03. November 2024
Deutschland hat ein neues Abschiebeabkommen mit der Türkei verhandelt. Das trifft vor allem Kurdinnen und Kurden sowie Oppositionelle, erklärt die ehemalige HDP-Abgeordnete Feleknas Uca.
HDP-Anhänger feiern den Wahlsieg ihrer Partei in Diyarbakir, Türkei, 9. Juni 2015.
Es gibt wenig Länder auf der Welt, mit denen Deutschland eine so enge und langjährige Beziehung hat wie mit der Türkei. Die beiden Länder blicken auf eine über 150-jährige Geschichte der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, politischen Kooperation und militärischen Waffenbrüderschaft zurück. Ungeachtet aller oberflächlichen diplomatischen Spannungen der vergangenen Jahre blieb diese Partnerschaft hinter den Kulissen, vor allem auf wirtschaftlicher Ebene, ungebrochen eng.
Auch Bundeskanzler Olaf Scholz versäumte es bei seinem jüngsten Besuch am 19. Oktober nicht, die strategische und überdauernde Verbindung beider Länder herauszustellen, als er an das einhundertste Jubiläum der Unterzeichnung des deutsch-türkischen Freundschaftsvertrages 1924 erinnerte. Kurz vor dem Besuch des Bundeskanzlers wurde durch Presseberichte bekannt, dass der Bundessicherheitsrat jüngst wieder Waffenexporte in der Höhe von 330 Millionen Euro an das autokratische Regime des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan durchwinkte. Neben dieser Entscheidung sorgte auch die Meldung über ein neues Abschiebeabkommen mit der Türkei vergangenen Monat für Aufsehen und öffentliche Kritik.
Im Gespräch mit JACOBIN, kritisiert die ehemalige Abgeordnete der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP), Feleknas Uca, die Doppelmoral der deutschen Außenpolitik. Sie vermittelt dabei auch einen Einblick in die Realität der politischen Repression in Erdoğans Türkei.
Vergangenen Monat wurde berichtet, dass sich die Bundesregierung und die türkische Regierung über die Rückführung abgelehnter Asylbewerber in die Türkei geeinigt haben. Abschiebungen sollen beschleunigt und wöchentlich bis zu 500 Menschen in die Türkei ausgeflogen werden. In Deutschland betrifft das fast 16.000 ausreisepflichtige Personen. Darunter könnten auch geflohene Kurden und Oppositionelle sein. Wie schätzen Sie das Abkommen mit der Türkei ein?
In den vergangenen Jahren haben nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die Europäische Union, wiederholt Abkommen über die Frage der Geflüchteten mit der Türkei geschlossen. So hat die EU die Türkei finanziert, um sicherzustellen, dass keine Flüchtlinge nach Europa kommen. Derartige Übereinkommen auf dem Rücken der Geflüchteten lehnen wir selbstverständlich ab. Wenn heute in den Medien davon berichtet wird, dass fast 16.000 Menschen abgeschoben werden sollen, dann wissen wir ganz genau, dass es sich dabei hauptsächlich um Kurden handeln wird, die aus politischen Gründen die Türkei verlassen haben.
Kein Mensch verlässt freiwillig seine Heimat. Bei diesen Geflüchteten handelt es sich oft um Kurden oder Oppositionelle, die wegen der Ausübung ihres Rechts auf Meinungsfreiheit verurteilt wurden oder gar bereits im Gefängnis gewesen sind. Es ist nicht hinnehmbar, dass diese Menschen im Rahmen eines solchen Abkommens wieder in die Türkei abgeschoben werden sollen. Anstatt über ein Abschiebeabkommen zu verhandeln, täte die deutsche Bundesregierung besser daran, sich für eine politische Lösung der kurdischen Frage einzusetzen.
»Die Rückführungsabkommen, die mit der Türkei ausgehandelt werden, werden die Türkei nur in ihrer Repression gegen Oppositionelle, Gewerkschafter, Politiker und viele mehr bestärken.«
Wenn die Repression eingestellt wird, rechtsstaatliche Verhältnisse herrschen würden und die Menschenrechte gewahrt wären, dann könnten hunderttausende in ihrer Heimat bleiben. Das wäre die bessere Lösung, anstatt Menschen die nach Deutschland gekommen sind, um Schutz vor dem Regime in der Türkei zu suchen, wieder abzuschieben. Bei den Menschen, die nun abgeschoben werden sollen, handelt es sich keineswegs um Kriminelle, sondern um Menschen, die aufgrund ihrer Meinung und ihrer Identität verfolgt wurden. Wenn sie nicht anerkannt und abgeschoben werden, bedeutet das für sie, dass sie festgenommen und verurteilt werden oder ihre bereits bestehende Haftstrafe absitzen. Deshalb wird diese Abschiebepolitik nur einer weiteren Kriminalisierung der Kurden Vorschub leisten.
Wie reagiert die kurdische Gemeinschaft in Deutschland auf das Abkommen? Immerhin sind Kurdinnen und Kurden mit 84 Prozent der Asylanträge aller Geflüchteten aus der Türkei die bei weitem größte Gruppe. Immer wieder wird von Fällen berichtet, in denen Kurdinnen und Kurden in Deutschland mit Verweis auf ihre politische Betätigung und angebliche Nähe zur PKK die Aufenthaltserlaubnis entzogen wurde.
In Deutschland werden die Kurden pauschal kriminalisiert und die kurdische Gemeinschaft wird seit Jahren mit politischer Repression überzogen. Wir wissen alle, dass Kurden in der Türkei aufgrund ihrer Identität, ihrer Sprache und auch ihrer Religionszugehörigkeit verfolgt werden. Dass jetzt gerade diese Menschen, die sich hier für ihre Interessen und eine politische Lösung der kurdischen Frage einsetzen, die versuchen sich kulturell einzubringen, kriminalisiert werden, ist nicht hinnehmbar.
Diese Repression hat aber auch etwas mit den Beziehungen zur Türkei zu tun. Auf diese Art und Weise stützt man die türkische Regierung und möchte ihnen zeigen: »Seht her! Hier haben wir diese Hausdurchsuchung durchgeführt! Hier haben wir jemanden, der politisch aktiv war zu einer Haftstrafe verurteilt!« Das ist kein richtiger Schritt, um eine Lösung der kurdischen Frage zu unterstützen, sondern heizt die Probleme nur noch weiter an.
Dass Menschen aufgrund ihrer Aktivität für die kurdische Sache, der Aufenthaltstitel entzogen wird, ist nicht akzeptabel. Stellen Sie sich mal vor, ein Bürgermeister, der in der Türkei jahrelang politisch aktiv war, flieht nach Deutschland, setzt sich hier weiter für die Lösung der kurdischen Frage ein und mit dieser Begründung nimmt man ihm seinen Aufenthaltstitel. Das kann doch nicht sein!
»Um eine friedliche Lösung der kurdischen Frage zu ermöglichen, ist es eine Grundvoraussetzung, dass Abdullah Öcalan die Möglichkeit hat, frei und ungehindert Kontakt mit allen Seiten des Konfliktes aufzunehmen und seine Botschaften an die Öffentlichkeit zu richten.«
Wir haben hier nicht nur kurdische Mitbürger, die ihren Aufenthaltstitel verloren haben, sondern auch solche, die mit Meldeauflagen belegt werden und denen es untersagt ist, ihre Stadt zu verlassen. Das erinnert mich ehrlich gesagt an die Türkei. Dass die Menschen, nur weil sie sich für die kurdische Sache einsetzen, so abgestempelt werden, ist nicht hinnehmbar. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass jedes Mal, wenn Regierungsmitglieder zu Besuch in der Türkei sind, oder umgekehrt, die Repressionswelle gegen die Kurden wieder anrollt.
Dann gibt es wieder Hausdurchsuchungen oder Kulturzentren werden durchsucht. Jedes Mal werden Vereinbarungen auf dem Rücken der Kurden geschlossen und diese werden dann hier kriminalisiert. Das sind Menschen, die vor der Repression der türkischen Regierung geflüchtet sind und hier noch einmal genau dasselbe über sich ergehen lassen müssen. Sie werden verurteilt, verlieren ihren Aufenthaltstitel, oder werden abgeschoben. Ich frage mich, wie man von einem Recht auf freie Meinungsäußerung sprechen kann, wenn in Deutschland Menschen verurteilt werden, nur weil sie sich für die kurdische Kultur eingesetzt haben.
Die Bundesregierung stuft die Türkei derzeit als einen »sicheren Drittstaat« ein. Sie waren selbst als Abgeordnete und Politikerin in der Türkei aktiv und wurden von der türkischen Justiz mit politisch motivierten Verfahren überzogen. Kann man denn als Oppositioneller in der Türkei ein faires Verfahren erwarten und sind grundlegende Rechte wie die Meinungsfreiheit in der heutigen Türkei garantiert?
Dass man die Türkei als sicheren Drittstaat einstuft, ist das größte Problem. Wir sprechen alle aus Erfahrung. Die Türkei geht brutal gegen ihre eigenen Abgeordneten, gegen Oppositionelle und Andersdenkende vor. Ich frage mich immer wieder, inwieweit Deutschland dafür sorgt, dass wirklich demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien gelten. Es wirkt, als gehe es letztlich nur um Wirtschaftsinteressen und den Export von Waffen. Im Grundgesetz steht: »Die Würde des Menschen ist unantastbar«. Wenn in der Türkei die Würde des Menschen mit Füßen getreten wird, wie kann es sich dann bitte um einen sicheren Drittstaat handeln?
Ich war acht Jahre lang als Abgeordnete der HDP im türkischen Parlament tätig. Wir waren damals die drittstärkste Fraktion im Parlament. Die Co-Vorsitzenden unserer Partei sitzen seit Jahren im Gefängnis, nur weil sie ihre Arbeit gemacht und sich für die Interessen ihrer Wähler eingesetzt haben. Die Haftanstalten sind voll mit kurdischen Politikern, Aktivisten, Frauenrechtlern, Anwälten, Bürgermeistern und vielen mehr. Die Pressefreiheit ist nicht gewährleistet und tausende Menschen werden verurteilt, nur weil sie ihre Meinung in den sozialen Medien gepostet haben.
Künstler werden verhaftet und die Aufführung von Theaterstücken verboten. Die Isolationshaft in den Gefängnissen hat massiv zugenommen. Nicht mehr nur Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali ist isoliert, sondern allen Politikern werden ihre grundlegenden Rechte genommen. Allein zu sehen, wie Politiker im Parlament angegriffen werden, wenn sie ihre Meinung sagen, reicht aus, um zu verstehen, was in der Türkei passiert.
Ich habe das am eigenen Leib erfahren müssen. Wenn ich auf kurdisch gesprochen habe, wurde ich angepöbelt und angegriffen und man hat behauptet, ich würde in einer »unbekannten Sprache« sprechen. Dabei habe ich nur meine Muttersprache sprechen wollen. Ich allein habe über 70 Verfahren und Anträge auf die Aufhebung meiner Immunität gehabt. Viele Verfahren laufen noch immer, und sollten diese zum Abschluss kommen, werden sie sehr wahrscheinlich in jahrelangen Haftstrafen enden.
Aber nicht nur ich, sondern Tausende von Menschen haben dieses Problem. Also wenn die Türkei ein sicherer Drittstaat sein soll, dann frage ich mich, warum die Beschlüsse des Europarates, oder das Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Fall von Demirtaş und Yüksekdağ nicht umgesetzt werden.
Der Europarat fordert die sofortige Freilassung der ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ. Sie sind seit 2016 inhaftiert und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stuft die Haft als politisch motiviert ein und hat wiederholt ihre Freilassung verlangt.
Ich frage mich auch, wie sicher kann ein Land sein, dass gerade erst die Istanbuler Konvention zum Schutz von Frauen ausgesetzt hat? Die Türkei führt Krieg im In- und Ausland und hat Orte wir Afrin, Serekaniye oder auch die Kurdistan Region im Irak besetzt und verfolgt eine gezielte Vertreibungspolitik gegen Kurden. In Afrin haben sie die ganze demografische Zusammensetzung verändert, die Kurden vertrieben und Salafisten angesiedelt.
»Die kurdischen Gebiete stehen seit Jahren in Flammen und die Menschen, die ihr Leben im Kampf für die Demokratie und die Menschenrechte, im Kampf gegen den Islamischen Staat gegeben haben, werden heute bombardiert.«
Es kann doch nicht sein, dass man einfach so einen Nachbarstaat besetzen kann und niemand spricht sich dagegen aus. Ganz im Gegenteil wird man sogar noch als »sicherer Drittstaat« bezeichnet. Es ist deswegen klar, dass die Rückführungsabkommen, die mit der Türkei ausgehandelt werden, die Türkei nur in ihrer Repression gegen Oppositionelle, Gewerkschafter, Politiker und viele mehr bestärken werden. Diese Politik ist es, die verantwortlich dafür ist, dass immer mehr Menschen ihre Heimat verlassen müssen und produziert Flüchtlinge am laufenden Band.
Immer wieder hört man auch alarmierende Berichte über die Zustände in den türkischen Haftanstalten. Gefangene berichten von erniedrigender Behandlung und sogar von Folter. Wie steht es um die Situation der politischen Gefangenen in der Türkei?
Die Gefängnisse sind zu regelrechten Folterzentren geworden. Ich muss dies in aller Klarheit so benennen. Die Rechte der Gefangenen werden nicht gewährt. Dabei ist die Repression in den Gefängnissen nicht nur psychisch. Auch körperlich wird gegen die Gefangenen vorgegangen. Die Regierung versucht, das alles zu verbergen. Sie wollen nicht, dass etwas an die Öffentlichkeit kommt, aber wir wissen aus Gesprächen mit den Anwälten und aus den Informationen, die die Gefangenen bei Gesprächen an ihre Familien weitergeben, etwas über die Zustände in den Gefängnissen.
Sie bekommen keine Briefe übermittelt, ihnen werden keine Zeitungen ausgehändigt und es gibt Tausende schwer kranke Gefangene. Viele sind so geschwächt, dass sie in den Haftanstalten ihr Leben verlieren. Es gibt zahlreiche weitere, die entlassen wurden und wenige Tage darauf verstorben sind. Hunderte Gefangene sitzen seit über 30 Jahren in Haft und müssten eigentlich entlassen werden, aber ihnen werden unter fadenscheinigen Argumenten Disziplinarstrafen auferlegt und so ihre Entlassungen immer wieder um Monate herausgeschoben. Dann heißt es immer, weil sie gegen diese oder jene Richtlinie verstoßen hätten, können sie nicht entlassen werden.
Auch auf der Gefängnisinsel Imrali sehen wir die Situation deutlich. Der Führer der PKK Abdullah Öcalan war seit März 2021 vollständig von seinen Anwälten und seiner Familie isoliert. Niemanden wurde in den vergangenen 43 Monaten auch nur ein Besuch gestattet und wir wissen nicht, was überhaupt auf der Insel passiert. Wir wissen nur, dass alle paar Monate wieder ein neues Disziplinarverfahren gegen ihn eröffnet wird.
Zwar konnte der Abgeordnete der DEM-Partei Ömer Öcalan, am 23. Oktober ein zweistündiges Treffen mit Abdullah Öcalan durchführen, doch wie Öcalan selbst gesagt hat, hält die Isolation weiterhin an. Solange Anwälten, Familien und politischen Delegationen kein regelmäßiger Zugang zur Gefängnisinsel Imrali gewährt wird, bedeutet das für uns, dass die Isolation weitergeht. Um eine friedliche Lösung der kurdischen Frage zu ermöglichen, ist es eine Grundvoraussetzung, dass Herr Öcalan die Möglichkeit hat, frei und ungehindert Kontakt mit allen Seiten des Konfliktes aufzunehmen und seine Botschaften an die Öffentlichkeit zu richten.
Besonders besorgniserregend ist, dass auch nichts Genaues über seinen Gesundheitszustand bekannt ist. Isolationshaft wird nicht umsonst als »weiße Folter« bezeichnet und in den türkischen Haftanstalten wird diese weiße Folter angewandt. Und trotz des stattgefundenen Treffens, wird seinen Anwälten weiterhin ein geregelter Zugang zu ihrem Mandanten verweigert.
»Wenn an dem, was wir sagen, nichts dran sein sollte, was ist dann mit den Berichten der Menschenrechtsorganisationen, die belegen, was in der Türkei eigentlich passiert?«
Brisant ist auch, dass das Gefängnis auf Imrali durch das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) des Europarates überwacht wird. Sie haben die Möglichkeit, Imrali zu besuchen und haben das auch getan, doch sie weigern sich, die Berichte über den Besuch zu veröffentlichen.
Es gibt also keinerlei Informationen darüber, was besprochen wurde, oder was mit den Inhaftierten ist. Was in den Haftanstalten passiert, ist, so wie die Repression auf der Straße, eine politische Entscheidung. Sie ist das Ergebnis der konsequenten Weigerung eine Lösung für die kurdische Frage zu finden. Die deutsche Politik muss deswegen versuchen, mehr Druck auszuüben. Die Rechte aller Gefangenen, auch derer aus Imrali, müssen garantiert werden. Gleiche Rechte gelten für alle.
Parallel zu den Gesprächen über verstärkte Abschiebungen, wurde bekannt, dass der Bundessicherheitsrat kürzlich neue Rüstungsprojekte im großen Stil durchgewunken hat. Laut dem Spiegel soll es sich um einen Umfang von 336 Millionen Euro handeln. Im vergangenen Jahr waren die Rüstungsexporte in die Türkei stark eingeschränkt und beliefen sich auf lediglich Motorenteile im Wert von 1,9 Millionen Euro. Es sollen auch Verhandlungen über die Lieferung von Eurofighter Kampfjets laufen. Bisher hatte die Bundesregierung die Lieferung nicht genehmigt. Das Verhältnis zwischen der Türkei und der Bundesrepublik Deutschland war niemals besonders distanziert und doch meinte man in der Vergangenheit, kleine Brüche zu erkennen. Gibt es nun eine neue Annäherung und wie bewerten Sie den Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz?
Ich hätte mir gewünscht, dass Bundeskanzler Olaf Scholz, bei seinem Besuch offen mit Erdogan diskutiert, wie man zu einer Lösung der kurdischen Frage kommen könnte. Er hätte sich dafür einsetzen können, dass ein Friedensprozess wie er 2013 bis 2015 gelaufen ist, wieder aufgenommen wird. Aber anstatt sich für die Menschenrechte und eine Lösung der kurdischen Frage einzusetzen, wird darüber diskutiert, weitere Rüstungsexporte vorzunehmen.
Ich frage mich, was mit den Waffen, die an die Türkei gehen passiert. Wenn man mehr Waffenlieferungen möchte, dann sollte man wissen, dass diese Waffen in erster Linie gegen die Kurden eingesetzt werden. Die Türkei setzt diese Waffen bei ihren Besatzungskriegen in Rojava und im Nordirak, aber auch im Inland ein. Anstatt an einer Lösung zu arbeiten, heizt man die Probleme so nur weiter an. Man hat es doch in Afrin gesehen. Wessen Waffen waren das? Dort wurden die Kurden mit deutschen Waffen vertrieben.
Die nächste Frage, die sich stellt, ist: Gab es denn einen Besuch, zum Beispiel bei Herrn Demirtaş im Gefängnis? Das wäre doch ein gutes politisches Zeichen an die Opposition. Man setzt sich für die Umsetzung der Beschlüsse des Europarates ein und besucht Demirtaş und Yüksekdağ. Das wäre ein Signal. Herr Scholz hätte auch die kurdischen Bürgermeister besuchen können und so einen Beitrag für die Lösung der kurdischen Frage leisten können.
Die kurdischen Gebiete stehen seit Jahren in Flammen und die Menschen, die ihr Leben im Kampf für die Demokratie und die Menschenrechte, im Kampf gegen den Islamischen Staat gegeben haben, werden heute bombardiert. In Rojava hat die Türkei die gesamte Infrastruktur zerstört und Krankenhäuser in Schutt und Asche gelegt. Das kann man doch nicht so unkommentiert lassen. Ich hätte mir auch gewünscht, dass man die DEM-Partei besucht. Immerhin läuft gegen die HDP immer noch ein Verbotsverfahren. Hat man Gespräche mit Menschenrechtsorganisationen und Oppositionellen geführt? Oder ging es nur darum, Erdogan einen Besuch abzustatten?
Kritiker haben der Bundesregierung immer wieder vorgeworfen aufgrund ihrer wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen mit der Türkei die Augen vor den Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen im In- und Ausland zu verschließen. Also denken, Sie, dass an diesen Vorwürfen etwas dran ist?
Ich glaube, dass das wahr ist. Wenn wir uns nur einmal anschauen, was die Türkei sich in den letzten Jahren geleistet hat. Die Menschenrechte wurden mit Füßen getreten, die Menschen wurden auf offenen Straßen angegriffen, sie wurden gefoltert. Alle haben dazu geschwiegen. Auch die Bundesregierung hat geschwiegen, vor allem aufgrund ihrer eigenen wirtschaftlichen Interessen. Doch es kann nicht sein, dass Menschenrechte weniger wert sind als wirtschaftliche Interessen. Man darf deswegen nicht die Augen davor verschließen, wie die Türkei mit den Kurden oder auch den Aleviten umgeht.
»Wenn die Türkei als Garant für Verhandlungen eine Vorreiterrolle bei der Lösung der Konflikte in Palästina und Israel oder auch der Ukraine spielen möchte, dann sollte sie erst einmal vor der eigenen Haustür kehren.«
Es kann nicht sein, dass man aufgrund wirtschaftlicher Interessen die Augen davor verschließt, dass die türkische Regierung mit islamistischen Söldnergruppen in Syrien operiert und sogar mit dem Islamischen Staat paktiert. Wenn die Würde des Menschen unantastbar ist, dann kann man nicht Wirtschaftsinteressen vor Menschenrechte stellen. Ich würde der Bundesregierung nahelegen, einmal in die kurdischen Regionen zu fahren und sich selbst ein Bild vor Ort zu machen. Dann können sie mal sehen, was passiert, wenn kurdische Bürgermeister oder Abgeordnete versuchen eine öffentliche Pressekonferenz zu geben. Wie die Polizei dann kommt, alles umzingelt und abriegelt. Wenn an dem, was wir sagen, nichts dran sein sollte, was ist dann mit den Berichten der Menschenrechtsorganisationen, die belegen, was in der Türkei eigentlich passiert?
Nun ist nicht nur die politische Situation in der Türkei sehr fragil, die gesamte Region befindet sich im Chaos. In Anbetracht der dramatischen Lage in Gaza, dem Libanon und der Gefahr einer regionalen Konfrontation, wohin wird sich Ihrer Meinung nach die Türkei entwickeln und wie sehen die Menschen in der Türkei und in Kurdistan die Entwicklungen?
Die Menschen beobachten natürlich mit Sorge, dass der gesamte Mittlere Osten zu einem Feuerball geworden ist. Die Lage spitzt sich zu und wir wissen alle, dass nur eine friedliche Lösung die Konflikte beenden kann. Es braucht deswegen umso mehr eine politische Lösung für die Konflikte in der Türkei, damit sich das Land zu einer friedlichen und demokratischen Türkei entwickeln kann.
Die Türkei sollte davon lernen, was im Nahen Osten passiert und verstehen, was passieren wird, wenn die kurdische Frage nicht gelöst wird. Seit Jahren schwelt auch der Konflikt auf Zypern und die Türkei ist in allen Nachbarstaaten in Konflikte verwickelt und hält Teile ihrer Territorien besetzt. Die Situation in der Region ist äußerst gefährlich. Wenn die Türkei als Garant für Verhandlungen eine Vorreiterrolle bei der Lösung der Konflikte in Palästina und Israel oder auch der Ukraine spielen möchte, dann sollte sie erst einmal vor der eigenen Haustür kehren. Das bedeutet, die Isolationshaft Abdullah Öcalans muss beendet und die kurdische Frage gelöst werden.
Die Gewaltwelle, die den Nahen Osten ergriffen hat, wird nicht nur dort bleiben. Es besteht die ernsthafte Gefahr, dass diese Welle die gesamte Region erfasst. Die einzige Lösung dort und auch in der Türkei kann nur ein gemeinsames Zusammenleben auf Grundlage gleicher Rechte sein. Es kann nicht sein, dass man die Menschen unterdrückt, ihnen ihre Rechte nimmt und erwartet, dass sie sich dann damit abfinden, während man selbst die Friedenstaube in der Ukraine und dem Nahen Osten spielt.
Natürlich ist es wichtig, sich für eine Lösung der Konflikte einzusetzen, aber du kannst dich nicht glaubhaft für den Frieden starkmachen, während du deine eigene Bevölkerung mit Repression, Gewalt und Folter überziehst, hunderttausende Menschen aus ihrer Heimat vertreibst und nicht bereit bist, die kurdische Frage zu lösen. So kann es nicht gehen und deswegen muss hier mehr Druck ausgeübt werden.
Feleknas Uca ist eine kurdische Politikerin und war von 1999 bis 2009 Mitglied des Europaparlaments für die Partei Die Linke. 2015 und 2018 wurde sie ins türkische Parlament gewählt. Wegen eines Verfahrens wegen »Terrorpropaganda« befindet sie sich derzeit wieder in Deutschland.