11. Januar 2024
Emmanuel Macron hat den 34-jährigen Gabriel Attal zum neuen Ministerpräsidenten Frankreichs ernannt. Dieser Versuch, der Regierung ein neues Gesicht zu geben, krankt aber an einem Problem: Die Bevölkerung hat die zutiefst unsoziale Politik der letzten Jahre nicht vergessen.
Emmanuel Macron und Gabriel Attal bei der Einweihung des »internationalen französischen Sprachenzentrums« im Chateau de Villers Cotterets in Villers-Cotterets, Frankreich, 30. Oktober 2023.
Als Élisabeth Borne am Montag ihre 19-monatige Amtszeit als französische Ministerpräsidentin beendete, wollte sie offenbar daran erinnern, dass sie (trotz aller gegenteiligen Anzeichen) eigentlich eine Frau der Linken sei. In ihrer Rücktrittserklärung machte sie deutlich, dass sie nicht freiwillig geht, und griff dabei nahezu wortwörtlich die Aussagen des Sozialisten Michel Rocard auf, als dieser den Posten 1991 verließ. Bornes Verweis auf Mitte-Links-Regierungen vergangener Jahrzehnte war, wie Le Monde anmerkt, ein Gruß an ihre »linken Bezugspunkte« – obwohl die letzte Aktion ihrer Regierung »die Verabschiedung einer Migrationsreform war, die von der radikalen Rechten als eigener »ideologischer« Sieg gefeiert wurde.«
Mit diesem Gesetz, das Borne im Dezember mit Unterstützung konservativer Oppositionsabgeordneter verabschiedet hatte, wurden die französischen Migrationsbestimmungen verschärft. Dies wiederum sorgte für Aufregung in »linkeren« Kreisen und sogar bei einigen liberaleren Macron-Anhängern. Das Gesetz schränkt den Zugang zu gewissen Sozialleistungen ein, legt eine allgemeine Obergrenze für die Zahl einreisender Ausländer fest und erleichtert die Ausweisung von »Delinquenten«, auch wenn diese (noch) nicht von Gerichten verurteilt wurden. Das Migrationsgesetz ist aber nicht der einzige Grund, warum die Regierung Borne als eine der reaktionärsten Führungen der jüngeren Vergangenheit angesehen wird. So wurde das Renteneintrittsalter trotz monatelangen massiven Protesten der Bevölkerung von 62 auf 64 Jahre angehoben. Im vergangenen Jahr kürzte die Regierung Borne außerdem die Leistungen für Arbeitssuchende und führte eine 25-prozentige Kürzung der Bezugsdauer »in Zeiten mäßiger Gesamtarbeitslosigkeit« ein.
Diese Politik kann sicherlich als harter Angriff auf das französische Sozialmodell gewertet werden. Dennoch wurde Borne gleichzeitig als »schwache« Ministerpräsidentin wahrgenommen, da es ihr an einer starken Unterstützungsbasis mangelte: Macron hatte sie nach seiner Wiederwahl im Mai 2022 ernannt, bevor er dann bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Juni die Mehrheit im Parlament verlor. Mit 250 von 577 Abgeordneten, auf die Borne zählen konnte, musste ihre Regierung oft mit Teilen der Opposition zusammenarbeiten – normalerweise mit den konservativen Republikanern. Wenn dies nicht funktionierte, wurde der Verfassungsartikel 49.3 herangezogen. Dieser erlaubt es der Staatsführung, Gesetze ohne Abstimmung im Parlament zu verabschieden. Die Linke, insbesondere Jean-Luc Mélenchons La France Insoumise, kritisierte Bornes regelmäßiges Zurückgreifen auf dieses Instrument als undemokratisch. Borne selbst rechtfertigte sich mit dem Hinweis, frühere Regierungen wie die von Rocard hätten sie ebenfalls eingesetzt.
In seinem erfolgreichen Präsidentschaftswahlkampf 2017 hatte der schillernde junge Macron versprochen, »sowohl links als auch rechts« anzusprechen und zu vereinen. Macron, der Ex-Finanzminister der vorherigen sozialistischen Regierung, träumte von etwas, das die Wissenschaftler Stefano Palombarini und Bruno Amable als »bürgerlichen Block« bezeichneten. Dieser Block sollte ehemalige sozialistische, gaullistische und zentristische Kräfte im Namen des »Widerstands gegen den Populismus« vereinen und Frankreich in eine glitzernde »Start-up-Nation« verwandeln.
Borne – eine Karrieretechnokratin und ehemalige Leiterin der Pariser Verkehrsbehörde, aber auch Ex-Stabschefin der sozialistischen Umweltministerin Ségolène Royal – gehörte dabei zum vermeintlich »linken« Teil dieser Koalition. Entgegen dessen führte sie als Verkehrsministerin 2017-2019 einen Kleinkrieg gegen die Bahngewerkschaften und trieb die Privatisierung der französischen Bahn voran. Trotzdem wurde ihre Ernennung zur Premierministerin 2022 als Nachfolgerin des gaullistischen Jean Castex als Zugeständnis an die »progressive« Macron-Anhängerschaft gesehen.
»Schon bei der letzten Wahl vor fünf Jahren lag die radikale Rechte knapp vor Macrons Partei; derzeit sehen einige Umfragen Le Pens Liste allerdings mit fast zehn Prozentpunkten vorne.«
Weniger als zwei Jahre später versucht Macron jetzt erneut, seiner Regierung ein neues Gesicht zu geben. Der am Dienstag vorgestellte neue Premierminister Gabriel Attal war bereits Minister für öffentliche Finanzen und leitete zuletzt das nationale Bildungsressort. Auch er wird als Teil des »linken Flügels« in Macrons Koalition gehandelt. Im Vergleich zu Borne ist Attal ein weitaus selbstbewussterer Mediendarsteller; er stand oft für die Regierung ein, wenn es darum ging, die Rentenreform zu verteidigen. Dabei lieferte er sich diverse verbale Auseinandersetzungen, vor allem mit dem Linken Mélenchon. Der Aufstieg des 34-jährigen Attal, der auch der erste offen schwule Premierminister Frankreichs ist, erinnert ein wenig an den früheren Macron als junger, liberaler »Emporkömmling«. Attal wird schon als möglicher Präsidentschaftskandidat für die Wahl 2027 kolportiert (neben anderen potenziellen Spitzenkandidaten des Mitte-Rechts-Blocks wie Édouard Philippe).
Macron und die Regierungen Borne und Attal versuch(t)en weiterhin, das Bild von »sowohl rechts als auch links« und einen gewissen »sozialliberalen« Anstrich zu wahren. Dazu gehört vor allem der Plan, im kommenden Jahr das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in die Verfassung zu schreiben. Allerdings findet der Kampf gegen Marine Le Pens Rassemblement National (RN) heute auf einem deutlich rechteren und national-identitären Terrain statt als noch bei Macrons erster Wahl 2017. Die radikale Rechte um RN findet zunehmend Anklang im Mainstream.
Derweil richten sich Angst und Polemik der Mitte gegen das, was Macrons Minister die »Islamo-Linke« rund um La France Insoumise nennen. Als Bildungsminister hatte Attal selbst noch Entschlossenheit demonstriert, um nicht als »zu soft gegenüber dem Islam« zu erscheinen: Im August 2023 verbot er das Tragen der Abaya in Klassenzimmern. Betroffen davon sind einige wenige hundert muslimische Mädchen.
Attal gilt als kommunikationsstark. Dies wird vor allem mit Blick auf die im Juni anstehenden Europawahlen als wichtig erachtet: Jordan Bardella vom Rassemblement National liegt aktuell in allen Umfragen in Führung. Schon bei der letzten Wahl vor fünf Jahren lag die radikale Rechte knapp vor Macrons Partei; derzeit sehen einige Umfragen Le Pens Liste allerdings mit fast zehn Prozentpunkten vorne.
Die vereinigte Linke, die sich 2022 zur Neuen Ökologischen und Sozialen Volksunion (NUPES) zusammengeschlossen hatte, würde in etwa gleich große Unterstützung wie die RN erhalten – doch sie ist katastrophal gespalten. Meinungsverschiedenheiten über den Krieg in Gaza haben zum formellen Ende des Bündnisses geführt. Das tieferliegende Problem ist aber, dass mehrere Mitte-Links-Parteien seit Langem den Führungsanspruch von La France Insoumise ablehnen. Sie wollen verhindern, dass La France Insoumise ihren Einfluss auch auf die europäische und kommunale Ebene ausdehnt, wo die anderen Parteien bisher mehr Unterstützung haben. Doch es gibt noch ein umfassenderes Problem: Der radikalen Rechten gelingt es im Allgemeinen besser, unterschiedliche Formen des Dissenses und des Widerstands gegen die Regierung zu mobilisieren. Sie wirbt Wählerinnen und Wähler der konservativen Mitte ab, fängt aber auch viele Unzufriedene in der Arbeiterklasse angesichts der Macron’schen Sozialpolitik auf.
»Ob Marine Le Pen ihren Siegeszug fortsetzt und dann tatsächlich Staatsoberhaupt wird, lässt sich aktuell natürlich noch nicht vorhersehen. Aber ein solches Szenario wird immer wahrscheinlicher, wenn Macrons Führungsteam nicht bald seinen politischen Kurs erheblich ändert.«
Hinzu kommt: Mit dem Amtsantritt von Attal verjüngt sich die politische Führung Frankreichs erneut. Im Gegensatz dazu altert die Arbeiterschaft des Landes. Nicht nur die Verabschiedung der repressiven Migrationspolitik, sondern auch die soziale Spaltung – inklusive der zur Schau gestellten Verachtung der Elite für die französische Arbeiterklasse und die materiellen Folgen ihrer Renten- und Sozialreformen – bringen die alte »linke Mitte« zum Kollaps. Dies trägt ebenfalls zum Stimmenzuwachs für Le Pen bei.
La France Insoumise versucht seinerseits, sich als die Stimme der ignorierten und nicht repräsentierten Menschen zu profilieren. So wird der Mangel an demokratischen Prozessen unter Macron kritisiert und unter anderem gefordert, die Nationalversammlung müsse nach Attals Amtseinführung eine Vertrauensabstimmung über ihn durchführen. Trotz dieser linken Vorstöße hat die RN in weiten Teilen des kleinstädtischen und ländlichen Frankreichs in dieser Hinsicht mehr Erfolg. Die Rechte verknüpft ein (weitgehend oberflächlich-plakatives) Einstehen für das französische Sozialmodell mit einer äußerst vagen wirtschaftspolitischen Agenda. Ihr unklares Wahlversprechen lässt sich im Prinzip zusammenfassen mit: »Alle werden schon irgendwie bekommen, was sie wollen.«
Bleibt die Frage: Wie kann die Rechte gestoppt werden?
Einer der wenigen Momente, in denen Borne ihr Gefühl, »links« zu sein, tatsächlich zum Ausdruck brachte, war ihre Kritik an der Rassemblement National als »Pétains Erben« [Philippe Pétain war der Kopf des französischen Vichy-Regimes, das im Zweiten Weltkrieg mit Nazi-Deutschland kollaborierte]. Eine »Normalisierung dieser Partei« dürfe es niemals geben, so Borne weiter. Diese scharfe Verurteilung der Le-Pen-Truppe ist inhaltlich sicherlich richtig (und aus dem Mund der Tochter eines Holocaust-Überlebenden auch glaubwürdig); solche Äußerungen der liberalen Mitte stehen aber im Widerspruch zur eigenen Politik in Sachen Migration und nationale Identität, mit der sie der Rechten hinterherhechelt. Die Regierung nährt darüber hinaus den gesellschaftlichen Dissens mit ihrer unpopulären Sozialpolitik und spielt so der radikalen Rechten in die Karten, deren Botschaft auf immer fruchtbareren Boden fällt.
Es sind noch gut drei Jahre bis zur nächsten Präsidentschaftswahl in Frankreich. Ob Marine Le Pen ihren Siegeszug fortsetzt und dann tatsächlich Staatsoberhaupt wird, lässt sich aktuell natürlich noch nicht vorhersehen. Aber ein solches Szenario wird immer wahrscheinlicher, wenn Macrons Führungsteam nicht bald seinen politischen Kurs erheblich ändert.
Der erwartete Erfolg der Rassemblement National bei den EU-Parlamentswahlen im Juni sollten in jedem Fall ein Weckruf sein – nicht nur für die politische Mitte, sondern auch für die zerstrittene Linke.
David Broder ist Europa-Redakteur von JACOBIN und Autor von Mussolini’s Grandchildren: Fascism in Contemporary Italy (Pluto Press, 2023).