27. September 2024
Die Abspaltung des BSW hat die Linke geschwächt. Doch wer deswegen fordert, den Linkskonservatismus in ein sozialistisches Projekt zu integrieren, erliegt dem Opportunismus. Eine Replik.
Über die Jahre hat die Linke Substanz verloren. Wer soll die neue Basis der Partei bilden?
»Die Linke hat ein falsches Verständnis von Progressivität übernommen und sich damit ihrer Klassenbasis beraubt«, urteilte Michael Brie nach der Europawahl. Aus Bries Beitrag spricht das Bedauern über die Abspaltung des Bündnisses Sahra Wagenknecht. Aus seiner Sicht ist damit einer von zwei Flügeln weggebrochen, ohne den die Linkspartei nicht mehr flugfähig ist. Doch die Metapher ist schief: Der Erfolg des nun unabhängig organisierten Linkskonservatismus baut auf Opportunismus und mobilisiert Ressentiments. Mit ihm gehen zunächst Stimmen verloren, aber kaum linke politische Substanz. In seiner politischen Praxis finden sich keine Rezepte für linken Fortschritt im Hier und Jetzt, geschweige denn Puzzleteile für die gesuchte sozialistische Strategie. Die gilt es anderswo zu suchen.
Zunächst ist Bries Analyse der nicht erfolgreichen Wahlstrategie der Linken anhand der vorliegenden Zahlen fraglos nachvollziehbar: Die Zugewinne von enttäuschten Wählern der Grünen oder neu überzeugten Bewegungslinken konnten nicht annähernd aufwiegen, dass viele ehemalige Wählerinnen der Linken entweder gar nicht mehr zur Wahl gingen oder ihr Kreuz beim BSW machten. Die von Brie diagnostizierte Entfremdung zwischen Partei und bestimmten Sektoren der arbeitenden Klasse ist ebenfalls kaum zu leugnen. Die Wahlerfolge einer linkskonservativen Partei sind Ausdruck dieser Entfremdung.
Hier macht Brie überzeugend deutlich, warum die »bessere Kommunikation« eines linken Programms nicht ausreicht, wenn zwischen Partei und den erhofften Empfängerinnen und Empfängern dieser Kommunikation erhebliche Wertedifferenzen bestehen. Wer progressiven Linken grundsätzlich nicht über den Weg traut, wird sie nicht wählen. Dass dieses Misstrauen, wie Brie betont, oft genug durch die prekäre Position der Arbeitenden innerhalb des Kapitalismus genährt wird, ist ebenfalls zutreffend. Eine Linke ohne überzeugende Machtperspektive kann ihre Versprechen schließlich kaum einlösen. Wer kann einer Linken, die etwa den Autoverkehr einschränken will, vertrauen, wenn sie im Gegenzug besseren öffentlichen Nahverkehr verspricht, aber zu erwarten ist, dass es den nicht geben wird?
Auch mit Migration und Coronamaßnahmen – zwei von Brie genannten Knackpunkten für fehlendes Vertrauen von Lohnabhängigen in die Linkspartei – verbundene ökonomische Ängste sind schwerer zu adressieren, wenn die grundsätzlich denkbaren linken Auffangmechanismen nicht durchsetzbar erscheinen. Rechte Angebote sind insofern glaubwürdiger, als das kräftige Nach-unten-Treten intuitiv machbarer wirkt – wie aktuell durch Bürgergeldsanktionen und die Ausrufung des »Bett, Brot, Seife«-Prinzips in der Asylpolitik vorgeführt wird.
»Im linkslibertären Spektrum wird zumindest versucht, Brücken zwischen den Milieus und Interessenlagen zu bauen, wenn auch mit wenig Erfolg.«
Für Brie muss linke Politik nun den routiniert bemühten Arbeiter da abholen, wo er ist, und seine Ansprüche dann in »solidarische Bahnen« lenken: ein altes linkes Rezept. Doch Brie liefert kaum Anhaltspunkte dazu, wie genau beide Schritte zu bewerkstelligen wären. Dabei reagieren die Strömungen auf diese Ausgangslage absolut gegensätzlich: Im linkslibertären Spektrum wird zumindest versucht, Brücken zwischen den Milieus und Interessenlagen zu bauen, wenn auch mit wenig Erfolg. Dagegen ergibt sich das linkskonservative Politikmodell der Logik der Rechten und grenzt sich opportunistisch von allem ab, das nicht engen Normvorstellungen entspricht. Wie also kann die Linke mit ihrem schwierigen Verhältnis zur Klasse umgehen?
Verwundern mag in diesem Kontext, dass Brie den von ihm wiederholt eingeforderten Klassenstandpunkt weitgehend subjektivistisch zu deuten scheint. Friedenspolitisch argumentiert er noch eher auf Grundlage abstrakter Vernunft, wobei dieses Feld ohnehin schwerlich unter Klassenpolitik subsumierbar ist. Bei Themen wie Pandemiepolitik, Migration und Umverteilung geht es dann im Grunde nur noch um die subjektiven Präferenzen bestimmter Milieus – in denen häufig ein Kern berechtigter ökonomischer und kultureller Interessen mit bewusst gestreuten Ressentiments und rechten Deutungsmustern ummantelt wird. Klassenpolitik droht sich damit auf das zu reduzieren, was arbeitende Leute da draußen eben momentan so wollen, aber von der Regierung nicht geliefert bekommen.
Eine Linke, die nicht eingesprungen sei, um diese Nachfrage zu bedienen, habe jedenfalls folgerichtig den imaginierten Arbeiter und letztlich jede politische Relevanz verloren, so Bries Argument, das hier einen endlos wiederholten linkskonservativen Glaubenssatz spiegelt. Doch lässt man sich so auf ein von rechts abgestecktes Spielfeld ein, läuft man Gefahr, entgegen der erklärten Absicht selbst vom Fokus auf ökonomische Klassengegensätze weg zu den obenauf liegenden Kulturkämpfen zu driften.
Mit Verweisen auf die Tücken eines progressiven Neoliberalismus betont Brie wiederholt die Nachvollziehbarkeit des »Konservatismus der Lohnabhängigen«. Bisweilen verschwimmt hier die Grenze zwischen dem Versuch, linkskonservative Haltungen als Voraussetzung für eine adäquate politische Reaktion nachvollziehbar zu machen, und deren tendenzieller Affirmation. Verbunden ist dies mit einer pauschalen Schelte linkslibertärer Positionen, deren Kritik der Ungleichheit keinen Begriff von Klasse und Kapitalismus habe – als bewiese die Existenz eines progressiven Neoliberalismus schon, dass progressive Haltungen unweigerlich zu Klassenverrat oder Selbstbetrug führen müssten.
Um diese Kritik auch auf in der verbleibenden Linkspartei verbreitete libertär-antikapitalistische Positionen anwenden zu können, erweist sich die Verkürzung des Klassenbegriffs aufs Subjektive als praktisch. Damit reproduziert Brie letztlich vor allem ein Klassengegensätze stabilisierendes Klischeebild, das Linken unterstellt, arbeitende Menschen zu verachten. Das zugrundeliegende, eigentliche Problem linker Politik wird nicht bearbeitet: dass unter Lohnabhängigen ideologische Muster verbreitet sind und werden, deren Umdeutung in Richtung neoliberaler Leistungsideologie und Sozialchauvinismus zumindest leicht genug fällt, um neoliberale Vorherrschaft effektiv zu stützen.
Ähnliches gilt für den Umstand, dass die soziale Besitzstandswahrung deutscher Lohnabhängiger gerade aufgrund deren widersprüchlicher Position in der globalen kapitalistischen Hackordnung nun mal in verschiedene Richtungen zielt. Nur eine davon ist emanzipatorisch: soziale Errungenschaften gegenüber neoliberaler Kahlschlagspolitik zu verteidigen. Bei eiserner Loyalität zum deutschen Exportkapitalismus die eigenen relativen Privilegien gegenüber Migranten und vermeintlichen Leistungsverweigerinnen zu verteidigen, die kein Stück vom Kuchen verdient hätten, läuft dagegen sozialistischen Bestrebungen zuwider – doch auch das ist ein regelmäßiger Ausdruck des »Konservatismus der Lohnabhängigen«. Sofern Sozialismus eigentlich einen internationalistischen Anspruch erhebt, verschärft sich der Widerspruch in Zeiten der Klimakrise noch. Wie kommt man nun in einer ressentimentgeladenen Umgebung den »solidarischen Bahnen« näher?
»An der Stelle dürfte Bries gescholtene Partei mit ihren sozialpolitischen Unterstützungsangeboten vor Ort nach wie vor die einzige Ausnahme darstellen, was ironischerweise nicht mal mehr intern viel Anerkennung zu finden scheint.«
Brie spricht wiederholt von »kollektiven Schutzrechten« gegen den grassierenden Individualismus, füllt diesen Begriff aber mit so wenig Substanz, dass sich nur mutmaßen lässt, welche Kollektive er als schutzbedürftig erachtet, und das Verhältnis von Kollektiv und Individuum im Dunkeln bleibt. Er wirft der Linken-Spitze vor, unter dem Deckmantel klassenverbindender Politik eigentlich »klassenspaltend« agiert zu haben. Doch bei dem Verständnis, das er migrationsskeptischen Haltungen entgegenbringt, während er migrationspolitische Positionen aus seiner Partei als »grenzenlos naiv« abqualifiziert, deutet sich an, dass die angepeilten »solidarischen Bahnen« allenfalls durch enge Grenzziehungen um die Solidargemeinschaft erreicht werden.
Die Linkspartei hat Brie zufolge »die Sicht von unten verlernt«. Welche Klassenpolitik ist nun von linkskonservativem Standpunkt aus möglich? War der entsprechende Parteiflügel hier wirklich ein Korrektiv? Das BSW beruft sich gleich explizit auf den »Mittelstand« und denkt Wirtschaftspolitik in bemerkenswertem Maße von der Kapitalseite her. Die Partei bewegt sich zwar in einem Spannungsfeld, in dem sie sich zugleich Forderungen aus Gewerkschaften und Parteien nach einer Erhöhung des Mindestlohns anschließt sowie Kinder- und Altersarmut thematisiert – sie macht in ihrem Programm aber deutlich, dass das »Ziel eine faire Leistungsgesellschaft« sei, in der Wohlstand »das Ergebnis von Fleiß und individueller Anstrengung sein« müsse. Wie so oft in der deutschen Parteienlandschaft rücken hier auch in der Sozialpolitik die Bedürfnisse des – häufig migrantisierten – untersten Fünftels in der Einkommensverteilung bisweilen gegenüber den Abstiegsängsten des zweiten oder dritten Fünftels in den Hintergrund, werden weniger Langzeiterwerbslose adressiert, gegen die bisweilen sogar explizit Stimmung gemacht wird, und mehr etablierte Facharbeiterinnen und Facharbeiter. An der Stelle dürfte Bries gescholtene Partei mit ihren sozialpolitischen Unterstützungsangeboten vor Ort nach wie vor die einzige Ausnahme darstellen, was ironischerweise nicht mal mehr intern viel Anerkennung zu finden scheint.
Sofern der Linkskonservatismus als Klassenprojekt verstanden werden will, stellt er sich in seinen Abwehrkämpfen selbst ein Bein. Die arbeitende Klasse wird zunehmend diverser. Es bleibt doch mehr als fraglich, wie eine derart eng umrissene Klassenfraktion – im Wesentlichen: weiß, männlich, konservativ – ihre kollektiven sozialen Errungenschaften gegenüber dem selbst nach rechts rückenden neoliberalen Machtblock effektiv verteidigen kann, wenn sie sich jederzeit bereitwillig gegen andere Fraktionen ausspielen lässt und auf jede Kulturkampffinte hereinfällt. So liegt nahe, dass der Verteidigungskampf vor allem im Modus des Nach-unten-Tretens geführt wird. Man kann dann immer noch hoffen, dass das Kalkül – schleichende Erosion sozialer Rechte, dafür erfolgreiche Abwehr von Inklusionsansprüchen der Ausgegrenzten – rein materiell für eine Weile aufgeht; das aber zum Preis einer gesellschaftlichen Dystopie, die nun gerade mit dem tatsächlich sehr nachvollziehbaren »konservativen« Wunsch nach Stabilität und Sicherheit kollidiert.
»Dass das Vorgehen des BSW an der Wahlurne deutlich erfolgreicher ist als die Positionen der verbliebenen Linkspartei, ist bitter. Ob das BSW der selbst propagierten Sozial- und Wirtschaftspolitik näherkommen wird, ist aber fraglich.«
Wie die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen erneut bewiesen haben, hat der Linkskonservatismus nun eine Parteirepräsentation, die den »Konservatismus der Lohnabhängigen« effektiver anspricht als die Linkspartei und in beeindruckende Wahlergebnisse übersetzt. Doch ein Versuch, auf dieser Grundlage »solidarische Bahnen« anzusteuern, ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Als politisches Projekt funktioniert das BSW – neben dem Feld Außenpolitik und teils auch darin – über eine Affektpolitik, die Ressentiments mobilisiert und damit letztlich die Spaltung der Lohnabhängigen vorantreibt. Wagenknecht erhebt die ideologischen Zerrbilder und engen Normvorstellungen bestimmter Milieus demonstrativ zur »Vernunft« und ficht bei vorgeblicher Absage an Kulturkämpfe genau solche aus. Der real existierende Linkskonservatismus mag so die aggressiven Elemente eines subjektiven Klassenstandpunkts effektiv bedienen. Doch damit repräsentiert er bestenfalls einen Teil der Lohnabhängigen und schneidet zugleich alle Wege zur Emanzipation ab. Sozialismus lässt sich aus diesem Opportunismus jedenfalls nicht bauen.
Dass das Vorgehen des BSW an der Wahlurne deutlich erfolgreicher ist als die Positionen der verbliebenen Linkspartei, ist bitter. Ob das BSW damit der selbst propagierten Sozial- und Wirtschaftspolitik näherkommen wird, ist aber fraglich. Denn wie Brie richtig festgestellt hatte, ist unter allen denkbaren hegemoniepolitischen Bündniskonstellationen in Deutschland ein solidarisches Mitte-Unten-Bündnis am schwierigsten zu realisieren. Das BSW scheint es – wahltaktisch bequem – gar nicht erst zu versuchen, oder ein solches Bündnis in seinen Umrissen zumindest äußerst eng einzugrenzen. Anders als bei seiner eigenen Partei verzichtet Brie leider auf eine inhaltliche Konfrontation mit dem BSW und adressiert dessen Widersprüchlichkeit nicht, weshalb es am Ende als die konsequentere Hälfte einer gespaltenen Linken erscheint.
Brie beharrt auf einem utopisch-sozialistischen Horizont, auf universeller Emanzipation und Transformation, wie in seinen früheren wegweisenden Beiträgen zu sozial-ökologischen Transformationsstrategien vorgezeichnet. Der Weg dorthin soll parallel zur Verteidigung der konkreten Interessen der Arbeitenden im Hier und Jetzt beschritten werden. Wie dabei aber gerade die konservativen Züge der arbeitenden Klassen helfen sollen, auf die er sich nun positiv beruft – die Besitzstandswahrung, die tiefe Veränderungsskepsis, der Provinzialismus –, bleibt offen. Letztere mögen eine rein defensive Strategie unterfüttern, mehr aber auch nicht.
»Der entscheidende Unterschied zu transformativer Politik beginnt dort, wo das Subjekt über Anliegen angesprochen und abgeholt wird, die sich wirklich klassenverbindend politisieren lassen.«
Die linkskonservative Defensivhaltung knüpft noch heute an die einst populäre Protesthaltung gegen den neoliberalen Kahlschlag der 1990er und frühen 2000er an. Diese war zunächst durchsetzungsschwach, konnte aber im Zuge der Gründung der Linkspartei zumindest die Kahlschlagspolitik der SPD eingrenzen – als Letztere weit fortgeschritten war. Die von Brie theoretisch mitentwickelten sozial-ökologischen Transformationskonzepte der 2010er waren eine Reaktion darauf, die einen Weg nach vorne suchte. Dahinter fällt der gegenwärtige Linkskonservatismus nun wieder zurück und beschränkt sich auf die Rolle des Korrektivs einer neoliberalen Klimapolitik. In dem Maße, in dem er damit Erfolg hat, kann er Letztere zugunsten des fossilen Status quo sabotieren. Eine transformative Perspektive in Richtung einer auf ökologischer Planung basierenden, egalitären Grundversorgung für alle eröffnet sich so aber nicht. Mit einem Vernunftbegriff, der sich an das zwar subjektiv in der Gesellschaft verbreitete, aber objektiv nicht wiederherstellbare Ideal einer fordistischen Übersichtlichkeit klammert, ist linke Politik im Kontext gegenwärtiger Krisen nicht einmal denkbar.
Der entscheidende Unterschied zu transformativer Politik beginnt dort, wo das Subjekt über Anliegen angesprochen und abgeholt wird, die sich wirklich klassenverbindend politisieren lassen und deren ernst gemeinte Bearbeitung auch nach und nach Ressentiments entschärfen und ideologische Entwirrung leisten kann. Dieser Schlüssel zu emanzipatorischer Politik verkehrt sich beim BSW ins genaue Gegenteil. Dass Brie diesen Unterschied in seinem Beharren auf subjektiven Klassenstandpunkten verschwimmen lässt, ist mit Blick auf die weitere Debatte fahrlässig.
Dabei ist vielerorts längst erkannt worden, dass die zunehmende Alltagsrealität multipler Krisen sogar die Tür zur Eigentumsfrage aufstößt. In der ökosozialistischen Debatte werden Konzepte wie »Öffentlicher Luxus« erkundet, der einst auch von Brie als linke Trumpfkarte beworben wurde. Soziale Bewegungen versuchen den Schulterschluss zwischen ÖPNV-Beschäftigten und Klimagruppen oder die Organisierung von Mieterinnen für eine soziale Wärmewende. Auch die Berliner Enteignungs-Volksentscheidkampagne brachte ungeahnte Bewegung in die Wohnungsfrage und trug nicht zuletzt zur durch Rot-Rot-Grün versuchten Einführung eines soliden Mietendeckels bei. Auch wenn die Linkspartei bei der Senatswahl nur mäßig belohnt wurde, brachte ihre Unterstützung für die Kampagne zumindest ein zeitgemäßes, substanzielles sozialistisches Projekt voran.
Dabei geht es nicht so sehr um die Übernahme von Stilen oder Sprachcodes der Bewegungen, sondern darum, gemeinsam an einem inhaltlichen Strang zu ziehen. Der im BSW organisierte Linkskonservatismus dagegen folgt einer sozialdemokratischen Top-Down-Logik in großer Distanz zu sozialen Bewegungen. In seinen Zielgruppen unpopuläre Begriffe wie »Enteignung« vermeidet er zugunsten einer »Vernunft«, die in einem zutiefst bürgerlichen Rahmen verbleibt. Erwartbar ist, dass er solche Impulse »von unten« weiter ignorieren wird. Riesige Potenziale für die vehement geforderte klassenverbindende Politik bleiben ungenutzt. Zurück bleibt Perspektivlosigkeit.
Im von Brie stets verfochtenen Konzept der »doppelten Transformation« (Dieter Klein) ist die Verbindung zwischen unmittelbaren Verbesserungen des Lebensalltags und transformativem Fortschritt entscheidend. Doch nun beschreibt er zwei unvermittelte »Flügel« einer Linken, einen konservativen und einen emanzipatorischen, ohne Ansätze für eine entsprechende Vermittlung zu bieten. Versucht nun ein Flügel die Position zu halten und der andere wegzufliegen, scheint Bries metaphorischer Vogel früher oder später dem Absturz geweiht. Für alles Weitere muss bei ihm am Ende Hegel herhalten: Die weiten Brücken zwischen den Strömungen zu schlagen, so die unbefriedigende Botschaft, da komme es einfach auf die Dialektik an.
Brie betrachtet Linkslibertäre und Linkskonservative als zwei komplementäre Flügel der Linken. Aus wahltaktischer Sicht mag das nachvollziehbar sein, schließlich ließen sich dadurch mehrere Wählermilieus aufaddieren. Doch die Verbindung fällt so schwer, weil völlig gegensätzliche Ambitionen im Spiel sind. Die jahrelange gegenseitige Blockade der Parteiflügel war nicht nur eine Konsequenz des Umgangsstils, sondern auch der irren Spannweite zwischen konträren Positionen und Politikverständnissen. Dass nach Auflösung dieser Blockade BSW und Linkspartei zusammengerechnet wieder mehr Stimmen anziehen konnten, ist plausibel. Dass dies auch durch bessere Vermittlung unter einem Dach erreichbar gewesen wäre, scheint Wunschdenken zu sein.
Konkret macht Brie drei historische Momente aus, in denen er der Linken-Führung Versagen attestiert: den Sommer der Migration 2015, die Corona-Pandemie ab 2020 und den Ukraine-Krieg ab 2022. Fraglos waren alle drei Momente in ihrer Struktur bestens geeignet, die Parteiklientel zu spalten. Doch seine Andeutungen, was die Parteiführung jeweils hätte tun sollen, bleiben vage. Wie wären konträre Positionen hier zusammenzuführen und eine »linke Einheit mit den Lohnarbeitenden herzustellen« gewesen – beim Anspruch, stets klare Standpunkte zu vertreten? Schon die Heterogenität der Lohnarbeitenden lässt den Maßstab zweifelhaft erscheinen.
»Tatsächlich spricht einiges dafür, dass in einem Moment der Defensive und des Rechtsrucks gerade eine Linke als standfestes Korrektiv zum gesellschaftlichen Irrsinn gebraucht wird – als Stimme der Vernunft, wenn alle anderen gerade sämtliche Hemmungen verlieren.«
Die besseren Chancen zur Reintegration beider Strömungen sieht Brie mittlerweile beim BSW, das mittelfristig auch linkslibertäre Anliegen aufnehmen müsse, um sich als »integrative linke Kraft dauerhaft politisch zu behaupten.« Doch seine Einschätzung begründet sich bislang nur im größeren linkskonservativen Wählerpotential. Der inhaltliche Part bleibt spekulativ. Wie sollte eine Partei, die top-down von einer Politikunternehmerin geführt wird und Abgrenzung statt Brückenbauen zum Leitprinzip erhebt, bewegungsnahe Strömungen mit einem völlig gegensätzlichen Politikstil »von unten« integrieren?
An Bries pessimistischer Einschätzung zu den unmittelbaren wahlstrategischen Optionen der Linken ist wiederum einiges dran. Das Europawahlergebnis bestätigt eben auch Mario Candeias’ Diagnose aus dem Vorjahr, die gesellschaftliche Linke befinde sich aus strukturellen Gründen in der Defensive gegenüber den wesentlich gefestigteren fossil-reaktionären und progressiv-neoliberalen Blöcken. Von der Schwierigkeit, sich aus dieser herauszuarbeiten, zeugen nicht zuletzt die gesellschaftliche Reichweite neoliberaler und rechter Deutungsmuster und die Fähigkeit entsprechender Akteurinnen, konsequent von ökonomischen Klassenkonflikten und einem ökologisch verheerenden Wirtschaftssystem abzulenken und dabei rassistische und sozialchauvinistische Konfliktlinien immer weiter zu vertiefen. Emanzipatorische Antworten auf die komplexen Krisen der Gegenwart können weder dieselbe (vorgebliche) Komplexitätsreduktion noch dieselbe gewaltförmige Bearbeitung anbieten. Im Gegensatz zum Wahlerfolg des linkskonservativen Opportunismus greifen sie nicht auf die Schnelle. Um die Chance auf den Neuaufbau eines tatsächlich emanzipatorischen Projekts zu wahren, sucht Candeias gerade den Bruch mit dem Linkskonservatismus.
Tatsächlich spricht einiges dafür, dass in einem Moment der Defensive und des Rechtsrucks gerade eine Linke als standfestes Korrektiv zum gesellschaftlichen Irrsinn gebraucht wird – als Stimme der Vernunft, wenn alle anderen gerade sämtliche Hemmungen verlieren. Eine Partei, die auch dann nicht der Massendeportation das Wort redet, wenn die gerade populär ist – selbst wenn es ihr damit nicht unmittelbar gelingen mag, die Wahlstimmen derjenigen einzufangen, die solche Haltungen noch schätzen. So wichtig die Fünfprozenthürde für die Parteistrukturen ist, so wenig hilft es der gesellschaftlichen Linken und allen vom Rechtsruck Betroffenen, wenn die Partei aus wahlorientiertem Opportunismus grundlegende Prinzipien aufgibt.
Über den Widerstand gegen den akuten Rechtsruck hinaus zeigen viele außer- und innerparteiliche lokale Bemühungen, dass es längerfristig durchaus möglich ist, Menschen bei ihren sozialen Alltagsproblemen abzuholen anstatt bei ihren Ressentiments und wieder den Blick für ökonomische Oben-unten-Gegensätze zu schärfen. Ein hegemonialer Wandel, der die Voraussetzungen für linke Parteipolitik wieder verbessert und linke Deutungsangebote anschlussfähiger macht, ist maßgeblich auf dieser Ebene denkbar – auch wenn er Geduld erfordert.
Für die von Brie völlig zurecht aufgeworfenen Probleme gilt es Antworten zu finden, und zwar bessere. Der Bruch mit dem politischen Projekt des Linkskonservatismus bedeutet nicht die Aufgabe der Bemühungen, linkskonservative Milieus anzusprechen, wenn auch aus anderem Winkel. Nun ist die verbleibende Linkspartei längst nicht so homogen linkslibertär aufgestellt, wie es das Narrativ der Trennung zweier Flügel suggeriert. Hier könnte Bries Warnruf seinen Zweck erfüllen, wenn er ein internes Korrektiv stärkt, das überzeugende Bezüge zu verschiedenen Lebenswelten der arbeitenden Klasse herstellen kann, ohne den transformativen Anspruch aufzugeben.
Langfristig dürfte auch die Hinwendung zu einer jüngeren Generation wahlstrategisch keine dumme Entscheidung sein. Die hat eher keine Angst vor Gendersternchen, ist aber eigentlich mit umso gravierenderen materiellen Problemen beschäftigt, unter denen die Klimakrise nicht das geringste ist. Dass die Linkspartei bei der Europawahl einzig in der Altersgruppe der 16–24-Jährigen noch die 5-Prozent-Marke übertraf, ist ein Fingerzeig – und ein Funken Hoffnung für eine linke Zukunft.
Lasse Thiele ist Politikwissenschaftler und Autor. Er arbeitet im Konzeptwerk Neue Ökonomie zu Klimagerechtigkeit und schreibt eine monatliche Klimakolumne im nd.