31. Oktober 2024
Der Israel-Palästina-Konflikt hat die Linke zerrissen. Formelkompromisse werden nicht reichen, um sie wieder zu einen. Was wir brauchen, ist eine ehrliche Analyse, die der Faktenlage und den aktuellen Kräfteverhältnissen Rechnung trägt.
»Dennoch verliert man sich zu oft in der Unendlichkeit einer Vergangenheit, die sich nie wieder gut machen lässt. Eine Politik, die auf Konfliktlösung setzt, sollte lieber im Jetzt ansetzen.«
Ob der Antrag zum Thema Antisemitismus und Israel-Palästina, der auf dem Landesparteitag der Berliner Linken letzten Monat eingebracht wurde, eine geplante Provokation war, um den späteren Parteiaustritt mehrerer führender Mitglieder als ehrenhaft und prinzipientreu erscheinen zu lassen, wird möglicherweise nie geklärt werden. Dass die Antragsteller aus dem Reformer-Lager eine Diskussion über geringfügige Änderungsvorschläge abgelehnt und stattdessen den Antrag verärgert zurückgezogen haben, nur um sich kurz darauf öffentlichkeitswirksam über einen »Antisemitismus-Skandal« zu beklagen, zeigt jedoch, wie toxisch dieses Thema innerhalb linker Strukturen wirkt und wie es bewusst zu ihrer Schwächung instrumentalisiert wird.
Auch nach dem Weggang einiger prominenter Reformer wird dieses Thema die Linkspartei nicht loslassen. Daher lohnt es sich, die Auseinandersetzung um die kritisierten Passagen des Antrags genauer zu betrachten. Denn mehrere problematische Aspekte der Nahost-Debatte und linker Diskurse im Allgemeinen sind darin erkennbar: Einerseits ist da die Tendenz, in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Sichtweisen auf abstrakte und allerschlimmste Attribute zurückzugreifen. Andererseits werden tatsächliche Machtverhältnisse und Interessen in internationalen Konflikten zu Gunsten von kulturalistischen und ideologischen Erklärungsmustern ausgeblendet. Beide Aspekte vereinen sich im Wunsch der Antragsteller, »eliminatorischen Antisemitismus« als den ideologischen Antrieb für das Handeln von Hamas, Hizbullah oder dem iranischen Regime zu definieren.
Anstatt die gegenwärtige Situation im Nahen Osten mit eigenen historischen Begrifflichkeiten zu überstülpen, wäre ein analytischer Blick nötig, der die Wechselwirkungen aller Beteiligten in der aktuellen Eskalation sowie die frappierenden Ähnlichkeiten zwischen ihnen, trotz deutlich ungleichen Machtpositionen, berücksichtigt. Die daraus entstandene Erkenntnis könnte eine tatsächlich universalistische Positionierung ermöglichen und der Partei endlich die notwendige Handlungsfähigkeit in der Außenpolitik verleihen.
Zum Anfang stellt sich die Frage: Passt die Kategorie Antisemitismus überhaupt in diesem Zusammenhang? Und so prominent? Eine Aussage, die man oft von palästinensischen Rednerinnen und Rednern hört, lautet in etwa: »Wir sind keine Antisemiten. Wenn unser Land von Buddhisten oder Hinduisten besiedelt worden wäre, hätten wir sie genauso wie die Juden gehasst und bekämpft.« Diese hypothetische Aussage lässt sich schwer widerlegen. Man kann sie jedoch umdrehen, um den Rassismus im Konflikt zu thematisieren: Hätten die Zionisten, wie teilweise beabsichtigt, Uganda oder Teile Argentiniens und nicht Palästina besiedelt, hätten sie auch sicherlich nichts gegen palästinensische Araber gehabt.
Der europäische Zionismus war nachweislich von kolonial-rassistischen Annahmen über den Orient geprägt. Dennoch war die führende Motivation der jüdischen Zionisten (im klaren Gegensatz zu den christlichen Zionisten wie Balfour) nicht die Kolonisierung im Dienst einer europäischen Weltherrschaft, sondern die Suche nach einer nationalen Lösung für die damals in Europa grassierende »Judenfrage«. Ihr Rassismus drückte sich anfänglich nicht in einer bestimmten Feindschaft gegen die palästinensische Bevölkerung aus (die ebenfalls Juden einschloss), sondern in der Verweigerung, diese überhaupt als Menschen mit einer starken Verwurzelung im Land wahrzunehmen.
»Es ist daher nicht überraschend, dass Konzepte wie ›israelbezogener Antisemitismus‹ und ›antipalästinensischer Rassismus‹ sich so bildhaft ähneln. Beide dienen der Legitimierung der eigenen nationalen Narrative.«
Der daraus entstandene Konflikt formierte dennoch beide Nationalbewegungen und führte sehr wohl zur Übernahme von antijüdischen, beziehungsweise antiarabischen und islamfeindlichen Erklärungsmustern. Im Kampf um Land, Ressourcen und Macht haben beide Seiten auf verallgemeinernde Feindbilder zugegriffen, einige verstärkten und verfestigten sich und andere sind erst mit der Zeit entstanden. Wer Rassismus, einschließlich Antisemitismus, zum Hauptgrund dieses Konflikts erklärt, verkennt jedoch völlig die komplizierte Geschichte der Wechselbeziehungen zwischen den alten und neuen Anwohnern jenes Landes, von denen viele nicht aus Europa, sondern aus den umliegenden arabischen Ländern migriert oder geflüchtet sind.
In diesem Zusammenhang dient der Versuch, einen realen Interessenkonflikt primär mit einer vererbten Hassideologie oder Vorurteilstruktur zu erklären, vor allem dazu, den politischen Gegner als irrationalen und unumkehrbaren Akteur abzustempeln, der sich von uns gründlich unterscheidet. Dabei werden die Handlungen der eigenen Seite und die materiellen Bedingungen, die Hass begünstigen oder verursachen, als nebensächlich betrachtet, um die unwiderlegbare Ähnlichkeit aller Menschen in ihrer Verletzbarkeit, ihrem Gerechtigkeitssinn und ihrer Rachsucht ignorieren zu können. Im schlimmsten Fall rechtfertigen solche Vorwürfe die eigene Gewalt – denn gegen rassistische Kolonisten oder islamistische Judenhasser hilft ja bekanntlich nichts anderes.
Es ist daher nicht überraschend, dass neue Konzepte wie »israelbezogener Antisemitismus« und »antipalästinensischer Rassismus« sich so bildhaft ähneln. Denn beide dienen der Legitimierung der eigenen nationalen Narrative und Ansprüche im selben Territorium. So werden in der IHRA-Definition von Antisemitismus das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, die Anwendung doppelter Standards bei der Beurteilung Israels sowie Vergleiche zwischen der israelischen Politik und dem Nationalsozialismus oder der Vorwurf, Israel sei grundsätzlich rassistisch, als antisemitisch deklariert. All diesen Beispielen hält eine Definition des antipalästinensischen Rassismus den Spiegel vor.
Denn derzeit wird vor allem Palästinenserinnen und Palästinensern – nicht nur rhetorisch – das Recht auf Selbstbestimmung aberkannt. Ihre völkerrechtlich legitimen Angriffe gegen Besatzungssoldaten werden hierzulande, anders als im Fall der Ukraine, nicht als Widerstand gefeiert, sondern als Terrorismus kategorisiert. Zahlreiche Politiker in Israel und darüber hinaus vergleichen nahezu unaufhörlich Palästinenserinnen und Palästinenser mit Nazis und werfen gesamtpalästinensischen Protestbewegungen Antisemitismus vor. Einige Beispiele dafür finden sich auch in Äußerungen der Berliner Linken, die kürzlich die Partei verlassen haben.
Wie im Fall Rassismus vs. Antisemitismus, geschieht mit dem Vorwurf der Vernichtung ein ähnlicher Spiegelungsprozess. Das Konzept des »eliminatorischen Antisemitismus«, dass die ehemaligen Linken unbedingt im Antrag sehen wollten, wurde vom amerikanischen Historiker Daniel Goldhagen geprägt, um die Singularität des Holocaust als deutsches Spezifikum zu beschreiben. Damit meinte Goldhagen nicht nur die antisemitischen Intentionen der Deutschen, sondern die Praxis des Tötens und die breite gesellschaftliche Partizipation an einer staatlich organisierten Vernichtungskampagne – eine minutiös geplante, mörderische Suche nach Menschen jüdischer Herkunft, wo man sie nur finden konnte, um die Welt von diesem »Gegenvolk« zu bereinigen. Mit einem solchen Begriff die Aktionen und Rhetoriken des Iran oder der Hisbollah zu erklären, scheitert bereits daran, dass in Teheran die größte jüdische Gemeinde im Nahen Osten zuhause ist, die nicht viel mehr als Andere unter dem Mullah-Regime leidet. Die unterschiedlichen national-islamischen Ideologien dieser Gruppen und ihr Fokus auf einen Territorialkonflikt haben in der Tat mit rassisch-hygienischem Denken oder mit der Identifizierung der Jüdinnen und Juden als das globale Böse, wenig gemein.
»Zahlreiche Vertreter beider Seiten verfolgen eine Zukunftsvision, die die Vorherrschaft einer ethnischen Gruppe über die andere voraussetzt – mit dem entscheidenden Unterschied, dass diese Vorherrschaft für die jüdische Gruppe bereits Realität ist.«
Diesen analytisch schlicht falschen Nazi-Vergleich hätte man angesichts der systematischen Kriegsverbrechen gegen israelische Zivilisten durch die Hamas am 7. Oktober 2023 einfach als unbeholfene sprachliche Aufrüstung abtun können. Das aktuelle Sprechen über eliminatorische Ziele offenbart jedoch eine ganz andere Dimension. Denn es ist ausgerechnet der Staat Israel, gegen den in diesen Tagen vor dem höchsten Gericht der Welt der Vorwurf des Genozids verhandelt wird. Gleichzeitig werden am Internationalen Strafgerichtshof sowohl die mittlerweile getöteten Hamas-Führer als auch der israelische Premierminister und Verteidigungsminister des Verbrechens der Ausrottung beschuldigt.
In diesem extrem asymmetrischen Konflikt betrachten sowohl Israel als auch die Hamas die Bevölkerung der Gegenseite als ein legitimes Ziel. Denn zahlreiche Vertreter beider Seiten verfolgen eine Zukunftsvision, die die Vorherrschaft einer ethnischen Gruppe über die andere voraussetzt – mit dem entscheidenden Unterschied, dass diese Vorherrschaft für die jüdische Gruppe bereits Realität ist. Da beiden Seiten bewusst ist, dass die andere Gruppe eine solche Vorherrschaft langfristig nie akzeptieren würde, sind Massenvertreibung und sogar die Vernichtung der widerständigen Bevölkerung von dieser Vision untrennbar. Das wird deutlich, wenn man den bereits 2017 veröffentlichten »Entscheidungsplan« des heutigen Finanz- und Westbankministers Bezalel Smotrich oder Berichte über die 2021 in einer Hamas-Konferenz in Gaza diskutierte Strategie »Das letzte Versprechen« liest.
In den letzten Monaten taucht der Satz »Every accusation is a confession« – Jeder Vorwurf ist ein Geständnis – immer häufiger in Online-Diskussionen zum israelischen Vorgehen auf. Dabei geht es um Vorwürfe wie den Einsatz menschlicher Schutzschilde, Vergewaltigung als Kriegswaffe, die gezielte Tötung von Kindern, die Tarnung von Kombattanten als Ärzte oder Journalisten oder sogar das Feiern von Gewalttaten durch die Verteilung von Süßigkeiten. Vieles, was Israel und seine Unterstützer den Palästinensern vorwerfen – ob mit klarer Beweislage oder nicht –, scheint ein Äquivalent auf israelischer Seite zu haben. Vielleicht wäre es dennoch sinnvoll, den Satz um ein »auch« zu ergänzen. Denn nicht jeder Vorwurf ist grundlos, wie es der Satz suggeriert.
So auch bei dem Vorwurf, die andere Seite sei von eliminatorischen Absichten geleitet, den beide Seiten gegeneinander erheben können. Und zugleich rechtfertigt dieser Vorwurf im Umkehrschluss die genozidale Gewalt, die die eigene Seite verübt. Denn wie es im Talmud steht: »Wenn dich jemand töten will, komm’ ihm mit der Tötung zuvor.« So hat die Hamas deutlich gemacht, dass ihr Angriff am 7. Oktober auch als präventiver Gegenschlag zum »Entscheidungsplan« von Smotrich vorbereitet wurde. Solche Spiegelungsprozesse wahrzunehmen, die auch in der Leugnung der eigenen Verbrechen zum Ausdruck kommen, ist unerlässlich. Denn obwohl die Verhältnisse erschreckend ungleich sind, befeuern diese Dynamiken auf beiden Seiten die Fortsetzung des Konflikts.
In den Debatten über Israel-Palästina scheint die Vergangenheit oft Vorrang zu haben – sei es die Bibel, der Holocaust, koloniale Verträge oder die Nakba. Man kreist häufig um die Geschichte, wirft mit Jahreszahlen und historischen Ereignissen um sich, um daraus ein Recht im Heute abzuleiten. Und diese Vergangenheit wirkt bis heute nach: zahlreiche palästinensische Geflüchtete weltweit dürfen nicht zurückkehren, arabische Jüdinnen und Juden wurden ihrer Kultur entrissen, und die Traumata des Holocausts leben weiter bei den Nachfahren von Überlebenden. Dennoch verliert man sich viel zu oft in der Unendlichkeit einer Vergangenheit, die sich nie wieder gut machen lässt. Und dafür haben wir angesichts der täglichen Katastrophe vor unseren Augen einfach keine Zeit mehr.
Eine Politik, die auf Konfliktlösung setzt, sollte lieber im Jetzt ansetzen. Die Faktenlage und die Machtverhältnisse, könnten im Gegensatz zu den paradoxen Biegungen der Geschichte nicht eindeutiger sein: Heute leben zwischen Mittelmeer und Jordan über 14 Millionen Menschen – etwa die Hälfte davon sind jüdische Israelis, die andere Hälfte Palästinenserinnen und Palästinenser, mit jeweils unterschiedlichen Rechtsstatuten. Alle stehen unter der Herrschaft einer militärisch überlegenen Regionalmacht, deren rechtsextreme Regierung das Recht auf nationale Selbstbestimmung, vom Fluss bis zum Meer, ausschließlich Jüdinnen und Juden zuspricht.
»Eine linke Vision bedeutet, dass die Täter von heute nicht die Opfer von morgen sein dürfen. Es gibt sonst keinen Ausweg aus dieser eskalierenden Kriegslogik.«
Innerhalb der anerkannten Grenzen Israels werden palästinensische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in allen Lebensbereichen strukturell benachteiligt, sie werden von der Polizei der mörderischen Bandengewalt überlassen und zunehmend durch die rechtsextreme Regierung politisch verfolgt. Im völkerrechtswidrig besetzten Westjordanland war die Lage noch nie so katastrophal – die Bevölkerung lebt in großer Armut unter einer machtlosen und doch repressiven zivilen Selbstverwaltung und zwischen Siedlerangriffen, täglichen Militäreinsätzen und sogar Angriffen aus der Luft. Sogar der Internationale Gerichtshof spricht dort von einem Apartheid-System – nicht entlang rassisch-biologistischer, sondern entlang ethnisch-religiöser und geografischer Linien. Während ich diese Zeilen schreibe, findet in Gaza ein in der Geschichte des Konflikts beispielloser Massenmord statt. Noch nie war die Möglichkeit einer Massenvertreibung oder sogar Vernichtung der palästinensischen Bevölkerung, nicht nur in Gaza, so erschreckend greifbar. Und eine friedliche Lösung zwischen beiden Völkern – egal ob in zwei Staaten, in einer binationalen Konföderation oder einem gemeinsamen Staat – lag noch nie in so weiter Ferne.
In diesen Zeiten noch von einem »Konflikt« zu sprechen, wirkt beinahe unpassend. Dennoch haben der 7. Oktober und die anschließenden militärischen Auseinandersetzungen mit der Hisbollah und dem Iran auch einen brutalen Blick in eine mögliche, bislang unbekannte Zukunft eröffnet – eine Welt, in der Israel seinen Nachbarn oder der Bevölkerung, die in den besetzten Gebieten lebt, vielleicht nicht mehr so überlegen ist wie bislang. Und wer weiß, ob dieser Tag angesichts der gegenwärtigen geopolitischen Umbrüche und des schwindenden Einflusses des Westens wirklich so fern ist. Wie blutig und stark wird die Vergeltung für die heutigen Verbrechen in Gaza dann ausfallen? Und wohin wird das alles führen? So schwer es angesichts der verbrecherischen Taten des israelischen Militärs auch sein mag – die Frage nach der Zukunft der Israelis in dieser geteilten Heimat und ihr Recht auf ein Leben in Frieden und Freiheit bleibt ebenso sehr eine linke Angelegenheit wie das Recht der Palästinenserinnen und Palästinenser auf eben dieses. Denn eine linke Vision bedeutet, dass die Täter von heute nicht die Opfer von morgen sein dürfen. Es gibt sonst keinen Ausweg aus dieser eskalierenden Kriegslogik.
Was hat das alles mit der deutschen Debatte über den Nahen Osten zu tun und mit dem Versuch, eine gemeinsame politische Linie für eine zerstrittene Linke zu entwickeln? Eines scheint jedenfalls klar: Formelhafte Kompromisse zwischen den unterschiedlichen Fraktionen werden auf Dauer nicht ausreichen. Es geht nicht um ein Randthema, sondern um eine der zentralen Fragen unserer Zeit und um die dringende Notwendigkeit, den mit deutscher Unterstützung fortgesetzten Massenmord und die Gefahr eines globalen Kriegs zu stoppen.
Ein erster Schritt wäre, sich vom toxischen Antisemitismus-Diskurs in Deutschland zu verabschieden – insbesondere, wenn es darum geht, die Verhältnisse im Nahen Osten zu beschreiben. Eine Fixierung auf Ideologien der Ungleichwertigkeit als Erklärung für das Vorgehen der Beteiligten vor Ort, trübt den Blick und führt zwangsläufig zu einer blinden, identitären Parteinahme, und ein Weltbild in dem es vor allem ewige Opfer und ewige Täter gibt.
»Am wichtigsten wäre es, die aktuellen Zustände vor Ort öffentlich und unmissverständlich zu benennen und gegen die deutsche Komplizenschaft an den derzeit stattfindenden Verbrechen aktiv zu werden.«
Das bedeutet keineswegs, ausgrenzende nationalistische Äußerungen und Gewalttaten gutzuheißen. Es ist eine simple Tatsache, dass bestimmte Positionen verachtenswert sein können, ohne dass das zwangsläufig bedeutet, dass sie deswegen antisemitisch oder rassistisch sind. Ein Vokabular, das menschenverachtende, diskriminierende oder völkerrechtswidrige Positionen benennt und völkischem wie religiösem Nationalismus – egal von welcher Gruppe – eine klare Absage erteilt, könnte die Diskussion versachlichen, doppelte Standards vermeiden und einen gemeinsamen Horizont eröffnen.
Dass auf Demonstrationen gegen das Gemetzel in Gaza oder bei Aktionen für die Freilassung der israelischen Geiseln wiederholt militaristische und menschenverachtende Symbole und Rufe zu hören waren, sollte nicht zum Rückzug führen, sondern zu verstärkten solidarischen Interventionen anregen. Die Kundgebung am 18. Oktober vor dem Kanzleramt, die von einer breiten Koalition von Menschenrechtsorganisationen getragen wurde, könnte als Vorbild dienen. Aber auch hier gilt es, die Machtverhältnisse nicht aus dem Blick zu verlieren. Die massive Repression gegen palästinensische Demonstrierende, das Verbot legitimer Parolen und die faktischen Berufsverbote für Menschen, die zu einem friedlichen Boykott aufrufen, müssen als ernsthafte Gefährdung der Demokratie erkannt und verurteilt werden.
Eine unerschütterliche Verpflichtung zu den Grundsätzen der Menschenrechte und des Völkerrechts, einschließlich des Rechts aller Menschen in Israel-Palästina, sich sowohl individuell als auch kollektiv zu entfalten, sollte die Basis jeder Diskussion über mögliche Lösungsansätze sein. Forderungen nach einer Dekolonisierung im Stil Algeriens auf der einen Seite oder nach »Abmachungen«, die Israels Vorherrschaft im Land festigen, stehen dem klar entgegen. Die parteiliche Unterstützung für die Zwei-Staaten-Lösung, solange die Mehrheit der politischen Kräfte in Palästina diese auch befürworten, ist nachvollziehbar. Diskussionen über Alternativen dazu dürfen aber nicht mit Floskeln wie »Existenzrecht Israel« tabuisiert werden. Existenzrecht haben Menschen, keine Staaten.
Am wichtigsten wäre es, die aktuellen Zustände vor Ort öffentlich und unmissverständlich zu benennen und gegen die deutsche Komplizenschaft an den derzeit stattfindenden Verbrechen aktiv zu werden. Diese Aufklärung ist umso dringlicher angesichts des eklatanten Versagens deutscher Medien, die kaum in der Lage sind, ausgewogen über den Konflikt zu berichten. Es reicht nicht, wie Baerbock einfach zu sagen, man stehe hinter dem Völkerrecht. Zahlreiche Berichte von Menschenrechtsorganisationen und UNO-Institutionen belegen klar, dass Israel derzeit viele Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt. Angesichts des Schweigens und Wegsehens in der Mehrheitsgesellschaft ist es unerlässlich, diese Verbrechen als solche zu benennen und anzuprangern. Dass diese Taten mit deutschen Waffen und diplomatischem Schutz ausgetragen werden, muss skandalisiert werden.
Die Linke wird es in den kommenden Monaten und Jahren schwer haben – und auch wenn die neuen Vorsitzenden Optimismus hinsichtlich der nächsten Wahlen verbreiten müssen, sollten sich die Parteimitglieder besser auf einen langwierigen, außerparlamentarischen Erneuerungsprozess einstellen. Dieser Weg eröffnet jedoch auch die Möglichkeit, dass die Partei endlich ihre Blockaden in außenpolitischen Fragen überwindet – vorausgesetzt, die Debatten dazu werden solidarisch, im Einklang mit den universellen Prinzipien der Menschenrechte und mit einer ehrlichen Analyse der globalen Lage geführt. Sollte diese Chance aus Gründen des internen Friedens oder aus Angst vor medialen Angriffen vertan werden, wäre der Verlust enorm – und das nicht nur für die Partei. Denn eine organisierte linke Kraft mit einer macht- und nationalismuskritischen Vision ist für die kommende multipolare Weltordnung notwendiger denn je.
Yossi Bartal lebt in Berlin-Neukölln und ist freiberuflicher Journalist.