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Extremismus der Mitte

Nachtwey

Im Jahr 1895, als die Stimmenanteile der SPD im Kaiserreich stetig wuchsen, sah Friedrich Engels einen unaufhaltsamen »Naturprozess« am Werk: »Geht das so voran, so erobern wir bis Ende des Jahrhunderts den größeren Teil der Mittelschichten der Gesellschaft, Kleinbürger wie Kleinbauern, und wachsen aus zu der entscheidenden Macht im Lande, vor der alle andern Mächte sich beugen müssen, sie mögen wollen oder nicht.«


Er irrte sich, wie wir heute wissen, gewaltig. Aber er erkannte schon damals, dass das Wachstum des Proletariats für das Erzielen demokratischer Mehrheiten nicht ausreichen würde. Um Wahlen zu gewinnen und legislative und exekutive Handlungsmacht zu erlangen, war man auf Gruppen jenseits der eigenen Kernklientel angewiesen: auf die Bauern, vor allem aber auf die Mittelschichten. Die Marxisten von damals gingen davon aus, dass die Mittelschicht entweder durch ökonomische Krisen ins Proletariat übergehen oder sich ihm aus besserer Einsicht politisch anschliessen würde. Aber auch dies ist nicht geschehen. Trotz aller demographischen Veränderungen und programmatischen Anpassungen gelang es der Sozialdemokratie nie, eine absolute Mehrheit zu erringen.


In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts änderten nicht nur die Sozialdemokraten, sondern alle weltanschaulichen Parteien ihre Strategie. Sie wurden zu sogenannten »Volksparteien«. Die Sozialdemokratie wurde damit zwar mehrheitsfähig, aber zu einem hohen Preis: Mit ihrer Öffnung für die Mittelschichten untergrub sie langfristig ihre eigene Klassenbasis. Der Typus der Volkspartei, der zur Mitte strebt, entstand mit der CDU gleichermaßen auch im rechten Lager.

In den Volksparteien wurde schließlich eine Denkweise dominant, die der Politologe Anthony Downs als die »ökonomische Theorie der Demokratie« bezeichnet hat. Das oberste Ziel der Parteien war nicht länger die Durchsetzung einer Weltanschauung oder die Repräsentation der eigenen Klientel, sondern schlicht  die Maximierung der Stimmen auf dem »Wählermarkt«. Von entscheidender Bedeutung für die Parteien ist seitdem der sogenannte Median-Wähler. Die eigene Partei oder zumindest das eigene Lager müsse diese Mitte erreichen, andernfalls würde man keine Mehrheiten erzielen.

Weil man aber – nicht ganz zu Unrecht – annahm, dass der Median-Wähler zur Mittelschicht der Gesellschaft gehört und die Mitte sich schnell ängstigt, verzichtete man im linken Lager zunehmend auf jegliche radikale Attitüde. Bald wollte man die Mitte nicht einmal mehr für die Sache der Arbeiterklasse gewinnen. Da man sich in der Zwischenzeit mit dem Kapitalismus arrangiert hatte, versprach man umgekehrt den Arbeiterinnen und Arbeitern den sozialen Aufstieg in die Mittelschicht.

Durch diesen Prozess, der in Gerhard Schröders 1998er Wahlkampfslogan »Die neue Mitte« seinen vorläufigen Höhepunkt fand, rückte die Mittelschicht in den Fokus der Sozialdemokratie. Man dachte zu diesem Zeitpunkt ganz unverhohlen im Sinne von Downs’ Theorie: Die verbliebenen Arbeiterinnen und Arbeiter würden der SPD ohnehin ihre Stimmen geben, egal, was die SPD machen würde. Doch man behielt damit nur kurzfristig recht.

Der Zug zur Mitte besaß durchaus eine materielle Grundlage: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten sich die Arbeits- und Lebensrealitäten vieler Arbeiterfamilien verbessert – die Mittelschicht war tatsächlich größer geworden. Was man in der SPD erfolgreich verdrängte, war die Fortexistenz einer Klassengesellschaft, in der nach wie vor ein großer Teil der Menschen in untergeordneten Positionen arbeiten und leben musste. Auch blendete man aus, dass die Mitte im Kapitalismus nicht unendlich wachsen kann. Mehr als zwanzig Jahre später ist die SPD eine Partei, die vor allem aus bildungsaufgestiegenen Kindern früherer Arbeiterfamilien besteht, aber gerade aufgrund ihrer Metamorphose zur Volkspartei ihre Verankerung in der Arbeiterschaft weitgehend verloren hat.

Auch die CDU hat sich, insbesondere in der Ära Merkel, stark vom Profil einer klassischen konservativen Partei entfernt. Getragen wird sie zwar immer noch von ökonomischen und politischen Honorationen, in die Mitte gerückt ist sie aber trotzdem – und zwar aus dem einfachen Grund, dass die Gesellschaft insgesamt liberaler geworden ist: Rassismus und Homophobie sind in der Öffentlichkeit weitgehend verpönt (wenn auch längst nicht verschwunden), die Hausfrauenehe wollen nur noch einige Anhänger eines ehemaligen Blackrock-Managers aus dem Sauerland restaurieren. 

Bei den Grünen ging der Zug zur Mitte besonders schnell, schließlich waren sie Rudi Dutschkes »Marsch durch die Institutionen« angetreten, nachdem sie vom revolutionären Potenzial der außerparlamentarischen Politik enttäuscht wurden. Da ihre Anhängerschaft aus hochqualifizierten Akademikerinnen und Akademikern bestand, die später einmal Karriere machen würden, war die Partei trotz ihrer radikalen Anfänge von vornherein an die besserverdienende Mittelschicht gebunden.

Nur für die FDP scheint die Anziehungskraft der Mitte nicht zu gelten. Sie wird voraussichtlich immer eine Klientelpartei für Anwältinnen und Apotheker bleiben, die, wenn es opportun erscheint, sozialliberal auftritt, sich aber auch immer eine Hintertür zum Rechtspopulismus offenhält.

Im neuen Jahrtausend haben sich Sozialdemokratie und Christdemokratie immer weiter angenähert. Die Volksparteien verfolgen nun schon länger nicht mehr die Repräsentation ihrer Klientel, sondern allein die Erlangung von parlamentarischer Macht. Die CDU regiert nunmehr seit sechzehn Jahren ununterbrochen, davon elf zusammen mit der SPD. Letztere ist wiederum mit Unterbrechung nur einer Legislaturperiode seit 1998 insgesamt achtzehn Jahre in der Regierung. Die fatale Konsequenz: Die Logik der Volksparteien griff umso stärker, je dünner die Bindungen zu den alten Organisationen, Weltanschauungen und Anhängerschaften wurden. Die SPD erlebte in der Folge zwei Abspaltungen nach links: erst die Grünen, dann die Linkspartei. Die CDU hatte eine offene Flanke nach rechts, die von der AfD ausgenutzt wurde. 

Der Zug zur Mitte entsprach einem prosperierenden, sich relativ stabil entwickelnden Kapitalismus, der zumindest im Westen ideologische Konflikte mehr und mehr in den Hintergrund treten ließ. Diese Konstellation ist jedoch schon länger Geschichte. Seit den 1970er Jahren ist der Kapitalismus instabiler geworden: Die Wachstumsraten nehmen ab und Finanzkrisen, die nur mithilfe von Billionen an staatlichen Mitteln überwunden werden, treten mit erstaunlicher Regelmäßigkeit auf. Diese zunehmende Unsicherheit schuf auch die Grundlage für eine gewisse Re-Ideologisierung des Parteiensystems, die in den 1980er Jahren begann und seitdem Fahrt aufnimmt. Als erstes re-ideologisierte sich die Mitte selbst: Zwar traten die Regierungsparteien nach wie vor betont anti-ideologisch auf, in Wirklichkeit erhoben sie aber gleichzeitig den ökonomischen Liberalismus zur vermeintlich alternativlosen Leitideologie. Der Sozialist Tariq Ali spricht in diesem Zusammenhang von einem »extremen Zentrum«, das zunehmend die politischen Geschicke der westlichen Demokratien bestimmt.

Angela Merkel und Gerhard Schröder vertraten während ihrer Kanzlerschaften beide die Perspektive des extremen Zentrums, die alle Abweichungen als radikal, unrealistisch, ja sogar als demokratiegefährdend darstellt. Im Inneren dieses radikalen Zentrismus herrscht ein starker Konsens: Alle bekennen sich zur liberalen Demokratie, zur Mittelschicht, zur Marktwirtschaft und zum Sozialstaat. SPD und Grüne sind programmatisch nur in Nuancen zu unterscheiden. Und selbst die CDU bekennt sich in Worten zu Klimaschutz und einer liberalen Familien- und Gleichstellungspolitik.

Hier liegt das Paradox des extremen Zentrums: Je gravierender die soziale Fragmentierung und Ungleichheit wurde, desto stärker der Zug der Volksparteien hin zur Mitte. Sie glaubten nicht, bei Wahlen davon profitieren zu können, wenn sie sich der Themen der Unterklassen wieder stärker annähmen. Das aber hat eine doppelte Krise der Repräsentation der unteren Klassen und ihrer Anliegen zur Folge – erstens werden ihre Interessen weniger durchgesetzt und zweitens wenden sie sich von der Politik ab. 

Es ist zudem schwierig geworden, sich in dieser Konstellation strategisch zu platzieren. Einerseits will die real existierende Mittelschicht ihren Status und ihre kulturelle Distinktion zur Unterklasse behalten, andererseits wurde der Unterklasse selbst über die letzten Jahrzehnte systematisch der Stolz und die Würde genommen, Arbeiterin oder Arbeiter zu sein. Arbeitende werden nicht mehr als Leistungsträger  angesehen, sondern als Menschen, die nicht genügend Aufstiegswillen aufgebracht haben.

Mit der Radikalisierung der Mitte entstand auch ein politisches Vakuum für eine Opposition, die sich nicht davor scheut, sich zur Anwältin der Verlierer zu machen. Die Linkspartei, die inzwischen seit sechzehn Jahren im Bundestag sitzt und für sich beansprucht, die Stimme der Ausgegrenzten zu sein, konnte diese Lücke im Parteiensystem allerdings nur zeitweise füllen. Zwar gelang es ihr in den ersten Jahren nach ihrer Gründung noch, als Anti-Establishment-Kraft dazu beizutragen, dass gesellschaftliche Ressentiments nach links kanalisiert wurden. Insgesamt profitiert die Partei aber nicht von der Krise des politischen Systems, sondern stagniert bestenfalls. 

Derweil versucht die AfD, eine rechte Klassenidentität der »einfachen« oder »normalen Leute« zu schaffen, die eine Koalition aus national-chauvinistischem Kleinbürgertum und bestimmten Teilen der Arbeiterschaft erzeugt. Der letztere Teil ist amorph und fluide, er besteht aus Arbeiterinnen und Arbeitern, die entweder schon zuvor nationalistischen Ideen anhingen – es ist leider eine Illusion, dass eine subalterne Position in der Gesellschaft jemanden automatisch progressiv werden lässt –, oder sich in den letzten Jahrzehnten vom linken Lager verabschiedet haben, um die soziale Frage national zu beantworten. Letztere wandeln ihre Enttäuschung über die Linke nicht selten in Ressentiments gegenüber »dem Establishment« (wozu sie die linken Parteien zählen), dem Linksliberalismus oder den Migranten um. Der Aufstieg der AfD ist aber längst nicht mehr ungebrochen – ihre Expansion scheint ein Ende gefunden zu haben. Dennoch wird sie bis auf Weiteres ein starker Akteur bleiben.

Ob schon nach dieser Wahl oder erst in vier Jahren: Das Zukunftsmodell der Mitte scheint Schwarz-Grün zu werden. Nicht nur sind die alten ideologischen Unterschiede weitgehend verschwunden, auch hat sich ein gemeinsamer Konsens von liberaler Marktwirtschaft und liberaler Sozialpolitik herausgebildet. Die Landesregierungen in Hessen und Baden-Württemberg führen den Arbeitsmodus dieses neuen extremen Zentrums vor: mehr, aber nicht zu viel Ökologie, die Sicherung des Wirtschaftsstandorts und eine Politik, die den Anspruch alter wie neuer Mittelschichten auf (nun elektrische) PKW und Distinktion gegenüber der Unterklasse garantiert.

Obwohl sich viele Menschen, die früher links wählten, nicht von dieser neuen Mitte mitgenommen fühlen, sieht es nicht danach aus, als würden die zwei nominellen Arbeiterparteien politisch davon profitieren. Die SPD ist zu sehr auf ihren Mitte-Kurs eingeschossen, während die Linkspartei immer noch von ihren innerparteilichen Konflikten der letzten Jahre erschöpft wirkt, die sich nicht zuletzt um die richtige Orientierung zwischen Mitte und Kernklientel gedreht haben. Sie wirkt aus der Zeit gefallen, denn sie hat es versäumt, sich programmatisch und politisch auf die Zeit nach Merkel und Trump einzustellen. Ein Wahlkampf mit »Gerechtigkeit – jetzt« ist irgendwie immer richtig, aber auch ziemlich uninspiriert. Das ist allerdings kein Wunder, wenn einer der beiden Spitzenkandidaten nun schon seit dreißig Jahren an der Parteispitze steht und noch nie durch politischen Esprit oder strategisches Können jenseits des eigenen Machterhalts aufgefallen ist. 

Dabei spielt die globale Konstellation der Linkspartei in die Hände. Die Weltwirtschaft wird seit Jahren mit staatlichen Mitteln künstlich am Leben erhalten, die Wälder brennen und die Meeresspiegel steigen. US-Präsident Joe Biden, alles andere als ein Linker, sieht sich aus einer Vielzahl von Gründen gezwungen, dem Kapitalismus seines Landes eine neue Infrastrukturpolitik aufzusetzen, die tatsächlich eine post-neoliberale Ära einläuten könnte. Hier entsteht ein neues Möglichkeitsfenster für linke Politik und damit eine neue Chance für die Linke – wenn sie sie zu nutzen weiß. 

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Der Zug zur Mitte

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