21. Mai 2025
Während die AfD immer weiter erstarkt, mehren sich die Rufe nach einer Wirtschaftspolitik gegen Rechts – und das aus gutem Grund. Doch Antifaschismus muss auch in der Nachbarschaft verankert sein. Ein Gastbeitrag.
Ferat Koçak in seinem Wahlkreis in Neukölln, 1. Februar 2025.
Seit zwei Generationen hat meine Familie dieses Land mitaufgebaut. Wir »Gastarbeiter«-Familien haben uns durchkämpfen müssen, Tag für Tag. Wir haben geschuftet, hart gearbeitet – für ein besseres Leben und ein Stück Wohlstand. Aber uns war von Anfang an klar: Es geht hier um mehr als nur um Arbeit, es geht ums nackte Überleben. Im Land der nationalsozialistischen Verbrechen, in dem die extreme Rechte mit den Republikanern, der DVU, der NPD und schließlich der AfD weiterhin erfolgreiche organisatorische Kontinuitäten aufgebaut hat, wird Antifaschismus zu einer Überlebensfrage. Mit der Correctiv-Recherche zum Potsdamer Treffen wurde öffentlich , was für uns seit Jahren bittere Gewissheit ist: Die Nazis wollen uns deportieren. Sie wollen unsere Existenz in diesem Land auslöschen.
Luke Holland und Burak Bektaş haben wir bereits verloren. Beide waren junge Leute aus unserer Nachbarschaft. Beide standen mitten im Leben, als sie erschossen wurden – Luke nachweislich von einem rechten Täter, bei Burak deutet vieles auf ein rechtes Tatmotiv hin. In meinem Neuköllner Wahlkreis grassiert nicht nur Armut, sondern auch seit 2009 der sogenannte Neukölln-Komplex – eine nahezu unaufgeklärte rechte Terrorserie gegen Antifaschistinnen und Migranten. Luke und Burak und all den weiteren Opfern rechter Gewalt sind wir es schuldig, als gesellschaftliche Linke in der Frage der antifaschistischen Strategie handlungsfähig zu werden. Doch wie vorgehen im Kampf gegen Rechts?
Ein »Anstands«-Antifaschismus, der den Rechtsruck lediglich mit mangelnder Bildung oder schlicht der falschen Einstellung erklären möchte, reicht nicht aus. Versteht mich nicht falsch: Ich finde es wichtig, dass viele Menschen auf Demonstrationen gehen und ihren Unmut über das Erstarken der Rechten lautstark zum Ausdruck bringen. Auch ich war auf den Demonstrationen, die Anfang 2024 gegen die »Remigrations«-Pläne der AfD organisiert wurden. Millionen Menschen setzten damals das wichtige Zeichen, dass sie Horror-Szenarien wie die massenhafte Deportation ihrer Nachbarinnen, Freunde und Kolleginnen nicht widerstandslos hinnehmen würden.
Problematisch wird es jedoch, wenn sich antifaschistisches Engagement auf einen moralischen Fingerzeig beschränkt. Denn Faschismus ist eben keine moralische Verwirrung. Faschistische Ideologien haben ihren Ursprung in einer Gesellschaft, die die Bevölkerung entlang von Herkunft, Hautfarbe oder Geschlecht spaltet. Die Rolle, die die Institutionen dieser konkurrenz- und wettbewerbsbasierten Gesellschaft für den Aufstieg faschistischer Ideologien spielen, müssen wir daher in den Blick nehmen, um Kurzschlüsse in der Strategie zu vermeiden: Wenn das einzig greifbare Ziel das Verbot der AfD ist, dann ist es kein Wunder, dass sich die beeindruckende Massenbewegung so schnell wieder verflüchtigte. Ihr fehlte eine Antwort, die über symbolischen Protest hinausgeht – eine Antwort auf die sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen, die den Rechtsruck überhaupt erst möglich machen.
»Antifaschismus ist nicht nur Abwehr, sondern auch Aufbau: von demokratischer Infrastruktur, von politischem Selbstvertrauen, von konkreten Alternativen.«
Am anderen Ende des Spektrums bewegt sich für mich die »antifaschistische Wirtschaftspolitik«, die zwar nicht als abgeschlossenes Konzept existiert, aber vielfach als Schlagwort die Runde macht. Im Gegensatz zum moralisch aufgeladenen »Anstands«-Antifaschismus, der sich häufig in Appellen an Haltung und demokratische Werte erschöpft, richtet sich hier der Blick auf die strukturellen Ursachen des Aufstiegs rechter Bewegungen. Im Zentrum steht die Analyse jener sozioökonomischen Verhältnisse, unter denen autoritäres Denken gedeiht. Der Aufstieg der Rechten wird in einen Zusammenhang mit jahrzehntelangen Kürzungspolitiken und gezielten Angriffen auf den Sozialstaat gestellt: Wenn Menschen ihre Arbeit verlieren, Familien sich ihr zu Hause nicht mehr leisten können und immer breitere Teile der Gesellschaft in die Prekarität rutschen, steigt – das zeigt die Geschichte – die Empfänglichkeit für die Narrative der Rechten.
Insofern teile ich es, wenn etwa Ines Schwerdtner fordert: »Preise und Mieten müssen reguliert, Löhne erhöht und die Tarifbindung gestärkt werden; wir brauchen massive Investitionen und eine Besteuerung der Reichen.« Doch dass dies alleine der AfD das Wasser abgraben würde, teile ich ausdrücklich nicht. Auch wenn diese Analyse an der richtigen Stelle ansetzt, so bleibt sie dort unvollständig, wo sie politisches Bewusstsein aus materiellen Bedingungen mechanisch ableitet. Allzu oft wird dabei ein reduktionistisches Modell herangezogen, das autoritäre Einstellungsmuster als Folgeeffekt ökonomischer Not begreift – als wären Ressentiments das automatische Resultat leerer Geldbörsen. Dieses verkürzte Basis-Überbau-Schema verfehlt die Wirklichkeit: Es unterschlägt, dass Ideologien nicht bloß Reaktionen sind, sondern aktiv erzeugt, vermittelt und geformt werden – in Medien, in Schulen, am Arbeitsplatz, in digitalen Räumen.
Ideologien entfalten eine kulturelle, emotionale und politische Eigenlogik. Sie wirken tief hinein in das Begehren, die Angst, die Hoffnung der Subjekte. Rechte Bewegungen sprechen nicht nur materielle Krisenerfahrungen an, sondern auch eine tieferliegende Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Ordnung, Kontrolle – nach einem Platz in einer Welt, die vielen zusehends fremd, unüberschaubar, ja bedrohlich erscheint. Zugespitzt gefragt: Schützt Wohlstand vor Rassismus, vor Menschenverachtung, vor autoritären Versuchungen? Und umgekehrt: Sind arme Menschen oder prekär Beschäftigte automatisch anfälliger für rechtes Denken? Diese implizite Annahme ist nicht nur falsch, sie ist auch gefährlich – denn sie reproduziert klassenfeindliche Vorurteile unter umgekehrten Vorzeichen.
Auch die aus der Analyse abgeleitete Strategie offenbart Leerstellen: Natürlich ist es im Kampf gegen den Faschismus unerlässlich, dessen sozialen Nährboden zu bekämpfen. Aber die dringend notwendigen Investitionen in die soziale Infrastruktur und den Wohlfahrtsstaat reichen allein nicht hin, um die Rechten zu schwächen. Und vor allem: Diese Maßnahmen schützen nicht vor der Gefahr, die Menschen wie mich jeden Tag umgibt. Sie schützen nicht vor rassistischen Angriffen, nicht vor Hetze, nicht vor einem Alltag, in dem wir als Sicherheitsproblem gelten – und nicht als schützenswert.
In der Vergangenheit mussten viele von uns schmerzhaft lernen, dass Polizei und Sicherheitsbehörden nicht an unserer Seite stehen; dass der Rechtsstaat uns nicht verteidigt; dass unser Schutz oft erst dort beginnt, wo wir selbst aktiv werden. Eine antifaschistische Wirtschaftspolitik – so wichtig sie ist – ersetzt keine Selbstorganisierung. Sie kann nur dann wirksam werden, wenn sie Teil eines breit getragenen solidarischen Antifaschismus ist, der Kämpfe gegen Armut, Rassismus und staatlicher Gewalt miteinander verbindet. Sie muss Teil eines größeren Projekts sein, der die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nur besser verwalten, sondern grundlegend verändern will.
»Viele von uns mussten schmerzhaft lernen, dass unser Schutz oft erst dort beginnt, wo wir selbst aktiv werden.«
Wie ein solcher, breiter Antifaschismus aussehen kann, haben wir in Riesa erleben dürfen. Dort, wo die AfD Anfang dieses Jahres ihren Parteitag abhielt, stand ihr eine widerständige Zivilgesellschaft entgegen – bunt, laut, entschlossen. Menschen aus der Region, von Initiativen, Gewerkschaften, migrantischen Selbstorganisationen, linken Gruppen, Kirchen und Kultur haben gemeinsam gezeigt: Rechte Ideologien treffen auf Widerstand, wenn Menschen sich zusammenschließen, füreinander einstehen und sich gemeinsam widersetzen.
Diese Erfahrung macht Mut. Aber sie ist auch Mahnung: Antifaschismus darf keine Ausnahmeerscheinung sein, kein Strohfeuer, das nach ein paar Wochen wieder erlischt. Er muss zum dauerhaften politischen Projekt werden – verankert in Kiezen, Betrieben, Schulen, in den Nachbarschaften, im Alltag.
Achtzig Jahre nach dem Ende des Nazi-Regimes brauchen wir aus meiner Sicht mehr denn je einen Ansatz, der sowohl die konkrete und akute Gefahr von Rechts ernst nimmt und gleichzeitig den Nährboden der Spaltungsdebatten bekämpft. Ich bin nicht der Erste, der diese Idee entwickelt, aber mit unserer erfolgreichen linken Wahlkampagne in Neukölln sind wir einen Schritt in die richtige Richtung gegangen: Wir haben an 139.000 Haustüren geklingelt und zehntausende Gespräche geführt – auch das ist an sich nichts Neues und wird auch von nahezu allen anderen Parteien mehr oder weniger praktiziert. Wir haben diesen Ansatz aber verbunden mit dem Anspruch, Politik anders zu machen und die Menschen aus einer jahrzehntelangen politischen Ohnmacht zu holen und Formate entwickelt, die die Nachbarschaft politisieren und nicht nur als passive Masse von Wählerinnen und Wählern behandeln: Nachbarschaftsfeste, Kiezversammlungen und Sozialsprechstunden führen dazu, dass sich Menschen ernst genommen fühlen.
Wir haben die Themen unseres Wahlkampfs nicht einfach selbst gesetzt, sondern die Menschen vor Ort gefragt, was ihnen wichtig ist. Was wir vermitteln konnten, war, dass wir Menschen mit ihrem gesamten Lebensumfeld und ihrer Persönlichkeit ernst nehmen. So konnten wir verbindende Klassenthemen plastisch machen und dem kapitalistischen Alltag im Kiez Solidarität entgegensetzen.
Ein einzelnes Wahlergebnis ist noch kein Beweis für diese Thesen, aber ein Hinweis darauf, dass Antifaschismus in unserer direkten Nachbarschaft beginnen kann und muss. Der Erfolg hat gezeigt, dass wir mit unserer Art Politik (anders) zu machen, dafür einen richtig guten Hebel haben. Lasst mich aus dieser Erfahrung drei Leitplanken einer antifaschistischen Nachbarschaftspolitik formulieren.
Das wirksamste Mittel gegen rechte Ideologien ist Selbstorganisierung. Dort, wo Menschen die Erfahrung machen, durch ihr eigenes Handeln einen Unterschied zu bewirken, wo sie Selbstwirksamkeit erleben, wachsen nicht nur das Vertrauen in die eigene Stärke, sondern auch die Erkenntnis, dass politische Veränderung nicht nur in der Theorie existiert, sondern durch gemeinsames Handeln Wirklichkeit werden kann. Wir versprechen den Menschen nicht das Blaue vom Himmel, um ihre Stimmen zu gewinnen, sondern ermutigen sie, sich mit ihren Nachbarinnen und Kollegen zusammenzuschließen, um sich für ihre gemeinsamen Anliegen stark zu machen. Dem realen Gefühl, des Abgehängt-Seins und der jahrelangen politischen Ohnmacht, die die Rechten in rassistische Ressentiments kanalisieren, setzten wir so einen Pol der Hoffnung und Solidarität entgegen.
Antifaschismus ist nicht nur Abwehr, sondern auch Aufbau: von demokratischer Infrastruktur, von politischem Selbstvertrauen, von konkreten Alternativen. Dafür braucht es Räume – nicht nur metaphorisch, sondern ganz praktisch: Kiezbüros, offene Treffpunkte, Räume für Beratung, für Bildung, für Begegnungen. Räume, in denen Menschen nicht übereinander, sondern miteinander sprechen. Wo diese Räume fehlen, gewinnen rechte Erzählungen an Boden. Wo sie entstehen, wächst Widerstandsfähigkeit.
Spätestens seit den rechten Anschlägen der letzten Jahre – in Hanau, Halle, Neukölln – sollte klar sein: Rechter Terror ist keine Randerscheinung, sondern Ergebnis gesellschaftlicher Radikalisierung. Der Schutz dagegen darf nicht allein dem Staat überlassen werden – vor allem, wenn dieser selbst Teil des Problems ist. Wir brauchen wehrhafte Nachbarschaften, die handeln, wenn eine Straße weiter eine Familie abgeschoben werden soll; die widersprechen, wenn auf dem Schulhof rassistisch beleidigt wird, die gemeinsam laut werden, wenn Nazis durch den Kiez marschieren.
Dieser Gastbeitrag erscheint in Vorbereitung auf die Debatte »Was tun gegen den Rechtsruck?«, die auf dem bevorstehenden Marx is' Muss Kongress stattfinden wird.
Ferat Koçak ist seit Jahren als antirassistischer Aktivist auf den Straßen Neuköllns unterwegs. Dieses Jahr hat er mit seinem Team Geschichte geschrieben und das erste Direktmandat für die Linke im Westen geholt.