden, aber zumindest zu (erzwungenen) Gemeinsamkeiten. Es überrascht nicht, dass diese Menschen hauptsächlich für linke Parteien stimmten. Revolutionäre Kräfte sahen ihre Aufgabe indes darin, die Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich für einen langsamen Weg zum Sozialismus aussprachen, davon zu überzeugen, dass ein schnellerer Weg nötig sei.
Das war ein unglaublich einfacher Ausgangspunkt im Vergleich zu heute, wo die Arbeiterklasse fragmentierter denn je ist und auch offenbar weniger von einer egalitären Politik angesprochen wird. William Morris schrieb im Jahr 1885, die Arbeiter seien sich zwar bewusst, dass sie eine Klasse sind, die Sozialisten müssten sie aber davon überzeugen, dass »sie die Gesellschaft werden sollten«, also eine Kraft, die nicht nur in der Wirtschaft existiert, sondern die diese Wirtschaft in Zukunft kontrollieren könnte. Heutzutage haben Sozialisten schon Probleme damit, den Klassenaspekt überzeugend zu vermitteln.
Wie ist es dazu gekommen? Vor knapp einem halben Jahrhundert fragte sich der britische Historiker Eric Hobsbawm, ob »der Vormarsch der Arbeiterbewegung« zu Ende sei. Der französische Theoretiker André Gorz erklärte seinerseits, die Arbeiterklasse als sozialer Akteur sei tot. Angesichts der heutigen Ausmaße der Klassen-Entfremdung scheinen diese früheren Feststellungen einerseits prophetisch, andererseits aber auch verfrüht gewesen zu sein.
Die von Hobsbawm und Gorz beobachteten beginnenden Verschiebungen hatten wirtschaftliche und soziologische Wurzeln. Die Errungenschaften der Sozialdemokratie der Nachkriegszeit (und die ihres verkümmerten Pendants, dem amerikanischen New Deal) basierten auf einer wirtschaftlichen Expansion, die sowohl der Arbeiterschaft als auch dem Kapital zugutekam. Als sich das Wachstum in den 1970er Jahren verlangsamte, schienen die Forderungen der Arbeiterinnen und Arbeiter (die die Kapitalisten zuvor noch erfüllt hatten, um den sozialen Frieden zu wahren) ökonomisch nicht mehr tragbar zu sein. In dieser neuen Situation hatten die bereits schwächelnden Gewerkschaften und Parteien den Arbeiterinnen und Arbeitern im Gegenzug für deren Unterstützung immer weniger zu bieten.
Gleichzeitig änderte sich die Arbeiterklasse selbst rapide: Automatisierung und globaler Wettbewerb führten zu einer Verlagerung von klassisch-fordistischer Beschäftigung in der Industrie hin zu verstärkter Arbeit in Dienstleistungsbranchen. Gleichzeitig diversifizierte die Immigration die Arbeiterklasse ethnisch.
»Spätere Sozialdemokraten wie Gerhard Schröder in Deutschland oder Tony Blairs New Labour zogen ihre Schlüsse daraus: Als ihre Zeit kam, versuchten sie, Umverteilungsmaßnahmen nur noch im Einklang mit der neuen neoliberalen ökonomischen Orthodoxie durchzusetzen.«
Die Arbeiterklasse war nie eine starre Einheit, sondern vielmehr eine Gruppe von Menschen, die von Löhnen aus Jobs abhängig war, die von einem kapitalistischen System in einem ständigen Zustand des Wandels geschaffen wurden. Die 1970er und 80er Jahre waren allerdings eine Zeit besonders raschen Wandels. Was in dieser Zeit wirklich bahnbrechend war, war die überraschende Reaktion der traditionell von der Arbeiterklasse unterstützten Parteien.
Sozialdemokratische Gruppierungen begegneten den kapitalistischen Wirtschaftskrisen jener Tage, indem sie auf Kosten ihrer eigenen Basis nach einer Lösung suchten. Ihr Kurs wurde letztlich durch die weithin bekannte Tatsache bestimmt, dass das Wirtschaftswachstum im Kapitalismus auf der Überzeugung der Kapitalisten beruhe, gewinnbringend investieren zu können. Die Arbeiterklasse existiert demnach nur aufgrund privater Unternehmen, und die Arbeiter waren sowohl in einen unendlichen Klassenkonflikt mit ihren Bossen verstrickt als auch in einen Zustand der Abhängigkeit von ihnen. Darüber hinaus waren die umverteilenden Regierungen, die sie an die Macht gewählt hatten, auf Steuern angewiesen, um sich selbst zu erhalten. Wie sollte man reagieren, wenn die Kapitalisten nun strukturellen Wandel in der Gesellschaft forderten, bevor sie wieder investieren würden?
Zunächst wurden die Mitte-Links-Parteien von der Stagflationskrise überrascht. In dem Glauben, sie hätten Konjunkturzyklen durch staatliche Intervention abgeschafft, vergaßen die alten Parteien der marxistischen Zweiten Internationale einen zentralen marxistischen Grundsatz: Dass die Widersprüche des Kapitalismus und seine Tendenz zur Krise nicht innerhalb des Systems gelöst werden können. Da sich die ökonomischen Schwierigkeiten als mehr als nur ein vorübergehender Effekt des Ölschocks von 1973 herausstellten, waren die Sozialdemokraten auf dem falschen Fuß erwischt worden. Ohne den Willen, nach linken Alternativen zu suchen – wie etwa den Arbeitern durch Lohnempfängerfonds mehr Macht über Investitionen zu verschaffen –, akzeptierten sie die neoliberale Lösung.
Die Neoliberalen hatten ihrerseits argumentiert, dass der keynesianische Kapitalismus bis zu einem gewissen Punkt funktioniere, aber nun einmal feste Grenzen habe. Geldpolitische Anreize, die über diese Grenzen hinausgingen, würden zu Inflation ohne Wachstum führen, wie Mitte der 1970er Jahre geschehen. Um das Wachstum wieder anzukurbeln, dürfe man daher nicht mehr Geld ausgeben, um die Nachfrage zu stimulieren, sondern müsse vielmehr den Wohlfahrtsstaat zurückfahren und die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften einschränken, da diese geradezu inflationäre Lohnerhöhungen forderten (um die real existierende Inflation auszugleichen). Kurz gesagt: Um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, müsse die Arbeiterklasse Abstriche machen. Nachdem sie vergeblich versucht hatten, sich aus der Krise heraus zu verschulden, stimmten die sozialdemokratischen Kräfte letztendlich voll und ganz dem Vorwurf zu, die Sozialdemokratie selbst sei die Wurzel der Wirtschaftskrise.
In Westeuropa vollzog sich diese Kehrtwende am dramatischsten in Frankreich. Die sozialistische Regierung von François Mitterrand war in den 1980er Jahren mit Unterstützung der Kommunisten und mit radikalen Plänen an die Macht gekommen. »Du kannst ein Verwalter der kapitalistischen Gesellschaft sein oder der Gründer einer sozialistischen Gesellschaft«, sagte Mitterrand 1971 auf einer Pressekonferenz. »Wir wollen letzteres sein.« Als Frankreichs erste linke Regierung seit Jahrzehnten 1981 ihr Amt antrat, litt das Land jedoch bereits an Arbeitslosigkeit, wirtschaftlicher Stagnation und internationalem Gegenwind. Nun sollte eine keynesianische Lösung her: Mitterrands »110 Vorschläge für Frankreich« beinhalteten ein umfangreiches öffentliches Bauprogramm, erweiterte Gewerkschaftsrechte und Mitbestimmungsmaßnahmen, höhere Mindestlöhne und Renten sowie eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit. 1982 stellte die Regierung einige wichtige Industriekonzerne und fast vierzig Banken unter staatliche Kontrolle, um Arbeitsplätze zu erhalten und die wirtschaftliche Umstrukturierung zu beschleunigen.
Das Ergebnis war eine massive Kapitalflucht und sich verschärfende ökonomische Schwierigkeiten. Vergeblich versprach Mitterrand der Wirtschaftselite, dass er kein »revolutionärer Marxist-Leninist« sei und sein Weg der einzige, um »den Klassenkampf zu beenden«. Letztendlich überzeugte er sie nicht nur, indem er sein Programm stoppte, sondern auch, indem er sich der Austeritätspolitik zuwandte. Spätere Sozialdemokraten wie Gerhard Schröder in Deutschland oder Tony Blairs New Labour zogen ihre Schlüsse daraus: Als ihre Zeit kam, versuchten sie (im besten Fall), Umverteilungsmaßnahmen nur noch im Einklang mit der neuen neoliberalen ökonomischen Orthodoxie durchzusetzen.
In den Vereinigten Staaten, wo der Einsatz der Demokratischen Partei für die Arbeiterklasse schon immer zweifelhaft war, zeigten sich ähnliche Konsequenzen. Jimmy Carter zog 1977 mit einem von der Arbeiterschaft unterstützten Programm ins Weiße Haus ein. Er hatte im Wahlkampf versprochen, sich auf Ausgaben für die Infrastruktur, das Ziel der Vollbeschäftigung und einen Ausbau des US-amerikanischen Wohlfahrtsstaates zu konzentrieren. Doch schon ein Jahr später – alarmiert durch steigende Verbraucherpreise – überdachte er seine Pläne und schlug stattdessen einen »schlanken und straffen« Haushalt vor, um die Ausgaben niedrig zu halten.
»Die Reichen haben ihre traditionelle Treue zu rechten und konservativen Parteien beibehalten, während sich die Wählergruppen der sozialdemokratischen Parteien verändert haben: die einstigen Arbeiterparteien wurden zu Parteien der Gebildeten.«
Die Inflation stieg weiter an und erreichte 1979 zweistellige Werte, sodass bald eine noch drastischere Maßnahme ergriffen wurde: Unter Paul Volcker schrumpfte die Federal Reserve die verfügbare Geldmenge, indem sie die Zinssätze in die Höhe schnellen ließ. Die Arbeitslosigkeit erreichte ein Niveau wie seit der Great Depression nicht mehr. Carter verband Volckers Schocktherapie mit einer Reduzierung der Regulierungen aus New-Deal-Zeiten, insbesondere im Finanzsektor. Während der Präsident im Fernsehen über die moralische Verfassung Amerikas sprach, verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter, die ihn gewählt hatten. Eine Welle der Deindustrialisierung traf die Produktionsbasis der USA, ließ das Handelsdefizit in die Höhe schnellen und beschleunigte den Verfall der Städte. Als es Mitte der 1980er Jahre schließlich zu einer zögerlichen Erholung kam, war bereits Ronald Reagan an der Macht und konnte die Lorbeeren dafür einheimsen.
Wie die Sozialdemokratie in Europa machte die Demokratische Partei in den USA ihre eigene Anhängerschaft dafür verantwortlich, das Wachstum wieder in Schwung zu bringen. Was darauf folgte, war noch schlimmer. Trotz der schmerzlichen Erfahrungen in den späten 1970er und 80er Jahren konnte Bill Clinton 1992 mit der Unterstützung eines Großteils der alten New-Deal-Vertreter das Präsidentenamt übernehmen. An der Macht verfolgte er jedoch einen neuen, von beiden großen Parteien mitgetragenen Konsens über Freihandel und die »Abschaffung des Wohlfahrtsstaates, wie wir ihn kennen«. Clinton unternahm wenig, um den Verlust von Arbeitsplätzen in der Industrie zu verhindern. Er umwarb vor allem die Mittelschicht aus den Vororten und »Wissensarbeiter« als Ersatz für die verlorenen Wählerschichten seiner Partei. Darüber hinaus fand er neue Quellen kapitalistischer Unterstützung im Bereich Big Tech (den sogenannten »Atari-Demokraten«) und im Finanzwesen.
Die Demokraten entwickelten sich von der Partei der Gerechtigkeit und Stabilität zur Partei der Leistungsgesellschaft. Diese Wandlung wurde in Senator Chuck Schumers berühmt-berüchtigtem Kommentar am Vorabend der Wahl 2016 deutlich: »Für jeden ehemals demokratisch wählenden Arbeiter, den wir in West-Pennsylvania verlieren, gewinnen wir zwei gemäßigte Republikaner in den Vororten der Großstadt Philadelphia [für die Demokraten] hinzu. Das Gleiche gilt für Ohio, Illinois und Wisconsin.« Ohne eine Wirtschaftsvision in der Größenordnung des New Deal, bei der die gesamte Arbeiterklasse im Mittelpunkt steht, konnten die Demokraten nur noch in Sachen Repräsentation, Gleichstellung und Bürgerrechte als progressiv auftreten. Die entsprechenden Appelle hatten jedoch für niemanden etwas wirklich materiell Greifbares zu bieten – insbesondere nicht für die weißen Männer, die schon 2016 in Scharen zu Trump strömten.
Die Sozialdemokratie – und in unterschiedlichem Maße ihre gemäßigt linken Kollegen – trat zunächst für die Interessen der Arbeiterklasse gegen das Kapital ein, reagierte aber schlussendlich auf die Widersprüche des Kapitalismus, indem sie die Interessen des Kapitals über die der Arbeiterschaft stellte. Angesichts der asymmetrischen Abhängigkeit der Arbeit vom Kapital war diese Reaktion in wirtschaftlicher Hinsicht rational. Eine der politischen Folgen war aber der massenhafte Austritt von Arbeiterinnen und Arbeitern aus linken Parteien.
In dem von den Ökonomen Amory Gethin, Clara Martínez-Toledano und Thomas Piketty herausgegebenen Buch Political Cleavages and Social Inequalities wird aufgezeigt, dass zwischen 1950 und 1959 in westlichen Demokratien durchschnittlich 31 Prozent mehr Angehörige der Arbeiterklasse linke Parteien wählten als Wähler anderer Klassen. Im Jahr 2020 betrug diese Differenz nur noch 8 Prozent. Wichtig ist dabei, dass die Reichen ihre traditionelle Treue zu rechten und konservativen Parteien beibehalten haben, während sich im Zuge der sozialliberalen Wende die Wählergruppen der sozialdemokratischen Parteien verändert haben: die einstigen Arbeiterparteien wurden zu Parteien der Gebildeten.
»Da für immer mehr Jobs immer höhere Qualifikationen erforderlich sind, ist die Arbeiterklasse gebildeter geworden. Sie ist auch diverser geworden. Daher kam man zu dem Schluss: Anstatt linke Politik an ein universelles Thema zu knüpfen, sollten wir die Arbeiterschaft als eine wichtige Interessengruppe unter vielen betrachten.«
Einige Vertreter der heutigen Mitte-Links-Parteien und der Linken freuen sich über diese Veränderungen. Schumers oben genannte Äußerung war vielleicht das extremste Beispiel für diese Tendenz, aber sie ist sogar in der heutigen radikalen Linken präsent. Die Arbeiterklasse selbst habe sich verändert, stellen linke Aktivisten und Politikerinnen zu Recht fest. Da für immer mehr Jobs immer höhere Qualifikationen erforderlich sind, ist die Arbeiterklasse insgesamt gebildeter geworden. Sie ist auch diverser geworden. Daher kam man zu dem Schluss: Anstatt linke Politik an ein universelles Thema zu knüpfen, sollten wir die Arbeiterschaft als eine wichtige Interessengruppe unter vielen betrachten, ebenso wie People of Color, Umweltschützer, Arme und so weiter. Eine solche breite Bewegung aus diversen Gruppen mag anders aussehen als die klassische Arbeiterbewegung, die die sozialdemokratischen Parteien einst wählte, aber sie werde sich als ebenso fähig erweisen, für Umverteilung zu sorgen, so die entsprechenden Politikerinnen und Aktivisten.
Obwohl es richtig ist, einen bestimmten Moment in der Geschichte der Arbeiterklasse nicht zu überbewerten, ignoriert diese Strömung sowohl das Ausmaß, in dem die einstige fordistische Stabilität das Ergebnis hart erkämpfter politischer Siege der Linken war, als auch die Tatsache, dass der Aufstieg des »Prekariats« selbst mit Niederlagen der Sozialdemokraten und Gewerkschaften zusammenhängt. Anstatt zu versuchen, die soziale Basis der Linken wiederherzustellen, versuchen diese Personen, eine neue zu finden – diesmal jedoch in Form von Akteuren, die strategisch weniger gut positioniert sind als die klassische Arbeiterschaft mit ihrer Position an den wichtigen Schaltstellen von Warenproduktion und -austausch.
Eine Koalition, die hauptsächlich auf Ideologie aufbaut, ist immer schwächer als eine, die sowohl auf Ideologie als auch auf gemeinsamen materiellen Interessen basiert. Diese Tatsache wird Mitte-Links-Parteien stets vor neue Dilemmata stellen, wenn sie an die Macht kommen. Beispielsweise stellt sich die Frage: Wird es möglich sein, den Wohlfahrtsstaat auszubauen, ohne zusätzliche Steuereinnahmen von den gut ausgebildeten Fachkräften zu verlangen, die heute nicht aus materiellen, sondern aus sozialen und kulturellen Gründen gegen rechts stimmen?
Dieser jüngste linke Politikansatz spiegelt den wider, den einst New Labour in Großbritannien verfolgte. Nach der Niederlage von Labour bei den Parlamentswahlen 1992 veröffentlichte die Fabian Society die Broschüre Southern Discomfort, in der sie eine Neuausrichtung von Labour auf die Fachkräfte im Süden Englands forderte. Die Schlussfolgerungen der Broschüre, in der vor allem die Schlagworte »Chancen«, »Individualismus« und »finanzielle Einschränkungen« betont wurden, wurden von Tony Blair in seinem erfolgreichen Wahlkampf 1997 aufgegriffen. Blairs New Labour war zumindest zum Teil ein Projekt, um Labour von einer sozialdemokratischen Partei der Arbeiterklasse in den vermeintlichen »politischen Flügel des britischen Volkes« zu verwandeln – jung, weltoffen und dynamisch. Die meisten heutigen Gegner des Blairismus unterscheiden sich von diesem Ansatz nicht sonderlich.
Zwei weitere Reaktionen auf die Klassen-Entfremdung sind ebenfalls unbefriedigend. Eine besteht darin, zu leugnen, dass sie überhaupt stattfindet. Michael Podhorzer, ehemaliger Vorsitzender des US-amerikanischen Gewerkschaftsbunds AFL-CIO, argumentiert beispielsweise, dass Veränderungen im Wahlverhalten hauptsächlich auf unterschiedliche regionale Trends zurückzuführen sind: In Staaten, die bereits republikanisch waren, seien die Arbeiter weiter nach rechts gerückt. Doch wie Jared Abbott in einer gründlichen Überprüfung der Daten entgegnet: »Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterklasse wählen in blauen Staaten tatsächlich eher demokratisch als in roten oder violetten Staaten, aber sie wenden sich in allen parteipolitischen Kontexten tendenziell von den Demokraten ab.«
Eine weitere Reaktion der sozialdemokratischen Kräfte bestand hingegen darin, liberale Werte aus ihrer Mitte-Links-Politik zu streichen, um den ihrer Meinung nach traditionell konservativen Ansichten der Arbeiterklasse zu entsprechen. Demnach hatten linke Parteien früher quasi instinktiv verstanden, wie sie ihre Wählerschaft ansprechen können, als sie noch stärker in der Arbeiterschaft verwurzelt waren. Als sie sich stärker bürokratisierten, sich von dieser Basis entfernten und ihr Wählerblock sich mehr zur Mittelschicht hin orientierte, versuchten sie, Unterstützung zu gewinnen, indem sie in kulturellen und sozialen Fragen offenbar zu weit nach links rückten. Das deutsche BSW ist ein gutes Beispiel für diese Analyse: Die Partei bietet eine weitgehend traditionell linke Wirtschaftspolitik an, tendiert bei Themen wie Migration aber deutlich nach rechts.
»Dieses gesellschaftliche Klima hat der AfD Auftrieb gegeben, insbesondere im deindustrialisierten Osten Deutschlands. Das BSW bedient sich meistens nicht der ekelerregenden Rhetorik der Rechten beim Thema Einwanderung, doch auch Wagenknecht betont, es gebe keinen Platz mehr für Asylsuchende.
Die nationale Debatte in Deutschland fällt aktuell mit einem Verlust von Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe zusammen. Die Bundesrepublik war lange Zeit dem Abbau von Industriearbeitsplätzen, den andere entwickelte kapitalistische Länder erlebt haben, entgangen. Im vergangenen Jahr ist die Beschäftigung in der wichtigen Automobilbranche aber um 6,5 Prozent zurückgegangen, und 60 Prozent der Automobilzulieferer planen in den kommenden fünf Jahren zusätzliche Kürzungen an ihren deutschen Standorten. Dasselbe gilt für andere Industriebereiche. Mischkonzerne wie Thyssenkrupp und BASF beginnen bereits mit Kürzungen. Die rasche Deindustrialisierung und der Übergang zu einer schlechter bezahlten Dienstleistungswirtschaft fallen darüber hinaus mit dem aktuellen Wachstum einer im Ausland geborenen Bevölkerung zusammen, die Sozialleistungen bezieht: Von den 750.000 ukrainischen Flüchtlingen im erwerbsfähigen Alter, die in Deutschland leben, hat beispielsweise nur ein Viertel Arbeit gefunden (was etwas mehr ist als der Anteil derjenigen, die Arbeitslosenunterstützung erhalten).
Dieses gesellschaftliche Klima hat der AfD Auftrieb gegeben, insbesondere im deindustrialisierten Osten Deutschlands. Das BSW bedient sich meistens nicht der ekelerregenden Rhetorik der Rechten beim Thema Einwanderung; Wagenknecht selbst betont regelmäßig, sie lehne jeglichen Rassismus ab. Dennoch betont auch sie bei ihrem Versuch, die nach rechts gerückten Arbeiter für sich zu gewinnen, Deutschland sei überfordert und es gebe schlichtweg keinen Platz mehr für Asylsuchende. Außerdem beklagt sie die Existenz von »Parallelgesellschaften« in von Muslimen bewohnten Stadtvierteln. Solche Narrative tragen dazu bei, dass das Thema Einwanderung als vermeintlich kulturelles Problem in der deutschen Politik immer stärker in den Vordergrund tritt – stärker in jedem Fall als linke ökonomische Antworten auf die Bedenken der Arbeiterklasse in Bezug auf Einwanderung. Dieser Wandel wird letztlich der radikalen Rechten zugutekommen.
Das BSW beschäftigt sich zu Recht damit, wie stark beziehungsweise wie schwach linke Parteien heute in der Klasse verwurzelt sind. Ihre Vorstellung von Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse auf Grundlage der nationalen Herkunft spiegelt aber in gewisser Weise die links- und neoliberale Rhetorik wider, der zufolge die Interessen von Frauen oder Minderheiten denen der vielzitierten alten weißen Männer entgegenstellt werden. Beide Ansätze weichen von der traditionellen sozialistischen Sichtweise ab, dass die Spaltung zwischen Kapital und Arbeit verläuft.
Wie geht es nun, in Reaktion auf die Klassen-Entfremdung in der Sozialdemokratie, weiter? Einige Teile Europas bieten eine vielversprechendere Alternative – eine, die aus sozialistischer Sicht orthodoxer ist und sich auch bei Wahlen als erfolgreich erwiesen hat. Die Arbeiterpartei Belgiens (PTB-PVDA) galt einst als sektiererische Kraft aus der kommunistischen Linken, hat sich aber seit 2008 zu einer Volkspartei entwickelt, die die Politik des Landes maßgeblich mitgestaltet. Obwohl sie ihren maoistischen Ballast schon vor langer Zeit abgeworfen hat, scheint ihr Organisationsansatz immer noch einem Handbuch aus einer vergangenen Ära zu entstammen. Die Partei konzentriert sich stark auf den Aufbau von Basisstrukturen in Arbeitervierteln, bietet soziale Dienstleistungen an und hat Arbeiterinnen und Arbeiter an die Spitze ihrer Wahllisten gesetzt.
Dieser Ansatz war von Erfolg gekrönt, selbst außerhalb der Gebiete, in denen die Arbeiterpartei traditionell die größte Unterstützung genießt, wie in Wallonien. Bei einer Kommunalwahl im Oktober in Antwerpen sicherte sie sich 20 Prozent der Stimmen und lag damit nur knapp hinter der flämisch-nationalistischen NVA. Doch obwohl die Organisierung in und mit der PTB-PVDA die Linke als Oppositionskraft wieder aufgebaut und dazu beigetragen hat, eine sozialistische Ideologie mit einer echten gesellschaftlichen Basis zu verknüpfen, ist es ihr bisher nicht gelungen, in die Regierung zu kommen.
Dies ist einerseits Anlass zur Sorge: Ohne staatliche Macht kann kein dauerhafter politischer Einfluss garantiert werden, egal wie stark die belgische Linke sein mag. Andererseits lohnt es sich aber auch, die Nachteile einer Regierungsbeteiligung »um jeden Preis« zu benennen.
Wenn die Bedingungen für ein linkes Programm nicht günstig sind, kann die Sozialdemokratie ihren Interessen am besten dienen, indem sie von außen Druck auf kapitalistisch geführte Regierungen ausübt. Tatsächlich wäre es vor einem halben Jahrhundert für die Linke vielleicht besser gewesen, in die Opposition zurückzukehren, als strukturelle Anpassungen herbeizuführen und/oder mitzutragen, die ihrer Basis schaden – selbst, wenn die rechtskonservative Austerität das Risiko noch größerer sozialer Verwerfungen birgt. Auch heute könnte es besser sein, eine Wahl zu verlieren, bei der die Wählerschaft sich wirklich durch ein Programm vertreten fühlt, als lediglich dank der Wählerinnen und Wähler zu gewinnen, die gegen rechte Sozialpolitik protestwählen.
Letztendlich wird die Linke nicht genug Macht gewinnen, um die Gesellschaft zu verändern, wenn sie nicht die alltäglichen Sorgen in den Vordergrund stellt und sich in den Wahlkreisen verankern kann, die am meisten von einer Umverteilung der Ressourcen profitieren würden. Das bedeutet, sich in vielerlei Hinsicht zur Solidarität zu verpflichten, aber auch anzuerkennen, dass ohne die Unterstützung von Menschen, die alle denkbaren widersprüchlichen (sogar reaktionären) Ansichten haben könnten, ein Sieg schlicht nicht möglich ist. Ohne diese grundlegende Erkenntnis werden die neuen Sozialdemokraten genauso klingen wie die alten kommunistischen Bürokraten in Bertolt Brechts Gedicht Die Lösung: »Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?«