03. Juli 2025
Mark Schieritz von der »Zeit« glaubt, nur eine gemäßigte Politik löse die Probleme unserer Gegenwart. Wer Radikaleres fordert, bediene bloß die Sensationslust. Das ist politische Realitätsverweigerung.
Die blinde Verteidigung des Status quo führt zu politischer Leere.
Wittgenstein sagte einmal den Satz, die Lösung eines Problems merkt man am Verschwinden des Problems. Liest man Mark Schieritz' Kolumne in der Zeit, hat man den Eindruck, das ist noch nicht die ganze Wahrheit: Es scheint auch Probleme zu geben, die sind zwar noch nicht verschwunden, aber theoretisch trotzdem längst gelöst. Die allgemeine Legitimationskrise der westlichen Ordnung ist für Schieritz ein solcher Fall: Die global eingeflochtene, liberale Demokratie verliere zwar rapide an Zustimmung, aber das sei kein Grund zur fundamentalen Infragestellung des Status quo. Denn für alle großen Menschheitsprobleme lägen doch konventionelle Lösungen bereit. Für jeden Nagel, soll das heißen, haben wir längst einen passenden Hammer.
Aber ist das so? Welche konventionelle Lösung existiert zum Beispiel für das Problem des Klimawandels? Täglich werden wir mit Warnungen bombardiert, dass die Erderwärmung an Fahrt aufnimmt – mit verheerenden Konsequenzen: Ernten werden durch extreme Wetterverhältnisse ruiniert oder ganze Ortschaften zerstört und unbewohnbar gemacht. Vielleicht hätte vor zwanzig Jahren die Einführung eines langsam steigenden CO2-Preises gereicht, um dem Problem Herr zu werden. Inzwischen ist der Handlungsdruck allerdings so groß, dass die Elektrifizierung unserer Lebensweise und ihre Anpassung an ein immer knapper werdendes CO2-Budget in so kurzer Zeit erfolgen muss, dass an einem spürbaren, ruckeligen Wandel des Status quo kein Weg vorbeiführt. Zudem muss man sich langsam fragen, wie die westliche Ordnung mit den inzwischen unvermeidlich eintretenden Klimawandelfolgen umgehen wird. Kurz: Wer organisiert das Chaos in der Welt, wenn der Meeresspiegel steigt und etwa immer mehr Klimaflüchtlinge in den Norden drängen? Welche konventionelle Lösung gibt es für dieses Problem?
Schieritz ist überzeugt davon, dass sich mit ein bisschen Steuerpolitik, Sozialpolitik und Konjunkturpolitik die Malaise westlicher Gesellschaften beseitigen lässt – von der Wohnungs- bis zur Migrationsfrage. Aber könnte es nicht sein, dass eine in dieser Weise an konventionellen Lösungen orientierte Politik auch nur konventionelle Probleme sehen will? Also, um im Bild zu bleiben, nur solche Nägel anerkennt, für die sie einen Hammer hat?
»Womöglich hat die Freisetzung des internationalen Kapitalverkehrs den Spielraum selbst für sozialdemokratische Normalpolitik so außerordentlich eingeengt, dass die Möglichkeitsbedingungen für ›konventionelle Politik‹ bereits verschwunden sind.«
Man nehme etwa die soziale Frage. Für Schieritz (und darin ist er sich ganz einig mit den Parteien der »Mitte«) reichen die üblichen Wege der steuerlichen und sozialstaatlichen Umverteilung, um an die Wurzel des Problems zu gelangen. Schon hier könnte man fragen, wieso in liberalen Demokratien seit gut zwanzig Jahren eher ein anderer Weg bestritten wird, Steuern also für Unternehmen und Millionäre eher gesenkt werden und der Sozialstaat immer wieder aufgefordert wird, sich zu verschlanken. Womöglich hat die Freisetzung des internationalen Kapitalverkehrs den Spielraum selbst für sozialdemokratische Normalpolitik so außerordentlich eingeengt, dass die Möglichkeitsbedingungen für »konventionelle Politik« bereits verschwunden sind.
Zudem muss man sich inzwischen fragen, ob klassische Umverteilung eigentlich des Rätsels Lösung ist. Die deindustrialisierten Regionen Amerikas wollen nicht etwas mehr Transferzahlungen, sie wollen Jobs – und zwar gut bezahlte Jobs. In der Politischen Philosophie wird über dieses Problem schon länger anhand der Unterscheidung »Redistribution« und »Predistribution« diskutiert: Erstere verteilt die Ergebnisse des Marktwettbewerbs nachträglich um, zweitere will, dass der Markt von vornherein gerechter strukturiert ist. Es ist den meisten Menschen eben nicht egal, auf welchem Weg sie ihre Subsistenz erstreiten – ob in Abhängigkeit von der Sozialbürokratie oder dank eigener Arbeit, die zu einem sicheren Lebenswandel führt und eine Perspektive auf Eigentumserwerb eröffnet. Haben wir wirklich alle Mittel, um politisch auf die Primärverteilung von Jobs, Löhnen und Vermögen einzuwirken, selbst in Regionen, die veröden und verelenden?
Die Status-quo-Orientierung bei der Demokratieverteidigung, die Schieritz vorschwebt, führt in eine Sackgasse. Das gilt auch, wenn man einen Blick auf die Weltbühne wirft. Das deutsche Wachstumsmodell basierte bisher auf einer starken Exportindustrie, die in großem Ausmaß von den Chancen einer beschleunigten Globalisierung profitierte. Jetzt, da die Welt ihre Schranken wieder herunterklappt und China in manchen industriellen Schlüsseltechnologien zum Weltmarktführer geworden ist, scheint es damit vorbei zu sein. Das System, mit dem die Bundesrepublik bisher Wachstum, Steuereinnahmen und Jobs garantierte, greift nicht mehr. Man fragt sich, ob das Ausmaß dieses Wandels schon überall angekommen ist. »Konventionell« kann man jedenfalls darauf sicher nicht reagieren.
Schieritz hat sicher Recht damit, dass es eine absurde Vorstellung ist, populistische Kräfte könnten diese unkonventionellen Probleme besser lösen als die sich in der Mitte verortenden Parteien. Ob die AfD wirklich ihre Probleme löst, scheint viele Wählerinnen und Wähler ohnehin nur zweitrangig zu interessieren. Es geht ihnen nicht um eine echte Alternative, sondern in erster Linie um die Verneinung des Bestehenden. »Some men just want to see the world burn«, könnte man aus einem berühmten Film zitieren.
»Die liberale Demokratie hat den Menschen Wohlstand und ein gutes Leben versprochen. Seit zwanzig Jahren scheint sie aber hauptsächlich damit befasst zu sein, zu erklären, warum wir den Gürtel enger schnallen müssen.«
Doch man kommt nicht schon als »Wutbürger« auf die Welt. Die Unzufriedenheit der Menschen muss aus den Verhältnissen selbst stammen. Zum Beispiel aus dem Umstand, dass Wohnen immer teurer wird und die Reallöhne seit Jahren für viele Schichten stagnieren; dass der Erwerb von Eigentum in immer weitere Ferne rückt; dass Industrien sterben und mit ihnen ganze Regionen; dass die Politik bei der Gestaltung des ökonomischen und sozialen Zusammenlebens immer wieder hilflos erscheint oder mit Rentenerhöhungen und unpopulären Klimaschutzmaßnahmen sogar noch einen obendrauf setzt. Die liberale Demokratie hat den Menschen Wohlstand und ein gutes Leben versprochen. Seit zwanzig Jahren scheint sie aber hauptsächlich damit befasst zu sein, zu erklären, warum wir den Gürtel enger schnallen müssen und uns höchstens kosmetische Korrekturen leisten können.
Die Zustimmung der Menschen zur liberalen Demokratie nimmt also ab, je weniger die liberale Demokratie ihre Grundversprechen einlösen kann. Hat man das eingesehen, ist die Hinwendung zu extremen Kräften deutlich weniger mysteriös, als Schieritz das in seiner Kolumne suggeriert. Dort, wo konventionelle Lösungen existieren, werden sie kaum angewandt oder im Modus der Alternativlosigkeit auf Übermorgen verschoben. Gegenüber Problemen, die unkonventionelle Lösungen verlangen könnten, verschließt man lieber gleich die Augen. Nach dem Motto: Einen Nagel darf es nur geben, wenn wir auch den passenden Hammer haben. Und so beraubt sich eine Mitte, die den Empfehlungen Schieritz‘ folgen würde, aller Mittel, im Aufstieg populistischer Kräfte mehr zu sehen, als ein im Grunde unverständliches Verlangen nach »großem Kino«.
Es ist ein hilfloses Unterfangen, den Status quo mit dem Argument zu verteidigen, die Populisten hätten selbst wenig zu bieten. Stattdessen gilt es, den virulenten Willen zur Verneinung aufzunehmen, zu verstehen – und in positive Reformen umzulenken. Die Antwort auf den Extremismus lautet also nicht, konventioneller zu werden, im Gegenteil: Wenn die Mitte überleben will, muss sie eine eigene Radikalität entwickeln, um die aufgetürmten Probleme an der Wurzel zu packen. Sich damit zufriedenzugeben, dass die Alternativen noch viel schlimmer sind, reicht nicht mehr aus. Es ist der Zeitpunkt gekommen, selbst wieder große Politik zu machen.
Otmar Tibes ist Gründer und Herausgeber vom Politik & Ökonomie Blog.
Oliver Weber ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Darmstadt. Er schreibt an einer Dissertation zur Geschichtsphilosophie des Liberalismus im 19. Jahrhundert.