26. April 2025
Der Neoliberalismus als System der freien Märkte? Grace Blakeley erklärt, warum diese Vorstellung falsch ist: Zentralisierte Planung ist im heutigen Kapitalismus allgegenwärtig.
»Zu einem guten Leben gehören Gemeinschaft und Verbundenheit; und das ist etwas, was uns heute in der Gesellschaft wirklich fehlt«, meint Ökonomin und Journalistin Grace Blakeley.
Trotz aller Horrorgeschichten gibt es sie noch immer: Die Leute, die uns weißmachen wollen, dass der Kapitalismus für »Freiheit« steht. In ihrem neuen Buch Die Geburt der Freiheit aus dem Geist des Sozialismus setzt sich die Journalistin Grace Blakeley mit diesem neoliberalen Mythos auseinander. Sie zeigt, wie viel der Kapitalismus tatsächlich der aktiven Planung sowie staatlichen Intervention zu verdanken hat – und verbindet dies mit spannenden Fallbeispielen von kriminellen Unternehmen, imperialistischer Macht und Rettungspaketen für Finanzkonzerne. All dies seien keine außergewöhnlichen »Exzesse« des Kapitalismus, sondern entsprächen genau seinem inneren Wesen, so Blakeley. Im Interview mit JACOBIN spricht sie über das Buch, ihre politischen Ansichten und die derzeitigen Probleme der Linken.
In Deinem jüngsten Buch beschreibst Du, wie falsch unsere Vorstellung vom heutigen Kapitalismus ist: Demnach wird nach wie vor in Kalter-Krieg-Schemata gedacht; Kapitalismus steht für einen freien Markt, Sozialismus für Planung. Du betonst, wir sollten nicht mehr von einem »freien Marktkapitalismus« sprechen, sondern anerkennen, dass es sich um ein hybrides System handelt, das eben auch Planung beinhaltet.
Neoliberale würden der Vorstellung zustimmen, dass sie den Aufbau, die Konstruktion von Märkten geplant haben. Weiter würden sie aber auch sagen, dass das, was innerhalb dieser Märkte passiert, nicht geplant ist oder war: »Wir haben die Regeln festgelegt, jetzt könnt ihr [nach diesen Regeln] frei spielen.« In meinem Buch gehe ich dem nach und stelle fest, dass der Neoliberalismus in Wirklichkeit eine ständige, umfassende und allgegenwärtige Planung beinhaltet – auch, nachdem das Spiel begonnen hat. Im Grunde geht es stets darum, die Interessen des Kapitals zu schützen: Regierungen greifen ein, um Finanzinstitute oder Großkonzerne zu retten, und sie erlassen Gesetze, die diesen Institutionen zugutekommen. Hinzu kommen Subventionen für Unternehmen, aber auch – über diese Regierungsinterventionen hinaus – Planung seitens der Firmen selbst.
Die grundlegende Idee eines freien Marktes ist, dass Unternehmen nicht planen sollen oder können, weil man eben nur das tun kann, was der Markt einem vorschreibt: Man entwickelt einen Businessplan, aber wenn sich die Marktbedingungen ändern, muss dieser Plan entsprechend angepasst werden. Als einzelnes Unternehmen hat man aufgrund des Wettbewerbsdrucks keine wirkliche Gestaltungsmacht.
Doch in einem monopolistischen Markt – also dort, wo ein Unternehmen bis zu einem gewissen Grad vom Wettbewerbsdruck isoliert ist – kann dieses Unternehmen ähnlich wie eine Regierung planen. So wie eine Regierung sagen kann: »Wir investieren in diese oder jene Technologie, denn sie entscheidet über die Zukunft unserer Gesellschaft«, können Unternehmen beispielsweise sagen: »Wir werden all unsere Zeit und Energie in den Aufbau von KI investieren.« Niemand sonst darf mitentscheiden, ob vorhandene Ressourcen dabei wirklich sinnvoll genutzt werden. Einige Konzerne sind so mächtig, dass sie die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft gestalten können.
Aus ideologischer Hinsicht erzählte der Neoliberalismus auch eine Geschichte über Freiheit und insbesondere darüber, wie jegliche Planung die individuelle Freiheit bedrohe. Das machte ihn offenbar attraktiv.
In der Einleitung beschreibe ich, wie das neoliberale Projekt auf dem beruht, was [Friedrich] Hayek als »doppelte Wahrheit« bezeichnete. Er sagte im Wesentlichen, diese Ideen müssten nach außen als Rückkehr zum freien Markt präsentiert werden. Es gehe demnach darum, individuelle Freiheit zu verwirklichen. Es gehe um Deine Wahlfreiheit als Verbraucherin oder Verbraucher. Es gehe um die persönliche Freiheit, praktisch alles zu tun, was man will. Doch darunter verbirgt sich ein umfassenderes und tiefergehendes Projekt, bei dem es im Grunde genommen um Planung geht: Es sollen Systeme entwickelt werden, die bestimmte Verhaltensweisen fördern oder belohnen – und andere verhindern.
Im Vereinigten Königreich wurde diese Idee, tun zu können, was man will und damit sehr reich zu werden, mit der Zerschlagung der Gewerkschaften verknüpft, ebenso wie mit dem Verkauf von Sozialwohnungen sowie der Privatisierung und dem Ausverkauf staatlicher Betriebe an Privatpersonen. Da es gleichzeitig einem großen Boom im Finanzwesen gab, gewannen diese privatisierten Vermögenswerte erheblich an Wert. Die Menschen hatten also das Gefühl, durch ihre Investitionen als »Minikapitalisten« tatsächlich wohlhabender geworden zu sein. Dieser »Unternehmergeist« ist das Lockmittel des Neoliberalismus: »Wenn Du so konkurrierst, wie wir es Dir sagen, wirst Du reich, wirst Du Erfolg haben und ein stabiles, sicheres Leben führen können«.
»Die Menschen kauften ihre eigenen Häuser, durften an der Börse investieren und Schulden anhäufen, um sich all diese Dinge leisten zu können. Das ist ein Disziplinierungsinstrument, um sie dazu zu bringen, miteinander zu konkurrieren.«
Die Kehrseite der Medaille ist jedoch der eigentliche Grund, warum diese Veränderungen umgesetzt wurden. Das ist mit »doppelter Wahrheit« gemeint. Die offizielle Geschichte, die allen erzählt wurde, lautet: »Wir wollen eine unternehmerische Gesellschaft schaffen. Deshalb lassen wir euch Häuser kaufen oder an der Börse investieren.« Die wirkliche Absicht dahinter war jedoch, kollektive Strukturen aufzubrechen und die Menschen dazu zu bringen, sich als Individuen zu verstehen. Das war eine bewusste Entscheidung. Es ging darum, den in den 1960er und 70er Jahren noch kultivierten Gemeinschaftsgeist zu zerstören und durch isolierte, atomisierte Individuen zu ersetzen, die ausschließlich in Konkurrenz zueinander stehen.
Einerseits wurde also die Arbeiterbewegung attackiert und es wurden gewerkschaftsfeindliche Gesetze geschaffen; zeitgleich gab es auch Privatisierung und Finanzialisierung. Die Menschen kauften ihre eigenen Häuser, durften an der Börse investieren und Schulden anhäufen, um sich all diese Dinge leisten zu können. Das ist ein mächtiges Disziplinierungsinstrument, um sie dazu zu bringen, miteinander zu konkurrieren und sich als isolierte Individuen zu sehen.
Die Generation meiner Eltern hat ihre Häuser in den 1980er Jahren für vielleicht 30.000 Pfund gekauft. Heute sind sie Millionen wert. Wer davon profitiert hat, erklärt diese Entwicklung nicht mit gesamtgesellschaftlichen Trends, sondern ist der Meinung: »Ich bin ein wirklich erfolgreicher Unternehmer. Ich bin intelligent. Ich kann den Markt gut einschätzen.« Das fördert diesen Individualismus enorm. Diejenigen hingegen, die kein solches Vermögen besitzen, werden ihrerseits dadurch diszipliniert, dass sie niedrigere Löhne erhalten, keine Verhandlungsmacht besitzen und hoch verschuldet sind. Die Ideologie des Wettbewerbsindividualismus sorgt dafür, dass man sich selbst die Schuld für diese Umstände gibt.
Du präsentierst im Buch mehrere Fallbeispiele, wie die Sicherheitsskandale beim Flugzeughersteller Boeing. Viele der beschriebenen Firmen haben eine monopolistische Position. Dennoch bleiben sie in einem gewissen Wettbewerb. Wie oder inwiefern konkurriert Boeing mit Airbus? Und warum tun sie dies nicht durch Preise?
Anstatt über Preise zu konkurrieren – was beide Unternehmen als langfristig nicht tragfähig erkannt haben – halten sie die Preise stabil, koordinieren sich und stimmen sich untereinander ab. Sie konkurrieren vielmehr um Kostensenkungen, beispielsweise in Form von Löhnen oder indem Zulieferer ausgebeutet werden. Ebenso nutzen sie ihre Marktmacht gegenüber kleineren Unternehmen, um ihnen Zugeständnisse abzuringen. Hinzu kommen Formen politischer Korruption, um verschiedenen Teilen der Lieferkette Wert zu entziehen. Boeing ist in mehrere Korruptionsskandale verwickelt und pflegt gute Kontakte zur Regierung. Das zeigte sich beispielsweise im Fall Southwest.
Die Macht von Vermögensverwaltungskonzernen wie BlackRock ist riesig. In Deinem Buch Stolen beschreibst du als Alternative die Einsetzung sogenannter »Volksvermögensverwalter«.
Vermögensverwaltung bedeutet an sich, das Geld anderer Leute zu investieren. Die großen Investmentbanken verfügen über dedizierte Vermögensverwaltungsabteilungen, die ihr Kapital investieren. Ich habe darauf hingewiesen, dass die Synergien, die sich aus diesem Modell ergeben, ziemlich bedeutend sind. Beispielsweise könnte eine Bank einem wachsenden Startup Geld leihen – und dann ihre Vermögensverwaltungsabteilung dieses Startup als eine wirklich gute Investitionsmöglichkeit betrachten.
Mein Vorschlag ist, dass wir einen nationalen Investitionsfonds einrichten, der beispielsweise in nachhaltige Tech-Unternehmen oder Infrastrukturprojekte investiert – in Dinge also, in die wir investieren wollen. Daraufhin kann ein Volksvermögensverwalter dann Anteile an diesen Unternehmen erwerben, sodass alle Erträge aus den vergebenen Krediten an die ursprünglichen Eigentümer dieses Geldes, nämlich die Allgemeinheit, zurückfließen.
Im Grunde genommen geht es um den Unterschied zwischen einer reinen Kreditaufnahme, bei der kein Eigentum an dem jeweiligen Asset erworben wird, und einer Investition wie dem Kauf einer Aktie oder einer Beteiligung an einem Unternehmen, bei der man tatsächlich einen Eigentumsanteil an diesem Asset erwirbt. Mit diesem Anteil hat man dann auch Anspruch auf künftige Erträge des jeweiligen Projekts. Mein Argument lautet dementsprechend, dass eine nationale Investitionsbank nicht ausreicht: Man braucht darüber hinaus eine Institution, die in der Lage ist, Anteile an solchen Unternehmen zu erwerben.
»Amazon braucht keinen Staat, der zwischen Arbeit und Kapital vermittelt – weil die Arbeiterschaft schlichtweg keine Macht hat.«
Finanziert werden könnte so etwas wie gesagt durch einen Staatsfonds – man denke beispielsweise an den norwegischen Staatsfonds, der Beteiligungen in vielen Branchen der Weltwirtschaft hält. Der Unterschied wäre aber, dass ein Volksvermögensverwalter einen demokratisch gewählten Vorstand hätte, in dem auch die Arbeiterschaft vertreten wäre, und dass es regelmäßige öffentliche Konsultationen darüber gäbe, in welche Bereiche die Bevölkerung eigentlich investieren möchte.
Du beschreibst, wie die Unternehmensplanung den Alltag der Arbeiterinnen und Arbeiter beeinflusst – und widmest ein Kapitel dem Fordismus. Dort wird Jeff Bezos als »der Ford unserer Zeit« bezeichnet. Viele sind derweil der Meinung, dass wir längst im Postfordismus angekommen sind. Gibt es in modernen Konzernen wie Amazon noch etwas Fordistisches?
Ich denke nicht, dass der Fordismus einfach fortbestanden hat. Das Modell ist nicht mehr dasselbe wie in den 1940er Jahren. Das Argument ist vielmehr, dass das jeweilige Gesellschaftsmodell ein Spiegelbild der Klassenverhältnisse ist. Der Fordismus wurde zum Fordismus, weil es eine Klasse organisierter Arbeiterinnen und Arbeiter gab, die von ihren Chefs innerhalb des Ford-Konzerns deutlich mehr Zugeständnisse fordern konnten, und dass bestimmte Forderungen erfüllt werden mussten.
Ford benötigte zudem einen ganz bestimmten makroökonomischen Kontext, dessen Hauptmerkmal Stabilität war. Also schritt der US-amerikanische Staat ein, um diese Bedingungen zu schaffen, indem er die jeweiligen Höhen und Tiefen der Konjunkturzyklen abfederte und bei Bedarf zwischen Chefs und Arbeiterschaft vermittelte. Das gesamte System des Fordismus ist also nicht nur ein bestimmtes Akkumulationsregime, das aus gewissen Gesetzen oder Institutionen hervorgeht, wie es einige Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften behaupten. Es geht vielmehr um das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen.
Als sich dieses ehemalige Gleichgewicht in den 1970er und 80er Jahren aufgrund diverser Veränderungen sowohl in der Struktur des Kapitalismus als auch aufgrund einiger Entscheidungen von Institutionen und Einzelpersonen verschob, kam es zu einem Wandel vom fordistischen Produktionsprozess hin zu dem, was man nun als Amazon-Produktionsprozess bezeichnen könnte. In diesem Modell wurde die Arbeiterklasse entscheidend besiegt. Heute kann man ausgebeutete Arbeitskräfte nach Gusto einstellen, ihnen beliebige Aufgaben zuweisen und sie wie Roboter behandeln, wohingegen sie selbst größte Probleme haben, sich zu organisieren.
Dieses Modell ist auch anfälliger für Krisen. Trotzdem ist ein Unternehmen wie Amazon so mächtig, dass es nicht unbedingt makroökonomische Sicherheit benötigt, um Gewinne zu erzielen. Es umfasst praktisch einen kompletten Markt und ist in der Lage, dafür selbst Sicherheit zu schaffen. Das heißt: Amazon braucht keinen Staat, der zwischen Arbeit und Kapital vermittelt – weil die Arbeiterschaft schlichtweg keine Macht hat. All diese Veränderungen in der politischen Ökonomie sind eher auf Veränderungen im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zurückzuführen als auf rein intellektuelle oder ideologische Verschiebungen.
Im letzten Teil des Buches werden erfolgreiche Beispiele demokratisch-sozialistischer Planung behandelt, wie beispielsweise die Regierung von Salvador Allende in Chile. Vorschläge für eine sozialistische Planung stoßen aber oft auf dieselben Kritikpunkte: Skalenprobleme und die Rolle von Preisen als Koordinierungsmechanismus für den Markt. Vieles davon geht zurück auf die Debatten über sozialistische Planung aus den 1920er Jahren.
Es frustriert mich, dass einige dieser Debatten derart akademisiert werden. Denn man kann diese Fragen nicht losgelöst von der Praxis betrachten. Ich verstehe und sympathisiere durchaus mit den Menschen, die an der ursprünglichen Debatte über sozialistische Kalkulation beteiligt waren. Diese Debatte fand aber in einem bestimmten historischen Moment statt und ging einher mit bestimmten politischen Bewegungen, die Antworten auf diese Fragen suchten.
So wurden die Debatten über Kybernetik teilweise in der UdSSR in die Praxis umgesetzt, aber dann von zentralen Planern unterbunden, die keine selbstorganisierenden Systeme wollten. Das ist alles gut und schön, fand aber in einem bestimmten politischen Moment statt und war in bestimmten Bewegungen verwurzelt, die das Potenzial hatten, diese Ideen tatsächlich in die Realität umzusetzen. Wenn wir uns heute mit der Frage der demokratischen Planung beschäftigen und uns dabei vorstellen, dass wir eine Reihe von Zahlen in ein Computermodell eingeben oder ein Modell entwickeln, mit dem wir Ressourcen in einer zentral geplanten Gesellschaft ohne Geld effizient verteilen können, dann machen wir einfach unseren Job nicht richtig. Das sind schlichtweg nicht die Fragen, die wir uns heute stellen müssen.
»In unseren wettbewerbsorientierten Gesellschaften gibt es eine gut organisierte Macht an der Spitze, die übrigen Menschen stehen ihr jedoch als isolierte Individuen gegenüber.«
Heute – und deshalb stelle ich diese Fragen zu Macht und Planung an den Anfang – müssen wir uns fragen, wie wir den Menschen ein Bewusstsein für ihre eigene Macht vermitteln, damit sie überhaupt erst beginnen können, das System in Frage zu stellen. Ich bin nicht aus intellektuellem Interesse zu diesem Thema gekommen, etwa um zu analysieren, ob eine zentralisierte Planung eine effizientere Methode zur Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen ist. Ich bin darauf gekommen, weil die heutige Wirtschaft auf einer allgegenwärtigen und unsichtbaren Form der zentralisierten Planung basiert, die sehr schwer in Frage zu stellen ist und auf einer Ideologie beruht, die den Menschen einredet, dass sie in einer Wettbewerbswirtschaft leben und immerzu mit ihren Mitmenschen konkurrieren müssen. Das hält das System am Laufen. Es mag nicht stimmen, aber es ist Teil der Ideologie.
Diese Ideologie eines wettbewerbsorientierten Individualismus steht jeder sozialistischen Transformation im Weg (unabhängig davon, wie man sich diese vorstellt), weil die Menschen so fest davon überzeugt sind, dass sie auf sich allein gestellt sind. Kollektivismus ist die entscheidende Voraussetzung für jede sozialistische Bewegung. In unseren wettbewerbsorientierten individualistischen Gesellschaften gibt es eine immens gut organisierte Macht an der Spitze, die übrigen Menschen stehen ihr jedoch als isolierte Individuen gegenüber. Da bleibt dann kaum mehr als die Erkenntnis: »Tja, der Kapitalismus funktioniert halt nicht. Politiker kooperieren mit Unternehmen, um mich als Einzelperson klein zu halten, aber ich bin auf mich allein gestellt. Ich kann nichts dagegen tun.« Das ist das große Problem, das wir haben.
Wie können wir diese Ideologie durchbrechen? Nun, wir müssen zeigen, dass es im Kapitalismus in der Realität keinen komplett freien Wettbewerb gib. Die Leute an der Spitze kooperieren permanent miteinander, und gleichzeitig überzeugen sie uns, dass wir in Konkurrenz stehen und in diesem vermeintlich freien System funktionieren müssen, weil das nun einmal am effizientesten sei.
Du bist ebenfalls sehr kritisch gegenüber der heutigen Linken und kritisierst eine »Kartellisierung«: Sozialdemokratische Parteien seien zu stark verflochten mit staatlichen Machtinstitutionen und den Interessen des Kapitals. Vermutlich sind die Blair-Jahre im Vereinigten Königreich das Paradebeispiel?
Genau. Die Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler, die dieses Konzept der Kartellisierung entwickelt haben, haben sich insbesondere die US-Demokraten und die britische Labour Party angesehen. Dass Arbeiterparteien sich von ihrer Basis – von der Gewerkschaftsbewegung und den Parteimitgliedern – abgekapselt haben, sei ein entscheidender Schritt zur Bildung politischer Kartelle gewesen, die weder auf die Interessen der Parteimitglieder noch auf die der Gesamtbevölkerung, die sie eigentlich vertreten sollen, Rücksicht nehmen müssten. Stattdessen würden sie enge Verbindungen zum und im Staatsapparat aufbauen und dann mit anderen politischen Parteien Vereinbarungen treffen, sodass bei Wahlen die politische Macht reibungslos übergeben werden kann, ohne dass dabei jemals die Grundlagen des Systems in Frage gestellt würden.
Im vergangenen Sommer gab es in Großbritannien rechtsextreme Ausschreitungen in Reaktion auf eine furchtbare Messerattacke in Southport. Unter linken Kommentatoren gab es eine hitzige Debatte darüber, ob ökonomische Faktoren in solchen Fällen eigentlich noch relevant sind; schließlich habe es sehr viele offen rassistische Statements und Anstachelung gegeben. Meinst Du, dass es noch einen Zusammenhang zwischen der ökonomischen Lage und solchen Ausschreitungen gibt?
Es gibt einen Zusammenhang, aber er wird durch psychologische Faktoren vermittelt. Der Ausgangspunkt ist ein Gefühl der Entfremdung und Machtlosigkeit bei vielen Menschen. Wenn man das Gefühl hat, buchstäblich keine Kontrolle über das eigene Leben oder das Geschehen um einen herum zu haben, werden sich vielleicht 80 Prozent der Menschen komplett aus politischen Fragen zurückziehen, 20 Prozent hingegen mit Wut reagieren. Einige kanalisieren diese Wut in etwas Produktives, andere in etwas Reaktives. Wie genau diese Wut kanalisiert wird, hängt davon ab, wie Menschen über sich selbst und ihre Beziehungen zu anderen Menschen denken.
Nun ist das Problem, dass es in einer individualistischen Gesellschaft keine Mechanismen gibt, um diese Wut in etwas Produktives zu kanalisieren. Früher hätte man, wenn man wütend war, etwas dagegen unternommen: Man wäre einer Gewerkschaft oder einer politischen Partei beigetreten oder hätte an einer Demonstration teilgenommen. Aber weil wir heute diesen allgegenwärtigen Individualismus haben, ist man mit dieser Ohnmacht auf sich allein gestellt. Darum geht es übrigens in meinem nächsten Buch.
»Es ist ein Problem, wenn man versucht, ohne eine breite Massenbasis ein politisches Wahlprojekt zu organisieren.«
Ich würde also sagen: Ja, es ist keine rein ökonomische Frage; es geht nicht ausschließlich darum, dass der Lebensstandard der Menschen sinkt. Sie fühlen sich vielmehr machtlos, etwas zu verändern, und sind mit dieser Ohnmacht auf sich allein gestellt. Das führt zu einer Form individualisierter Wut, die man mit Nietzsche als Vergeltung bezeichnen könnte: Man will sich dafür rächen, dass man ruiniert und verarscht wird. Und dann wählt man eben eine Partei, die verspricht, genau diese Rache zu nehmen. Oder aber man geht auf die Straße, nimmt die Dinge selbst in die Hand und rächt sich selbst. Was passiert, wenn man so etwas tut? Man nimmt sich die Macht zurück. Aber wie? Indem man diese Macht über andere Menschen ausübt, die noch machtloser sind als man selbst. Anders gesagt: Man reproduziert das System, in dem man selbst existiert.
Du bist inzwischen auch kritisch gegenüber Jeremy Corbyn. Wie kann eine Linke heute, nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre, wiederbelebt und einflussreicher werden?
Ja, ich war damals recht involviert. Doch seitdem habe ich einige Dinge gelernt und verstanden, die meine jetzige Kritik der Bewegung begründen. Im Buch argumentiere ich, dass es etwas gänzlich anderes ist, Menschen Schutz durch einen kapitalistischen Staat anzubieten oder echtes Empowerment.
Heute besteht der Unterschied zwischen links und rechts in den meisten Industrieländern darin, dass die Linke sagt: »Der Staat wird Euch schützen«, und die Rechte: »Der Markt wird Euch Freiheit geben.« Wir haben dieses Spiel mitgespielt. Wir haben gesagt: »Der Kapitalismus ist gescheitert, aber keine Sorge, wählt eine Labour-Regierung, denn die wird euch vor den schlimmsten Auswüchsen des kapitalistischen Marktes schützen.« Dann kommt die Partei tatsächlich an die Macht und versagt nicht nur weitgehend beim Schutz der Menschen, sondern arbeitet letztendlich im Interesse der Großkonzerne und ist in alle denkbaren Formen von Korruption verstrickt.
Das sehen die Leute natürlich und denken sich: »Die sind nicht vertrauenswürdig.« Ebenso profitiert die Rechte, die sagt: »Die Regierung ist korrupt, also lasst uns den Staat verkleinern und dem Markt mehr Macht geben.« Hinzu kommen die angesprochenen Unternehmensskandale wie bei Boeing. Da stellt sich für die Menschen die Frage: »Okay, der Kapitalismus ist offenbar im Eimer, aber was wäre eine andere Option?«
Es sind zwei Seiten derselben Medaille: Die Grundlagen der politischen Macht in einer kapitalistischen Gesellschaft sind auch ökonomischer Natur; und die Grundlagen ökonomischer Macht sind auch politischer Natur. Das ist nichts Neues, hat aber Auswirkungen auf unsere Politik. Wenn die Linke lediglich die Message hat, »Gebt uns die Macht, dann wird die Regierung ganz tolle Sachen für euch tun«, werden die Menschen das wohl nicht glauben. Sie würden antworten: »Für wie dumm haltet ihr uns eigentlich? Wir haben so viele verschiedene Labour-Regierungen erlebt – und unser Leben ist kein bisschen besser geworden.«
Es ist ein Problem, wenn man versucht, ohne eine breite Massenbasis ein politisches Wahlprojekt zu organisieren. Wenn man überzeugend argumentieren will, dass sich die Dinge ändern werden, wenn eine Labour-Regierung an der Macht ist, muss das bereits Wurzeln in den früheren Erfahrungen der Menschen haben, in anderen kollektiven politischen Projekten. Es muss dieses Gefühl geben: Wir haben gemeinschaftlichen Wohlstand aufgebaut; alle haben sich beteiligt und darüber abgestimmt, wie die Kommunalverwaltung das Geld ausgibt; wir haben eine Genossenschaft gegründet, die Arbeitsplätze schafft; wir haben Gewerkschaften aufgebaut. Das ist kollektives Empowerment. Diese Grundlage hatten wir aber nicht – alle erfolgreicheren sozialistischen Bewegungen der Welt hingegen schon.
Das Wort »Populismus« wird heute für praktisch Alles verwendet, das nicht exakt der bestehenden Ordnung entspricht. Sollte die Linke es sich zu eigen machen und nutzen?
Es gibt verschiedene Arten von Populismus. Es gibt einen didaktischen Populismus, bei dem ein Anführer zu einer Gruppe unterschiedlicher Individuen spricht, die alle zwar mit dem Anführer verbunden sind, aber nicht untereinander. Das funktioniert schlichtweg nicht. Dann gibt es eine andere Art von Populismus, bei der sich Nachbarschaften, Arbeitsplätze, Gruppen von Menschen durch eine Bewegung miteinander verbunden fühlen, ebenso wie mit einer Partei, einer Institution, einem Anführer oder einer größeren Gruppe. Das ist die Grundlage für einen potenziell erfolgreichen Populismus. Er baut auf kollektiver Organisation auf und ist auf diese angewiesen.
»Eine negative Folge von Ungleichheit ist die Monopolisierung von Eigentum. Aber es gibt noch andere negative Folgen: die Einschränkung der Freiheit und Autonomie.«
Dann gibt es noch den technokratischen Anti-Populismus, also die Herrschaft durch Fachleute. Das ist heute ein Teil der neoliberalen Ordnung, mit dem die Politik entpolitisiert werden soll. Wir leben heute in einer Welt, in der alles, was nicht dieser Ordnung entspricht, als »Populismus« bezeichnet wird. Und das ist dann die gesamte Politik, die geboten wird.
Welche Rolle spielen linke Medien in diesem Zusammenhang? Du bist ja in verschiedenen linke Medienprojekten involviert, etwa Tribune und Novara Media.
Ich denke, man muss die Menschen bewusst abholen. Die Linke hat sich regelrecht infiziert mit dieser Fokussierung auf das Individuum. Viele Linke verbringen viel zu viel Zeit damit, möglichst viele Ideen im eigenen Kopf anzuhäufen. Damit schaffen sie unbewusst eine große Distanz zu allen anderen; denn die große Mehrheit der Menschen wird nie Zugang zu dieser Ideenwelt haben.
Zugang zu einem breiten Spektrum an Ideen und Wissen ist immer gut, um die Welt zu verstehen – aber wenn man nicht sehr bewusst darauf achtet, erschwert es auch die Kommunikation mit anderen. Man nimmt schnell Dinge als selbstverständlich hin, von denen das Gegenüber nichts versteht. Je tiefer man in akademische Institutionen und Diskurse involviert ist, desto komplizierter wird es, eine gemeinsame Sprache mit der Durchschnittsbürgerin zu finden. Die eigene Welt ist dann so weit entfernt von der Welt der anderen, dass es schwierig wird, Brücken zu bauen.
Intellektuelle Debatten über Marxismus und Kapitalismus – zumindest in ihrer üblichen Debattenform – haben für das Leben der meisten Menschen kaum Relevanz. Das Beste ist daher, mit den Menschen zu sprechen, mit denen wir sprechen wollen, ihnen zuzuhören, ihre Sprache zu hören, ihre Geschichten zu hören, und anzufangen zu überlegen: »Wie können auch wir diese Sprache sprechen? Wie können wir unsere Geschichten auf diese Weise erzählen?« Wir müssen uns mit unserem eigenen Ego auseinandersetzen und uns viel mehr darauf konzentrieren, mit den Menschen zu reden, für die unsere Ideen relevant sein sollen, anstatt uns gegenseitig davon zu überzeugen, wie unglaublich klug und gebildet wir doch sind.
Um seine Ideen und Werte in ihrer Sprache auszudrücken, muss man sich in bestimmte Communities hineinversetzen. Das beste Beispiel dafür ist die Belgische Partei der Arbeit. Wie sie zum Beispiel mit Anti-Migrationsrhetorik umgeht: Sie verfügt über ein Netzwerk von Aktivistinnen und Organizern, die in den jeweiligen Nachbarschaften aktiv werden, Grillfeste veranstalten, zu den Menschen gehen, die mit rechtsradikalem Denken in Berührung kommen, und mit ihnen ins Gespräch gehen.
Einige gefestigte Rechte wird man damit niemals überzeugen können – okay. Aber andere befinden sich in dieser seltsamen Situation, in der sie wütend sind, aber gar nicht genau wissen oder ausdrücken können, warum. Die radikale Rechte spricht solche Menschen an, weil sie ihnen das Gefühl gibt, doch eine gewisse Stärke oder Macht zu haben. Deshalb noch einmal: Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Sprache der »normalen Menschen« sprechen können.
Marxismus wird oft mit Gleichheit assoziiert, obwohl Marx selbst diesem Ideal eher kritisch gegenüberstand und sich mehr für das Thema Freiheit interessierte. Wie siehst Du das?
Der Gedanke der Gleichheit kam erst mit der Entwicklung des Kapitalismus auf. Historisch gesehen ist jede Gesellschaft nach einer bestimmten Hierarchie strukturiert. Manche Menschen haben mehr Macht und Einfluss als andere. Gleichheit würde im Extremfall bedeuten, dass jede Form von Hierarchie abgeschafft wird. Das ist aber keine realistische Vorstellung davon, wie menschliche Gesellschaften funktionieren. Ein starkes Streben nach Gleichheit wird für die Menschheit auch erst dann zum Thema, wenn die Ungleichheit ein bestimmtes Ausmaß erreicht hat.
Ungleichheit entsteht offensichtlich durch die ungleiche Verteilung von Ressourcen. Das ist eine negative Folge der Monopolisierung von Eigentum. Aber es gibt noch viele andere negative Folgen, darunter auch die Einschränkung der Freiheit und Autonomie der Menschen. Die Frage ist: Was ist für ein gutes Leben notwendig? Das ist die Frage, über die wir alle nachdenken, wenn wir über Politik und Sozialismus sprechen. Natürlich braucht es zunächst ein Minimum an Ressourcen, um zu überleben. Wenn ich darüber hinaus aber nachdenke, was mein Leben besser machen würde, sind mir ein Gefühl von Kontrolle und Autonomie wichtiger als ein Gefühl der absoluten Gleichheit oder aber der Anhäufung vieler Ressourcen.
Ich glaube, dass eine gleichberechtigtere Gesellschaft, in der wir alle ein Gefühl der Kontrolle, des Eigentums und der Autonomie über die Ressourcen der Gesellschaft hätten, auch für die Reichen besser wäre. Das würde sie weniger narzisstisch und selbstversessen machen. Zu einem guten Leben gehören nämlich auch Gemeinschaft und Verbundenheit; und das ist etwas, was uns heute in der Gesellschaft wirklich fehlt. Wir sind so individualisiert und isoliert, dass wir uns nur auf das kleine Paket von Dingen konzentrieren, das wir besitzen, anstatt über die Verbindungen nachzudenken, die uns in unseren Gemeinden, Nachbarschaften, Communities und an unseren Arbeitsplätzen zusammenhalten. Ich glaube, dass unser Leben dadurch sehr viel ärmer wird.
Grace Blakeley ist Redakteurin bei Tribune, Host des Podcasts A World to Win und Autorin des Buches Stolen: So retten wir die Welt vor dem Finanzkapitalismus.