02. Oktober 2024
Die letzten Jahre haben bewiesen: Egal wie viele Waffen der Westen liefert, militärisch kann die Ukraine diesen Krieg nicht gewinnen. Vor diesem Hintergrund ist die Forderung nach einer weiteren Ausweitung der Militärhilfen unehrlich und verantwortungslos.
Mann vor zerbombtem Wohnhaus in Saporischschja, 29. September 2024.
Der Krieg in der Ukraine geht langsam in sein drittes Jahr. Doch an der Front hat sich wenig verändert: Es ist und bleibt seit eineinhalb Jahren ein grausamer und verlustreicher Stellungskrieg, in dem weder die ukrainische noch die russische Seite nennenswerte Fortschritte macht. Die ukrainische Gegenoffensive in der Region Kursk hat daran wenig ändern können, auch wenn sie die Verhandlungsposition der Ukraine möglicherweise ein wenig wird stärken können.
Auf ebendiese Verhandlungsposition wird es am Ende ankommen, denn ein militärischer Sieg der Ukraine ist nicht ansatzweise greifbar. Dessen ungeachtet geht die Diskussion der deutschen Öffentlichkeit ihren altbekannten Weg: Jede Alternative zur Versorgung der ukrainischen Armee mit schweren Waffen wird als Unterstützung für Putins Regime betrachtet, und die Waffenlieferungen in dreistelliger Milliardenhöhe werden als humanitäre Verpflichtung angesichts des russischen Völkerrechtsbruchs bezeichnet. Nicht zuletzt behauptet man damit einen Freiheitskampf zu unterstützen, der auch im Interesse der Sicherheit des Westens ausgefochten wird.
Seit geraumer Zeit hat dieses Narrativ auch in weiten Teilen der gesellschaftlichen und parteipolitischen Linken verfangen. Seit Jahren versuchen insbesondere ostdeutsche Linksparteifunktionäre, ihre Partei für eine Regierungsbeteiligung auf Bundesebene anschlussfähig zu machen, indem sie ihren traditionellen Antimilitarismus untergraben. Nun scheinen einige den Ukrainekrieg als Gelegenheit wahrzunehmen, militärische Interventionen in ein verantwortungsbewusstes oder humanitäres Licht zu rücken. Schon kurz nach Beginn waren Stimmen vernehmbar, die Waffenlieferungen an die Ukraine befürwortet haben.
Das Problem ist: Der Krieg in der Ukraine wird nicht durch Waffenlieferungen gestoppt werden. Und selbst wenn dies machbar wäre, so würde dies das Problem nicht lösen, dass Russland innenpolitisch instabil sowie wirtschaftlich und sicherheitstechnisch nicht ausreichend europäisch integriert ist und deshalb nach außen aggressiv agiert. Genauso wenig geht es bei den westlichen Waffenlieferungen um irgendeine Art von moralischer Unterstützung angesichts eines Völkerrechtsbruchs oder eines heroischen Kampfes um nationale Selbstbestimmung.
Tatsächlich ist die Debatte in dreifacher Weise unehrlich. Die Erfolglosigkeit der westlichen Waffenlieferungen ist so offensichtlich geworden, dass selbst westliche Militärstrategen, die die geopolitische Interessen des Westens offen unterstützen, ihre Sinnhaftigkeit immer deutlicher anzweifeln. Dass der Krieg durch diese Lieferungen nicht gewonnen wird, ist nach eineinhalb Jahren kaum verschobener Frontlinien nicht mehr abzustreiten. Um der Ukraine eine reelle Chance auf einen Sieg zu eröffnen, müsste der Krieg massiv ausgeweitet werden. Wahrscheinlich müssten die Erlaubnis zum Beschuss von Zielen auf russischem Boden durch westliche Waffen gegeben und NATO-Bodentruppen entsendet werden. Doch auch diese Schritte würden einen ukrainischen Sieg in keiner Weise garantieren.
Sowohl ein Raketen-Angriff auf russisches Territorium, den Putin ankündigte als Kriegserklärung der beliefernden Länder zu werten, als auch eine direkte Teilnahme westlicher Truppen würden den Krieg, der schon weite Landstriche verwüstet und Hunderttausende Menschenleben gekostet hat, noch weiter eskalieren. Beides könnte zudem den Einsatz taktischer Atomwaffen durch die russische Armee provozieren. Erst am 25. September stufte Russland einen solchen Fall als möglichen Einsatzgrund von Atomwaffen ein. Es ist wenig nachvollziehbar, weshalb Putin in diesem Kontext einerseits als skrupelloser, unberechenbarer Autokrat dargestellt wird, dem gleichzeitig aber auch nachgesagt wird, aus rationalen Gründen nicht bereit zu sein, diese Atomwaffen auch einzusetzen – eine offensichtlich widersprüchliche Einschätzung.
»Die Erfolglosigkeit der westlichen Waffenlieferungen ist so offensichtlich geworden, dass selbst Militärstrategen, die die geopolitische Interessen des Westens offen unterstützen, ihre Sinnhaftigkeit anzweifeln.«
Die umfangreichen Lieferungen westlicher Waffen zeigen außerdem, dass die angebliche Unabhängigkeit der Ukraine bereits zum jetzigen Zeitpunkt nurmehr auf dem Papier besteht. Ein Land, das sich nicht selbst verteidigen kann, ist nur so lange unabhängig, wie es nicht angegriffen wird. Diese Erkenntnis mag bitter sein, und ungerecht ist sie ohnehin. Die Wahrheit ist jedoch, dass sich die Ukraine nur noch zwischen der Existenz als russischer oder westlicher Satellitenstaat entscheiden kann. Um den russischen Einfluss abzuwenden, ist die Ukraine von der militärischen Versorgung durch das Ausland in schwindelerregender Höhe abhängig.
Sie kann für ihre Verteidigung gegen Russland schlicht nicht selbst aufkommen. Ein Blick in die Zahlen verdeutlicht die Dimensionen: Die Ukraine stand erst diesen Sommer wegen einer vergleichsweise geringen Schuldensumme von 20 Milliarden Dollar kurz vor dem Staatsbankrott, der nur durch einen großzügigen Erlass der privaten Gläubiger abgewendet werden konnte. Die Kosten für ihre humanitäre, militärische und andere Unterstützung belaufen sich derweil, wie aktuelle Zahlen des Europäischen Parlaments zeigen, alleine bei der EU auf sagenhafte 100 Milliarden Euro, bei den USA auf eine ähnlich hohe Summe.
Die künftigen Kosten für den Wiederaufbau werden absehbar zusätzliche Kredite aus dem Westen erfordern und belaufen sich, Stand Ende letzten Jahres, auf fast eine halbe Billion Dollar. All diese Zahlen werden sich, je länger der Krieg dauert, weiter erhöhen. Zu welchem Anteil diese zurückgezahlt werden sollen, ist unklar, aber es ist zu erwarten, dass die Bedingungen nicht von der Ukraine diktiert werden. Das Schicksal Griechenlands, das bei EU-Staaten verschuldet war und dessen Regierung mehrere Jahre lang faktisch aus Berlin und Brüssel bevormundet worden ist, kann hier als abschreckendes Beispiel dessen dienen, was an künftiger »Selbstbestimmung« möglicherweise zu erwarten ist.
Die nötigen Wiederaufbaumaßnahmen haben zudem bereits die Aufmerksamkeit privater Investoren auf sich gezogen. Sie wurden explizit von der US-Regierung eingeladen, die sich zu große Belastungen ihres Haushalts aus innenpolitischen Gründen ersparen will. Auch dies deutet Entwicklungen an, die kaum im Sinne der ukrainischen Bevölkerung oder der ukrainischen Souveränität sein werden.
Die dritte Wahrheit schließlich ist, dass der Kampf gegen die Invasion aus ukrainischer Sicht, deren Bevölkerung unter dem Angriff schwerstens leidet, eine nachvollziehbare Reaktion der Selbstverteidigung ist. Die Ukraine hat berechtigte Angst vor einer Besetzung. Doch die westliche Unterstützung für das angegriffene Land hat schlicht etwas mit dem, sowohl auf der russischen als auch auf der westlichen Seite vn schon lange vor dem Krieg begonnenen Versuch zu tun, geostrategische Einflusssphären zu erweitern und das Land für die heimische Wirtschaft zu erschließen. Die jetzige Abhängigkeit des Landes wird vom USA-geführten Westen durchaus nicht uneigennützig zur Sicherstellung der Berücksichtigung eigener Interessen genutzt werden. Auch der eingeleitete EU-Beitrittsprozess ist Ausdruck dieser Tatsache, der zukünftig weitere Polarisierung verspricht.
Das Narrativ des Kampfes »um die Friedens- und Freiheitsordnung in Europa insgesamt« ist Augenwischerei, was auch der Blick auf die horrenden direkten und indirekten Summen für die Unterstützung der Ukraine und die Sanktionen gegen Russland nahelegt, die kaum aus reiner Liebe zum Völkerrecht oder zur »ukrainischen Unabhängigkeit« ausgegeben werden. Ebenso wenig kann von Sicherheitsinteressen gesprochen werden, wenn die militärische Unterstützung eines vormaligen Regionalkonfliktes die Gefahr eines großen Krieges schlicht erhöht hat. Gemeint ist wohl eher: Sicherheit vor russischem Einfluss auf Gebiete, auf die man selbst gerne Einfluss üben würde.
Der Kampf des Kapitals im Ausland übersetzt sich übrigens in die Verteilung von dessen Kosten im Inland. Die Politik der Waffenlieferungen und Sanktionen steht in einem direkten Zusammenhang zu einer großen Belastung der deutschen Arbeitnehmerklasse beispielsweise durch die Inflation, aber auch durch bereits jetzt begonnene Sparmaßnahmen, die das hohe Militärbudget ermöglichen sollen. Es ist also klar, wer am Ende die Rechnung zahlt.
Eine realistische Einschätzung der Lage zeigt also: Der Krieg in der Ukraine kann ohne Risiko eines Weltkrieges nicht gewonnen werden. Die fortdauernden Lieferungen schwerer Waffen dienen der Aufrechterhaltung eines teuren Abnutzungskriegs, der vor Ort unermessliches Leid verursacht.
Noch mehr, auch die Perspektiven sind schonungslos betrachtet nicht ermutigend. Selbst wenn die russische Armee vollständig aus ukrainischem Staatsgebiet verdrängt werden könnte, würde dies die Region höchstwahrscheinlich weder befrieden noch stabilisieren. Es ist nicht völlig undenkbar, dass eine solche Niederlage Putin das Amt – vielleicht auch das Leben – kosten könnte (ein weiterer Grund, warum im Zweifel mit dem Einsatz von Atomwaffen zur Abwendung dieser Situation zu rechnen ist). Nicht auszuschließen ist auch, dass in Russland aggressiv-nationalistische Kräfte an die Macht kommen könnten, die anstelle der Ukraine andere Länder der Region angreifen könnten.
Unterstützt wird diese Entfremdungs- und Eskalationsspirale von den auch im zivilen Bereich geltenden Sanktionen gegen Russland. Seit Inkrafttreten haben diese die russische Fähigkeit zur Kriegsführung offensichtlich nicht tangiert, dafür aber die russische Mittelschicht und Arbeitnehmerklasse stark getroffen. Nicht nur trifft die russische Bevölkerung am Krieg keine Schuld, auch ist absehbar, dass ein solches Verhalten Putins Narrativ, der Westen wolle Russland schaden, aus der Sichtweise seiner Bürgerinnen und Bürger stützt und ihn stärkt. Ebenso widersprechen diese Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung jedem Gedanken der europäischen Völkerverständigung, die für nachhaltigen Frieden wichtig ist.
»Im magischen Denken der öffentlichen Debatte wird immer wieder ignoriert, dass die Fehler, deren Konsequenzen vor allem die Ukraine nun auszubaden hat, vor dreißig Jahren gemacht worden sind.«
Die ausweglose militärische Situation, in der Putin keinen Anlass zum Rückzug seiner Truppen hat, legt nahe, dass der Ukrainekrieg voraussichtlich durch einen wenig zufriedenstellenden Kompromissfrieden beendet werden wird, der dem russischen Regime die besetzten Gebiete vorläufig zuspricht. Es ist klar, dass dies keine befriedigende Lösung ist und den Konflikt nur einfrieren, nicht aber lösen wird, da die Ukraine einen berechtigten Anspruch auf die Wiederherstellung ihrer Grenzen hat. Von der Vorgeschichte seit 2014 vorgezeichnete weitere Gewaltausbrüche sind hier zu erwarten und könnten das Land möglicherweise für viele Jahre prägen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der russische Angriff sogar den Beginn der Ukraine als gescheiterten Staat markiert hat.
Alle diese Tatsachen zeigen: Die Lage in der Ukraine ist sehr verfahren. Sie ist nicht einfach zu lösen, und kurzfristig womöglich überhaupt nicht zu lösen. Im magischen Denken der öffentlichen Debatte wird immer wieder ignoriert, dass die Fehler, deren Konsequenzen vor allem die Ukraine nun auszubaden hat, vor dreißig Jahren gemacht worden sind.
Erstens wurde die NATO, die 1949 als Militärbündnis gegen die Sowjetstaaten gegründet wurde, nach deren Zerfall nicht aufgelöst, obwohl ihr Zweck nicht weiterbestand. Stattdessen wurde sie zum Vehikel geostrategischer Interessen reicher westlicher Staaten gemacht, das mittlerweile eine lange Liste kriegerischer Auseinandersetzungen aufzuweisen hat, die nichts mit Selbstverteidigung zu tun haben. Um die Sicherheit in Europa langfristig zu sichern, hätte die NATO jedoch durch ein gesamteuropäisches Sicherheitsbündnis unter Einschluss Mittel- und Osteuropas sowie Russlands ersetzt werden müssen. Auch ein Fortbestehen unter einer Aufnahme Russlands, die Putin Anfang der 2000er Jahre sogar anstrebte, wäre möglich gewesen. Tatsächlich entstand aber ein immer weiter um mittel- und osteuropäische Staaten erweiterter NATO-Block auf der einen und eine russische atomare Großmacht auf der anderen Seite. Das Potenzial für Konflikte war in dieser Situation bereits angelegt.
Zusätzlich wurde nach dem Zusammenbruch der Sowjetstaaten die Vermögensverteilung insbesondere in Russland auch vom Westen nicht sonderlich stark kontrolliert. Ebenso integrierte man die russische Wirtschaft nicht in einen gemeinsamen Markt. Dieser hätte, analog zur EU, deren wirtschaftliche Integration in ihrem Bündnisgebiet zwar Ungleichheiten festigt, aber kriegerische Auseinandersetzungen bislang verhindern konnte, der Entwicklung einen anderen Lauf ebnen können. Der Ausverkauf staatlicher Betriebe und die Bildung einer Oligarchenklasse, die die junge Demokratie stark korrumpiert hat, sowie eines durch offene und verdeckte Mittel in die Nachbarregion expandierenden Kapitals wurden so ermöglicht. Das Ergebnis ist ein instabiler russischer Staat, der mittlerweile nicht nur finanz- und wirtschaftspolitisch, sondern auch militärisch versucht, seine Interessen in seiner Nachbarschaft durchzusetzen.
»Die westliche Politik ist selbst einer der Problemfaktoren, weshalb durch ihre Unterstützung keine Perspektive für die Aufhebung des Konfliktes geschaffen wird.«
Die sowohl politischen als auch ökonomischen Konflikte dieser Blöcke haben sich seit längerer Zeit in einem Tauziehen zwischen Ost und West insbesondere in der Ukraine abgespielt, deren Zugehörigkeit bisher nicht entschieden wurde und die deshalb militärisch ungeschützt blieb. Da Russlands Einflussnahmeversuche politischer Natur und die Unterstützung der Separatisten erfolglos darin blieben, diese Zugehörigkeit in seinem Sinne zu entscheiden, und gleichzeitig konkurrierende westliche Einflussversuche mit Aussicht auf Erfolg unternommen wurden, scheint sich das bonapartistische Regime in Moskau dazu entschlossen zu haben, seinen Willen einer ostorientierten Ukraine durch einen Einmarsch durchzusetzen.
So ist die Ukraine von äußeren Mächten in die Zange genommen und zerrissen worden und eine hochkomplexe, sehr explosive Situation entstanden. Diese gravierenden Fehlentwicklungen können nicht einfach durch Waffenlieferungen ausgebügelt werden, sondern würden durch sie verschlimmert werden. In dieser Situation kann es kurzfristig nur noch um Schadensbegrenzung durch möglichst umsichtiges und besonnenes Handeln gehen. Solange die benannten Faktoren, die diese Lage hervorgebracht haben, fortbestehen, wird der Konflikt nicht gelöst werden können.
Auch die dem Krieg vorangehenden Konflikte innerhalb der Ukraine selbst mit immer wiederkehrenden politischen Wechseln haben keine hegemoniale Lösung für eine zwischen von Russland abhängigem und vom Westen abhängigen Kapital sowie einer entsprechend gespaltenen Arbeitnehmerklasse und Mittelschicht hervorgebracht. Dies spricht nicht für eine einfach zu erzielende Zukunft als einer der beiden Blöcke zugehörendem oder blockfreiem Staat. Die strukturellen Probleme liegen tief. Die westliche Politik ist selbst einer der Problemfaktoren, weshalb durch ihre Unterstützung keine Perspektive für die Aufhebung des Konfliktes geschaffen wird. Solidarität mit den ukrainischen Opfern, die nicht das ganze Bild in den Blick nimmt, ist deshalb ethisch nachvollziehbar, weist aber keinen Weg heraus.
Wenn das bereits finster genug klingt, dann bereitet der Blick auf die internationale Lage noch größere Sorgen. Denn die unmittelbar bestehende Eskalationsgefahr in der Ukraine muss in den Kontext der seit Jahren ansteigenden Aufrüstung und schwindenden Sicherheit durch mangelnde Rüstungskontrolle gesetzt werden.
Die Welt erlebt seit Längerem eine zunehmende, auch nukleare Aufrüstung der USA. Mit der diesen Sommer beschlossenen Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland, die Russland erreichen können, und auf die möglicherweise eine erweiterte Stationierung vergleichbarer russischer Raketen folgen wird, sowie der vorgesehenen Verbringung von Hyperschallwaffen mit extrem kurzer Vorwarnzeit erreicht das Säbelrasseln eine neue Stufe. Gleichzeitig wurden die meisten Rüstungskontrollverträge mittlerweile annulliert – das letzte Abkommen zwischen Russland und den USA endet in zwei Jahren, wurde aber von Putin ohnehin bereits ausgesetzt.
Mit der Aussicht auf eine mögliche Trump-Präsidentschaft ab nächstem Jahr, in deren Fall zwar ein Rückzug aus den Ukrainehilfen, aber eine noch massivere insbesondere nukleare Aufrüstung zu erwarten sein wird, und einer wahrscheinlich CDU-geführten nächsten Bundesregierung, deren radikale sicherheitspolitische Äußerungen auf eine zu erwartende verstärkte Befeuerung des Ukrainekriegs und Militarisierung der Außenpolitik hinweisen, verdüstert sich die globale Perspektive. Die immer enthemmtere Aufrüstung bei gleichzeitigem Rückgang der im Kalten Krieg zumindest in gewissem Maß gegebenen Rüstungskontrolle, die Abwesenheit einer starken Friedensbewegung und die Gefahr einer völligen Eskalation des Ukrainekriegs sind Faktoren, die in eine Zukunft weisen, die noch kriegerischer sein könnte als das letzte Jahrhundert und die aus dem Kalten Krieg gekannten Gefahren schon bald übersteigen könnten.
Vor diesem Hintergrund ist die Forderung nach ausgeweiteten Waffenlieferungen und einer Erlaubnis zur Attackierung von Zielen auf russischem Boden, die die Abgeordnete und Linke-Spitzenkandidatin zur letzten EU-Wahl Carola Rackete kürzlich im Europäischen Parlament unterstützte, geradezu verantwortungslos. Sie stellt ebenso die Gretchenfrage für die Zukunft linker Politik. Die Resolution ist für die EU-Kommission zwar nicht bindend, doch das Stimmverhalten der prominentesten Linken-Abgeordneten bedeutet eine Abkehr von der Opposition nicht nur zur Regierung, sondern auch zum Krieg hervorbringenden Kapitalismus.
In dieser verfahrenen Situation ein linkes Programm aufzustellen, ist sicherlich nicht einfach. Doch die Zukunftsperspektiven beweisen eindringlich, wie nötig eine Alternative zur kapitalistischen Dynamik ist, die nur eine Richtung kennt: Krieg. Die Propaganda einer angeblich durch Werte oder die eigene Sicherheit motivierten ukrainischen Aufrüstung, die einen grausamen Krieg unnötigerweise immer länger aufrechterhält und die westliche Arbeitnehmerklasse vermutlich Hunderte Milliarden Euro kosten wird, ist kaum als links auszugeben. Wer das befürwortet, beweist nur die eigene Fantasielosigkeit – oder analytische Unfähigkeit.
»Doch es ist unwahrscheinlich, dass es auf russischer Seite primär um eine Antwort auf die NATO-Ausbreitung ging. Auch Russlands Imperialismus muss erkannt und betont werden.«
Gleichzeitig ist klar, dass die insbesondere vom BSW unterbreitete Losung von Diplomatie und Verhandlungen zwar im Kern richtig, in ihrer Unterschätzung des Gefahrenpotenzials (und Anteils an der Entstehung des Krieges) des russischen Regimes aber realitätsfern und unausgewogen sowie auch kurzsichtig ist. Denn offenbar geht man beim BSW davon aus, dass mit einem ersten Friedensschluss das Pulverfass entschärft ist oder sich alle dortigen Konflikte durch Diplomatie lösen lassen, obwohl sie tiefe politische und ökonomische Ursachen haben.
Der Schwerpunkt der BSW-Kommunikation liegt dementsprechend auf den »legitimen Sicherheitsinteressen Russlands« und der Kritik an der westlichen Interventionspolitik. Sicherlich liegt es nahe, die eigene Regierung am stärksten ins Visier zu nehmen, denn die Politik der anderen Seite kann ohnehin schwerlich beeinflusst werden. Doch es ist unwahrscheinlich, dass es auf russischer Seite primär um eine Antwort auf die NATO-Ausbreitung unter dem Sicherheitsaspekt ging. Wahrscheinlicher ist der beschriebene Versuch, eine Westbindung der Ukraine vor allem auch aus einer Mischung aus ideologisch-politischen und wirtschaftlichen Gründen zu verhindern. Hieraus ergibt sich, dass neben der verantwortungslosen und imperalistischen Geopolitik der westlichen Seite auch Russlands Imperialismus erkannt und betont werden muss und dass dieser Krieg ohne jede Notwendigkeit von Russland begonnen worden ist.
Neben der Abwendung der US-amerikanischen Raketenstationierung und einer möglichst baldigen Beendigung der Lieferung von Waffen, um die Ukraine mangels besserer Optionen und im Sinne der Schadensbegrenzung zu einem vorläufigen, wenn auch bitteren Friedensschluss mit Russland zu bewegen, braucht es deshalb langfristige Strategien zur europäischen Friedenssicherung. Diese müssen perspektivisch auch einen Rückzug aus der NATO ins Auge fassen. Es ist die Aufgabe der Linken, diese Alternativen zu entwerfen.
Frieden beruht am Ende wenn nicht auf kooperativen, so zumindest auf nicht ausbeuterischen wirtschaftlichen Beziehungen. Die deutsche und europäische Wirtschaft muss auf der Basis demokratisierten Großkapitals und einer stärkeren Steuerung ihrer gemeinnützigen Ausrichtung langfristig so umstrukturiert werden, dass sie einer nicht-kompetitiven gesamteuropäischen Zusammenarbeit dienlich und von einer entsprechend ausgerichteten Außenpolitik begleitet werden kann. Dies betrifft beispielsweise die langfristige Abkehr vom Exportüberschuss.
Auf dieser Grundlage kann auch die Sicherung (oder Wiederherstellung) des Friedens anstelle der Durchsetzung eigener »Werte« Leitfrage von Außenpolitik werden. Ein Verzicht auf Regime-Change-Versuche durch NGOs, politischen Druck oder wirtschaftliche Lockangebote ist gleichermaßen notwendig.
Ein oft übersehenes, aber gerade für linke Strategien wichtiges Element ist darüber hinaus die Völkerverständigung. Die Idee demokratischer sozialistischer Politik stützt sich wesentlich auf die Erkenntnis gemeinsamer Interessen lohnabhängig Beschäftigter über Landesgrenzen hinweg. Das Bewusstsein dieser Tatsache, die gegenseitige Kenntnis und das gegenseitige Verständnis unter ihnen zu fördern ist deshalb auch zur Konfliktprävention elementar wichtig.
Aus diesem Grund muss die politische Linke in Deutschland und überall darauf drängen, die Sanktionen, die die russische Zivilbevölkerung treffen, wieder aufzuheben, die Kooperation mit Russland und der Ukraine in der Wissenschaft, in Museen, Literatur, im Sport, in schulischen und anderen Bereichen (wieder)aufzunehmen und zu vergrößern sowie das Nachrichtenangebot in russischer Sprache wieder auszubauen – auch unter Erwägung der Tatsache, dass ein völliges Angewiesensein auf staatlich kontrollierte Medien Putins Herrschaft stützt. Zudem ist jede zukünftige Bewegung, die eine soziale Demokratisierung Russlands voranbringt, unterstützenswert und auch für die europäische Sicherheit von zentraler Bedeutung. Langfristig ist es eine Aufgabe der Linken, auf ein Zusammenwachsen der europäischen Völkerfamilie entschlossen hinzuwirken. Ukrainische Flüchtlinge und russische Deserteure müssen in diesem Sinn in Deutschland Aufnahme finden.
Die meisten dieser Maßnahmen können nur allmählich Wirkung zeigen. Doch in der Frage der Unterstützung der Waffenlieferungen kontrastieren exemplarisch zwei gegensätzliche Politikentwürfe. Die westliche Politik hat offensichtlich keine zukunftsfähigen Konzepte für das Schicksal des europäischen Kontinents vorzuweisen, und bringt deshalb linke Anliegen nicht weiter, die einer alternativen Strategie bedürfen. Das realistische Empfinden von gut der Hälfte der deutschen Bevölkerung, die die Lieferungen ablehnt, ist eine wertvolle Basis für eine verantwortungsvolle Opposition. Der gesellschaftliche Bedarf an einer Partei, die sich in einer so wesentlichen Frage nicht vom bestehenden Politikangebot unterscheidet, dürfte hingegen gering sein und das weitere Steuern in einen regierungsnahen Kurs den Niedergang der Linken deshalb beschleunigen. Die ohne innerparteiliche Diskussion begonnene, subtile oder offene Unterstützung der NATO- und EU-Politik in der Ukrainekrise durch Parteirepräsentantinnen ist ein klarer Schritt in die Richtung der Bedeutungslosigkeit.
Charlotte Claes war in verschiedenen Bereichen politisch und gewerkschaftlich aktiv.