23. November 2024
Die Linke hat sich weltweit von Klasse als organisierender Identität entfernt. Stattdessen betreibt die Rechte ihre Version einer proletarischen Identitätspolitik, die mit einer sozialistischen Vision nichts zu tun hat.
Der designierte US-Vizepräsident JD Vance spricht auf einer Wahlkampfveranstaltung der Republikaner in Flint, Michigan, 4. November 2024.
Beim Parteitag der US-Republikaner im vergangenen Juli stellte JD Vance fest, dass in Amerika Klassenkampf herrscht. Auf welcher Seite er dabei steht, wisse er ganz genau; schließlich sei er ein »Working-class boy«, der fernab der »Korridore der Macht aufgewachsen ist«. Der designierte Vizepräsident lobte seinen Boss Donald Trump als »Führer, der nicht von Big Business gekauft ist und der Antworten für die normalen Arbeiter bietet, ob sie in der Gewerkschaft organisiert sind oder nicht«. Vance zeigte sich überzeugt von Trumps Ideen: In seiner ersten Amtszeit habe die Regierung in nur vier Jahren »die für die Arbeiterschaft beste Wirtschaft aller Zeiten« geschaffen. Nach seiner Wiederwahl würde der alte und neue Präsident erneut die »Löhne der amerikanischen Arbeiter schützen und verhindern, dass die Kommunistische Partei Chinas ihre Mittelklasse auf Kosten der amerikanischen Bürger reicher macht«.
Dass Konservative vorgeben, die Arbeiterklasse zu vertreten, ist nicht neu. Kurz vor dem großen Börsen-Crash rühmten sich die Republikaner 1928, dass »die Erfolgsbilanz der Republikanischen Partei für die Arbeiterschaft unangefochten ist«. Heute geht es jedoch vor allem – und zwar nicht nur in den Vereinigten Staaten – darum, die Interessen von Millionen von Menschen zu vertreten, die von der Linken ignoriert werden. Als es im August rassistisch motivierte Ausschreitungen in England gab, verkündete der erzkonservative Historiker David Starkey großspurig das »Ende der Beziehung zwischen der Labour Party und der weißen Arbeiterklasse«. Im Juni bezeichnete der Kolumnist Christophe Guilluy den Aufstieg von Marine Le Pens Rassemblement National als einen »Aufschrei« der Arbeiter- und Mittelschicht in den französischen Kleinstädten.
Soziologen haben Studien vorgelegt, die den Eindruck widerlegen sollen, dass Arbeiterinnen und Arbeiter aktuell massenhaft nach rechts schwenken. So wurde festgestellt, dass Industriearbeiter relativ gesehen tatsächlich eher für Le Pen stimmen, aber noch mehr von ihnen überhaupt nicht wählen gehen. Darüber hinaus sinke ihr Anteil an der gesamten Erwerbsbevölkerung ohnehin. Es stellen sich Fragen wie: Können Kategorien der Meinungsforschungsinstitute wie Einkommen, Bildung oder der selbst angegebenen Identität der Wählerinnen und Wähler wirklich ein Stellvertreter für die einstige Kategorie »Klasse« sein? Oder die Unterschiede zwischen Stadt und Land?
Solche Kategorien und Untergruppierungen sind offensichtlich weit entfernt vom marxistischen Verständnis von Klasse als Ausdruck eines Kampfes mit Fokus auf den Besitz der Produktionsmittel.
Der Haken ist: Für den politischen Anspruch, die Arbeiterklasse zu vertreten, muss man keine präzise Definition dieser Klasse vorlegen.
In den Botschaften der Rechten wird oft auf gewisse Einstellungen und Werte angespielt, die eine »authentische Arbeiterklasse-Mentalität« vorgaukeln sollen. So betonen selbst die reichsten Trumpisten, Tory-Vertreter und andere Rechte ihren (vermeintlichen) Arbeiterklasse-Hintergrund und ihre kulturelle Verbundenheit mit den »Abgehängten«. Liberale Medien, die vor »Populismus« warnen, tun indes das Gegenteil: MSNBC, der Guardian oder Le Monde würden gewerkschaftlich geführte Mobilisierungen als Reaktion auf schlechte Sozialpolitik – beispielsweise die Streiks gegen die Rentenreform in Frankreich 2023 – vermutlich nicht als »Anliegen der Arbeiterklasse« bezeichnen. Bei [weitgehend negativ konnotierten] Protesten gegen Umweltschutzmaßnahmen oder Immigration wird hingegen gerne auf die Ängste der »Abgehängten« aus der Arbeiterklasse verwiesen.
»Arbeiterklasse« wird somit eng als eine bestimmte Identität definiert, die sich aus Formen individueller oder »ererbter« Distinktion zusammensetzt. Kulturelle Merkmale (Akzente/Dialekte, Einstellung zu LGBTQ-Themen, ob man sein Butterbrot mit Wurst oder Käse belegt) werden mit eher berufsbezogenen Merkmalen (»Hast du einen Abschluss in Geisteswissenschaften? Hat dein Großvater in einer Fabrik gearbeitet?«) vermengt. Dadurch soll ein Stereotyp geschaffen werden: »So ist die Arbeiterklasse halt, und so war sie schon immer.« Damit schafft man auch den rhetorischen Effekt, demnach diese Sicht auf die Arbeiterklasse zeitlos und offensichtlich ist. Es braucht praktisch nur gesunden Menschenverstand, um zu wissen, wer, wie und was die Arbeiterklasse ist. Daher kann sich ein JD Vance ohne Weiteres zur »Stimme des Rust Belt« erklären – und ebenso leicht kann er einen Müllmann aus der Großstadt als »nicht authentisch« darstellen, weil dieser einfach zu nah an den Eliten lebt und arbeitet.
»Die Behauptung der Rechten klingt für viele Wählerinnen und Wähler überzeugend: Wo die Linke einst eine starke Basis in der Arbeiterklasse in den Fabriken hatte, tanzt sie jetzt vor allem nach der Pfeife von Minderheitenorganisationen.«
Einige sehen die Grundlage für eine solche konservativ-identitätspolitische Umdeutung von Klasse in der sich wandelnden Natur der Arbeit. Paul Mason hat über das Ende der Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts, die auf Massenbeschäftigung in Branchen wie Stahl und Kohle aufgebaut war, geschrieben. Er fragt dabei, ob sich die Linke überhaupt noch mit dem »Ex-Bergmann, der in der Kneipe sitzt und Migranten als Ungeziefer bezeichnet« befassen sollte. Schließlich sei dessen Verbindung zur Arbeit und zur Arbeiterklasse rückwärtsgewandt. Man könnte viele von Masons Veröffentlichungen als »post workerism« bezeichnen: »Workerism« war eine Strömung, die in den 1960er Jahren Fabrikarbeiter als zentrale Akteure der Geschichte identifizierte, sich dann aber von diesen abwandte und nach diversen anderen vermeintlichen Verkörperungen revolutionärer Subjektivität suchte.
Es gibt viele Erklärungen für den Wandel und die veränderten materiellen Interessen innerhalb der Arbeiterklasse. Untersuchungen in ehemaligen industriellen Kerngebieten der USA zeigen, dass der Anstieg der Beschäftigung im Dienstleistungssektor, die Abhängigkeit älterer Bevölkerungsgruppen von Medicare oder privatem Wohneigentum die Lebenswelt der Arbeiterbewegung und die darauf aufbauende Klassenidentität verändern.
Wenn nun Trump gegen die Demokraten in West-Pennsylvania gewinnt oder Menschen in ehemaligen kommunistischen Hochburgen in Nordfrankreich für die Partei von Le Pen stimmen, könnte man leicht zu dem Schluss kommen, dass sich die Arbeiterklasse an sich einem protektionistischen Nationalismus zugewandt hat. Diese offenbar naheliegende Lesart muss jedoch in zweierlei Hinsicht relativiert und hinterfragt werden. Erstens ist die Behauptung, dass der Großteil der Wählerschaft, die Trump oder Le Pen wählen, »abgehängt« ist oder sozialen Abstieg erlebt, unzureichend belegt. Ebenso ist keineswegs klar, dass sogenannte aufstrebende Wähler (jünger, mit Aufstiegschancen, mit dem Wunsch nach Wohneigentum) quasi von Natur aus der radikalen Rechten abgeneigt wären. Zweitens muss eine bestimmte Annahme über die frühere Arbeiterklasse infrage gestellt werden – nämlich, dass sie eine homogene linke Kraft war. Anders gefragt: Inwieweit stimmt überhaupt die Annahme, dass eine Konzentration von Arbeitern an bestimmten geografischen Orten in ihnen das Gefühl eines gemeinsamen Klasseninteresses entstehen ließ, das von der Linken politisch am besten repräsentiert werden konnte?
Im Juni postete Giorgia Melonis Partei Fratelli d’Italia ein Video auf Instagram. Darin war die Vorsitzende der sozialdemokratischen Partito Democratico, Elly Schlein, zu sehen, die auf einem Wagen bei der Pride-Parade in Rom tanzte. Im Untertitel hieß es: »Die Linke hat die Fabriken aufgegeben. Hier seht ihr, wo sie jetzt ist.«
Der erste Teil dieser Aussage – der Vorwurf, Schleins Partei habe die Arbeiterklasse verloren – schien sich in der jüngsten Europawahl zu bestätigen: Umfragen zufolge hatten die Fratelli d’Italia bei den Arbeitern 39 Prozent der Stimmen erreicht. (Um nochmals auf die soziologischen Einschränkungen von vorhin zurückzukommen: Es stimmt, dass nur zwei Fünftel dieser gesellschaftlichen Gruppe überhaupt gewählt haben – was wiederum bedeutet, dass nur etwa 16 Prozent dieser Wahlberechtigten tatsächlich Melonis Partei unterstützten. Mit einer solchen Messmethode liegen die Sozialdemokraten allerdings bei gerade einmal sieben Prozent.)
Die Behauptung der Rechten klingt für viele Wählerinnen und Wähler überzeugend: Wo die Linke einst eine starke Basis in der Arbeiterklasse in den Fabriken hatte, tanzt sie jetzt vor allem nach der Pfeife von Minderheitenorganisationen. Nochmals: Es stimmt, dass zwar eine große Minderheit der Arbeiterschaft für Fratelli d’Italia gestimmt hat, aber weitaus mehr nicht gewählt haben und die Anhänger der Partei somit nur einen relativ kleinen Teil der wahlberechtigten Bevölkerung in dieser Klasse ausmachen. Dennoch kann ein rechter Akademiker wie Matthew Goodwin die Fratelli vor diesem Hintergrund als eine Partei bezeichnen, die die »weiße Arbeiterklasse« Italiens vertritt, und diese Behauptung mit der deutlich schwammigeren Aussage verbinden, dass ihre Basis aus »Menschen besteht, die sich von der Elite im Stich gelassen fühlen«.
»Große Teile der Arbeiterklasse wählen rechte Parteien, gerade weil sie dies als in ihrem materiellen Interesse liegend ansehen.«
Auffällig ist hier die häufige Darstellung, nationalistische Parteien hätten vormals linke Arbeiter für sich gewonnen. Umfragedaten aus mehreren Ländern zeigen aber, dass nur eine kleine Minderheit der Wählerinnen und Wähler direkt von links nach (ganz) rechts wechselt. Die viel wichtigere Dynamik ist ein jahrzehntelanger Rückgang der Gesamtstimmen aus der Arbeiterklasse für die Linke und gleichzeitig eine Radikalisierung derjenigen Teile der Arbeiterschaft, die schon früher für konservative und rechte Parteien gestimmt haben. Man sieht hier also eher eine zersplitternde, sich langsam auflösende Linke statt ein vermeintlich neues rechtes Abstimmungsverhalten der gesamten Klasse (»Class vote«).
Dennoch bleibt es ein überzeugendes Argument der Rechten, die Linke habe die Arbeiterschaft vernachlässigt und man selbst vertrete sie besser. Dabei wird auch eine gewisse »moralische Würde«, die traditionell mit der Arbeiterklasse assoziiert wird, genutzt: So kombiniert die Rechte positive Eigenschaften, die Arbeiterjobs zugeschrieben werden (»ehrliche Arbeit«, wichtiger Beitrag zum Volksvermögen, selbstlose Versorgung der eigenen Familie), mit einem Opfer-Narrativ im Hinblick auf Identitätspolitik (die arroganten, studierten Städter schreiben vor, was man zu denken hat; »man darf ja nichts mehr sagen«).
So wird eine Arbeiteridentität – selbst wenn man teilweise noch die Sprache der historischen Arbeiterbewegung benutzt – mit eher vagen, klassenübergreifenden Chiffren wie »hart arbeitende Leute« vermischt.
Zahlreiche Publikationen über rechte Wähler aus der Arbeiterschicht gehen von der Annahme aus, dass Wahlen zunehmend durch kulturelle Reizthemen und nicht durch wirtschaftliche Fragen entschieden werden. Thomas Franks What’s the Matter with Kansas? befasst sich beispielsweise damit. Immer wieder kommt Frank auf die These zurück, dass Konservative die Arbeiterinnen und Arbeiter in Kansas davon überzeugt haben, »gegen ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen abzustimmen«. Seine eigentliche Absicht war es, die Demokraten dafür zu kritisieren, dass sie keine echte ökonomische Alternative anzubieten haben. Allerdings ist die Idee, dass rechtswählende Arbeiter [grundsätzlich] nicht für ihr eigenes unmittelbares wirtschaftliches Interesse stimmen, übertrieben.
Denn in einem kürzlich erschienenen Buch über die Le-Pen-Wählerschaft im Südosten Frankreichs versucht der Soziologe Félicien Faury, die Prioritäten derjenigen Teile der arbeitenden Bevölkerung zu verstehen, die ihre Stimme einer nationalistischen, einwanderungsfeindlichen Partei gegeben haben. Er stellt fest, dass es sich dabei nicht um politisch überzeugte Aktivisten oder gar Parteifunktionäre handelt und dass ihr Wahlverhalten in der Vergangenheit sehr gemischt war. Sie sind nicht als Rassemblement-Mitglieder organisiert und sehen ihre Präferenzen und Annahmen oft nicht als »einer bestimmten Partei nahestehend« an. Dennoch versucht Faury, ihre Entscheidungen aus ideologischer Sicht zu verstehen. Er stützt sich dabei auf die Theorie der »moralischen Ökonomie« des Historikers Edward P. Thompson. Demnach gibt es moralische Grundannahmen von Recht und Gerechtigkeit (insbesondere ökonomischer Gerechtigkeit), die politischen Handlungen und Einstellungen zugrunde liegen.
Die von Faury Befragten äußern oft die Ansicht, dass harte Arbeit eine grundsätzlich gute Sache ist, sich aber nicht mehr auszahlt. In der besagten, relativ wohlhabenden Region in Südostfrankreich haben diese Menschen hauptsächlich sichere Arbeitsverhältnisse (beispielsweise im öffentlichen Dienst oder zumindest in Anstellungen mit unbefristeten Verträgen) oder sie führen ihr eigenes Kleinunternehmen. Sie gehören somit nicht zu den Ärmsten der Armen; aber sie haben Abstiegsangst und spüren Druck auf ihre derzeitige Situation/Position. Diese Ängste werden oft in lakonischen Aussagen wie »Wir arbeiten genug, um nichts davon zu haben« ausgedrückt. Damit verweisen sie auch auf die Sozialleistungen oder Steuererleichterungen, die andere – diese »unverbesserlichen Faulpelze« oder andere »Unfähige«, insbesondere Migranten – umsonst erhalten. Es ist in gewisser Weise ein Treten nach unten und oben, gegen die untersten Reihen der Gesellschaft (gegen die »Schmarotzer«) sowie gegen die Eliten, die dieses Verhalten durchgehen lassen.
»Die Rechte nutzt aktuell die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse als identitären Gegenpol zu anderen Zugehörigkeiten.«
Die aus dieser moralischen Ökonomie folgenden Wahlentscheidungen spiegeln somit durchauswirtschaftliche Fragen und Interessen wider. Diese Wählerinnen und Wähler erklären, dass sie selbst hart arbeiten, aber im Vergleich zu anderen, die dies nicht tun, benachteiligt seien. Sie sind nicht grundlegend gegen den Staat eingestellt, zweifeln aber an der Zuverlässigkeit der Behörden und Sozialsysteme. Sie wollen sich im Falle eines Unfalls auf den Sozialstaat verlassen können, aber sie misstrauen einer vermeintlichen »Sozialhilfe-Kultur«, die gewissen Leuten ein Leben auf Kosten anderer ermögliche. Sie sind stark von der Idee einer Leistungsgesellschaft geprägt, haben aber das Gefühl, dass eine solche in der Praxis nicht mehr existiert. Wenn sie nach oben blicken, widert sie die Arroganz der Hochgebildeten ebenso an wie die Exzesse der Superreichen, aber sie haben nichts gegen Werte wie »Unternehmergeist« an sich.
Faurys Beispiele zeigen außerdem, wie diese »respektable« moralische Ökonomie von rassistischen Lesarten der gesellschaftlichen Lebensrealität durchdrungen ist. Wie auch in anderen aktuellen Studien – beispielsweise Violaine Girards Le Vote FN au village – zeigt sich nämlich, dass die radikale Rechte weit über die verzweifeltsten oder wirklich »abgehängten« Teile der Arbeiterklasse hinaus Fuß fassen kann. Faury ist besonders skeptisch gegenüber Umfragen, in denen die Befragten gebeten werden, ihre politischen Prioritäten zu gewichten (»Was ist Ihnen wichtiger: Die Sorge bezüglich Einwanderung oder wie viel Geld Sie am Ende des Monats haben?«). Denn seiner Meinung nach zeigt sich im Selbstverständnis dieser Wählerinnen und Wähler eine eindeutige Vermischung dieser unterschiedlichen Phänomene: »Ich selber habe hart gearbeitet, um voranzukommen. Jetzt habe ich Probleme, weil Minderheiten unfairerweise bevorzugt werden.«
Das bedeutet: Große Teile der Arbeiterklasse wählen rechte Parteien, gerade weil sie dies als in ihrem materiellen Interesse liegend ansehen (beziehungsweise sehen sie angesichts des politischen Angebots, das zur Auswahl steht, keine gute Alternative). Dabei gilt auch zu bedenken, dass beispielsweise Personen, die die grüne Wende für notwendig halten, sich gleichzeitig Sorgen über die entsprechenden Folgen für ihr eigenes Leben machen können: So besteht beispielsweise die Angst, dass Steuererhöhungen das Unternehmen, bei dem sie angestellt sind, in den Ruin treiben; und möglicherweise leben sie darüber hinaus weit entfernt von alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten. Eine Arbeiterin, die ein Haus besitzt, sich aber keine neue Wärmeisolierung leisten kann oder ein Auto braucht, um zur Arbeit zu pendeln, ist eher gegen Ökosteuern als jemand, der in einer Wohnung mit Mietpreisbindung lebt. Darüber hinaus – so vermuten Faury und Girard – könnte sich erstgenannte Arbeiterin aber auch vehement gegen den Bau von Sozialwohnungen in ihrem eigenen Lebensumfeld wehren, weil sie dadurch die Ankunft von »unwürdigen«, rassifizierten Armen fürchtet.
Bis hierhin habe ich versucht darzustellen, wie die Rechte in vielen westlichen Ländern die überzogene Behauptung aufstellt, »die Arbeiterklasse« zu vertreten, während sie eine bestimmte Klassen-Identitätspolitik einsetzt, mit der auch kleinbürgerliche und sogar wohlhabende Wählerschichten angesprochen werden, die das Gefühl haben, in irgendeiner Form Opfer diverser Ungerechtigkeiten zu sein, die eine Elite von oben herab durchsetzt.
Dies funktioniert aber größtenteils, weil die Rechten damit offene Türen einrennen. Die »Arbeiterklassenidentität« ist offen für solche Vereinnahmungen von rechts, weil die Linke in diesen westlichen Ländern das Thema soziale Klassenerfahrung nahezu vollständig aus ihrem Vokabular gestrichen hat – oder sogar führend dabei ist zu verkünden, dies sei einfach nicht mehr relevant.
Die rechte Klassen-Identitätspolitik bedient sich dabei aber auch Fragmenten eines größeren Narrativs, das früher von der Linken erzählt wurde. Die sozialistische Botschaft der Klassensolidarität – »mit der eigenen Klasse aufsteigen, nicht aus ihr heraus« – spiegelte sich in ihrem Aufstieg sogar innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft: Die Linke bezog ihre Stärke aus einer gewissen Effektivität bei der Durchsetzung gesellschaftlich-sozialer Reformen. Sie war damit sowohl der Beweis für den Erfolg vergangener Organisationsbemühungen als auch die Plattform für den weiteren Aufbau hin zu einer besseren Zukunft. Um ein anderes Bild von E. P. Thompson zu verwenden: Klasse war keine »mathematische« Realität, die erst durch kapitalistische Ausbeutung definiert wurde, sondern eine, die sich durch ihre eigenen »Beziehungen, Ideen und Institutionen« selbst »erschuf«.
»Selbst Arbeiter, deren Jobs wenig strategische Bedeutung hatten, konnten sich mit der gesellschaftlichen Macht beispielsweise der Bergmänner identifizieren.«
Es ist nicht nur so, dass die Linke früher den Traum von einem wunderschönen sozialistischen Morgen bot, wohingegen wir uns heute an individualistische Versionen von Bildung, »Leistungsgesellschaft« und sozialer (Un-)Durchlässigkeit gewöhnt haben. Nein, es ist vielmehr so, dass die Linke derartige Themen einst in einer umfassenden Vision von kulturellem Fortschritt und dem Erkämpfen der tatsächlichen Kontrolle über unser Schicksal vereint hat.
Eine solche Vision, um die herum man sich organisieren konnte, schuf auch eine Klassenidentität, in der Individuen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen, Lebensumständen und Perspektiven zusammenfinden konnten. Selbst Arbeiter, deren Jobs wenig strategische Bedeutung hatten, konnten sich mit der gesellschaftlichen Macht beispielsweise der Bergmänner identifizieren. Eine Figur wie der malochende Kumpel im Schacht, der ebenso hart arbeitend wie auch kämpferisch erscheint, symbolisierte die Notwendigkeit der Arbeiterklasse für die gesamte Gesellschaft ebenso wie ihre Macht, die Bedingungen ernsthaft zu verändern. Doch mit der Deindustrialisierung kam es zu einer Aushöhlung dieser Macht der Arbeiterbewegung und damit verbunden auch zum Verschwinden dieses kollektiven Stolzes. Arbeiter-Identität ist zunehmend zu einer individuellen Selbstwahrnehmung geworden. Die Geschichte des besagten Ex-Bergmanns ist zu einer Opfer-Story geworden: Er verkörpert heute das Alte und steht wie ein Symbol für die Verachtung der Elite für eine marginalisierte Arbeiterklasse.
Die Rechte nutzt aktuell die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse als identitären Gegenpol zu anderen Zugehörigkeiten. In dieser Sicht ist die heutige Arbeiter-Identität keine einigende Kraft, die kollektive Ambitionen und Interessen voranbringt, sondern eine Erwiderung auf die Forderungen von Minderheitengruppen, mit denen um die letzten Brosamen gekämpft wird. Während konservativ oder rechts eingestellte Arbeiter schon seit Langem ihre Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse anführen, um ihre Ablehnung von Streiks oder Sozialausgaben zu rechtfertigen, so ist dies heute die vorherrschende Art und Weise, wie »die Arbeiterklasse« in der Mainstream-Politik überhaupt noch erwähnt wird. In der rechten Lesart sind die wirklich authentischen, hart arbeitenden Menschen diejenigen, die ihren Platz in der Gesellschaft akzeptieren – und die es nicht hinnehmen, dass gewisse »Opfergruppen« die öffentlichen Kassen mit »unberechtigten« Forderungen belasten.
Linke Parteien haben oft Schwierigkeiten, auf solche Aussagen zu reagieren. Sie beschränken sich darauf zu betonen, dass die (berechtigte) Wut besser gegen die herrschende Klasse gerichtet werden sollte. Vielleicht liegt das Problem aber daran, dass Rhetorik und Verweise auf Klassenidentität und Klassenmacht als ein notwendiger Bestandteil der politischen Mobilisierung erkannt werden müssen – und dass die Linke nicht genug tut, um eine gewisse Klassenidentität in den Vordergrund zu stellen. Aus marxistischer Sicht ist es durchaus richtig zu sagen, dass Klasse kein individuell gehaltenes Attribut oder eine persönliche Identität ist, sondern Ausdruck eines sozialen Ausbeutungsverhältnisses. Ein solcher analytisch-theoretischer Punkt ist aber nicht sonderlich nützlich, um die Art und Weise zu beeinflussen, wie Menschen über sich selbst und ihre politischen Entscheidungen denken.
Wenn Rechte sagen, die Linke habe die Arbeiterklasse im Stich gelassen, reicht es im Gegenzug nicht aus, darauf hinzuweisen, dass »vernetzte Subjekte« oder »die Mehrheit« oder »die Marginalisierten« im Allgemeinen den Kampf doch noch aufrechterhalten oder dass die Linke die Anliegen der »Benachteiligten« stets im Herzen trägt.
JD Vance und seinesgleichen nutzen es clever aus, dass Arbeiterklassen-Identität nach wie vor ein mobilisierender Faktor sein kann und der Wunsch nach echter Mitsprache und Gestaltungsmacht, der historisch mit einer starken Arbeiterklasse verbunden wurde, attraktiv bleibt. Wenn wir wirklich die »für die Arbeiterschaft beste Wirtschaft aller Zeiten« aufbauen wollen, sollte die Linke wieder für sich beanspruchen, diese Identität zu repräsentieren.
David Broder ist Europa-Redakteur von JACOBIN und Autor von Mussolini’s Grandchildren: Fascism in Contemporary Italy (Pluto Press, 2023).