24. Dezember 2024
Die Russische Revolution war eine der wenigen erfolgreichen Revolutionen. Das scheint Lenins Theorie der Avantgarde Recht zu geben. Aber alle leninistischen Nachahmer in Westeuropa sind gescheitert. Um das zu verstehen, brauchen wir Rudi Dutschke.
Rudi Dutschke wird vor allem als Führungsfigur der Studentenrevolte erinnert.
Rudi Dutschke ist heute vor allem als Gesicht der deutschen Studentenbewegung der 1960er Jahre in Erinnerung geblieben. Als Agitator, Aktivist oder Sponti, als Symbolfigur der Revolte an den Universitäten. Die Springer-Presse hatte ihn schon frühzeitig als Rädelsführer und Krawallmacher ausgemacht und ihren Teil dazu beigetragen, dass es im Frühjahr 1968 zu einem Attentat auf den damals 28-Jährigen kam, welches er nur knapp überlebte. Die Kopfverletzungen, die er davontrug, hatten vor allem sein Sprachvermögen schwer beeinträchtigt. Dutschke zog sich danach, zusammen mit seiner Familie, zunächst aus Deutschland zurück. Über Italien und England – wo er wegen ›subversiver Tätigkeit‹ ausgewiesen wurde – kam er nach Aarhus in Dänemark, wo er am 24. Dezember 1979 an den Spätfolgen des Attentats verstarb.
Dass Dutschke nicht nur studentischer Aktivist war, sondern mit seiner Dissertation Zur Differenz des asiatischen und westeuropäischen Weges zum Sozialismus auch eine bemerkenswerte Theoriearbeit hinterlassen hat, ist heute kaum mehr bekannt. Dies ist bedauerlich, denn gerade der politische Impuls, aus dem heraus Dutschke seine Arbeit Anfang der 1970er Jahre schrieb, weist eine gewisse Ähnlichkeit zu aktuellen Diskussionen in Teilen der politischen Linken auf.
Anfang der 1970er Jahre hatte die Studentenbewegung ihren Zenit überschritten und war auf dem Rückzug. Die riesigen Demonstrationen nach der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg, die Aktionen gegen den Vietnamkrieg und die Kampagnen gegen Springer und die Notstandsgesetze waren zwar gewaltig, aber letztlich erfolglos geblieben. Die Annahme der Studentenschaft, durch subversive und anti-autoritäre Aktionen die ›Manipulationsmechanismen der Herrschenden‹ – wie man damals gesagt hätte – zu durchbrechen, hatten sich mindestens als unzureichend erwiesen. Aber wie sollte man als Studentenbewegung die Gesellschaft verändern?
Die Streiks der französischen Arbeiterinnen und Arbeiter im Mai 1968 erschütterten die dortigen Machtverhältnisse. Und die wilden Streiks im September 1969 im Ruhrgebiet und im Saarland nährten die Hoffnung, dass, anders als bisher in den eigenen Theorien prognostiziert, auch die Arbeiterbewegung in Deutschland nicht komplett ins kapitalistische System integriert war. Nachdem die Studierendenproteste ihrerseits an ihre Grenze gelangt war, taten diese Streikbewegungen ihr übriges. Die kritische Theorie der Frankfurter Schule hatte sich scheinbar über Nacht erledigt. Stattdessen wurde nun allerorten die ›Organisationsfrage‹ und die ›Transformation der anti-autoritären Bewegung in eine proletarische Organisation‹ debattiert. Da man kein Studentenverband mehr sein wollte, löste man die eigene Organisation – den Sozialistischen Deutschen Studentenbund, kurz SDS – einfach auf.
Für weite Teile der Bewegung ging es nun um die Unterordnung unter das Proletariat und die Befürwortung einer bolschewistischen Partei und des Leninismus. Hatte sich diese Theorie doch, so argumentierte man nun, in der Praxis durch die siegreiche russische Revolution bestätigt. Das Heraustreten aus den Universitäten wurde nunmehr von dem Versuch begleitet, marxistisch-leninistische Organisationen aufzubauen.
Den Niedergang der Studentenrevolte und den Übergang vieler ehemaliger Genossinnen und Genossen in die nunmehr entstehende westdeutsche ML Bewegung beobachtete Dutschke bereits aus dem Ausland. Sein Entschluss, Anfang der 1970er Jahre eine Dissertation zu schreiben, die sich um Lenin, Lukács und die Dritte Internationale drehte, war somit hochpolitisch. Faktisch war es eine Auseinandersetzung mit der weiteren Entwicklung der niedergehenden beziehungsweise sich transformierenden Jugend- und Studentenbewegung. Wohl aus diesem Grunde veröffentlichte Dutschke nur ein Jahr nach dem Erlangen des Doktorgrades eine popularisierte Variante seiner Arbeit unter dem programmatischen Titel Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen. In dieser Lenin-Kritik bezweifelte er nicht, dass Lenin »ein aufrecht gehender Revolutionär war, der bedeutendste seiner Zeit«. Vielmehr versuchte er, Lenin und den Leninismus aus den spezifischen russischen Verhältnissen zu erklären. Unmissverständlich heißt es einleitend: »Dieses Buch soll insbesondere mithelfen, Probleme der Vergangenheit – die viele von uns als Probleme der Gegenwart mißverstehen – als solche zu erkennen, schon um die Zukunft und die gegenwärtigen Aufgaben nicht durch unaufgehobene Vergangenheit zu vernebeln.«
Das interessante an Dutschkes Ansatz war, dass er die klassenpolitischen und revolutionären Impulse der entstehenden ML Bewegung ernst nahm. Was er verhindern wollte, war eine erneute kritiklose Übernahme des Leninismus. Deshalb wollte er nachweisen, dass diese Politik bereits in den 1920er Jahren der große Fehler der Kommunistinnen und Kommunisten in Europa gewesen war. »Das war damals schon falsch und ist es heute erst recht«, konstatiert er. Dutschke wollte ein Ende des »krummen, gekrümmten Kommunismus der erst nach Moskau schaut, bevor er seinen eigenen Klassenkampf (ver)kennt«. Für Dutschke stand fest, dass die sozialökonomischen Strukturen in Russland grundlegend andere gewesen waren als die in Westeuropa und deshalb auch die Frage der sozialen Emanzipation hier grundlegend anders aufgeworfen werden müsse. Ziel des Buches sollte sein, die »revolutionäre Erbschaft zu erhalten oder neu zu bestimmen, andererseits aber alles in den Mülleimer der Geschichte zu werfen, was die ›Unterdrückten und Beleidigten‹ daran hindert, ihre Klassenkämpfe der Lage der Dinge entsprechend führen zu können«.
Heute, fünfzig Jahre später, klingt Dutschkes Ansinnen hochaktuell. Zumindest in Deutschland ringen derzeit sowohl die Partei Die Linke, als auch die Klimabewegung mit der Bedeutungslosigkeit. Seit Jahren wird diskutiert wie man das akademische Milieu verlassen oder wenigstens über dieses hinaus wirken könne. Die soziale Frage – wenn nicht gar die Klassen- und Machtfrage – stehen dabei im Zentrum der Auseinandersetzung. Und während die einen sich entschieden haben, wieder auf traditionelle sozialdemokratische Reformpolitik zu setzen, erlebt auch die Faszination für den Bolschewismus – in Form der entstehenden »roten Gruppen« – ein gewisses Revival. Ein bisschen wie bei Dutschke, der sich seinerzeit beschwerte, dass Lenin »entweder fetischisiert oder nur noch als ›toter Hund‹ behandelt« wird. Grund genug, sich sein Buch an dieser Stelle einmal näher anzuschauen.
Methodisch begnügt Dutschke sich damit »in ›orthodoxer‹ Weise das analytische und Begriffliche Verständnis von Marx und Engels« bezüglich Russlands zu rekonstruieren und dieses dem Bolschewismus entgegenzusetzen. Was die Schrift damit nicht liefert ist eine »historisch-konkrete Analyse der russischen Geschichte«). Dies mag in Anbetracht des Buchtitels verwundern oder enttäuschen, tut dem politischen Ziel Dutschkes aber keinen Abbruch. Schließlich ging es ihm vor allem darum, das Theoriegebäude von Karl Marx und Friedrich Engels zu retten, indem er es vom (Marxismus-)Leninismus abgrenzte. Mühsam war dieses Unterfangen vor allem deshalb, weil Lenin fast durchgängig mit marxistischem Vokabular hantierte und in seiner Theorie bis zum Schluss mit einer schablonenhaften Marx-Rezeption argumentierte.
Dutschke beginnt sein Buch damit, einige Grundelemente der Kritik der politischen Ökonomie von Marx darzustellen und bedient sich dafür einiger wichtiger Passagen aus dessen Grundrissen. Er verweist mit Marx auf den Arbeitsprozess als ewigen Stoffwechsel von Mensch und Natur und die Lohnarbeit als spezifisch kapitalistische Form dieses Arbeitsprozesses. Weiterhin geht es um den Wert, den Doppelcharakter der Ware und die von den bürgerlichen Ökonomen nicht verstandene Tatsache, dass auch die in der Ware dargestellte Arbeit einen Doppelcharakter besitzen muss. Kurzum, es geht um einen knappe Überblick um die Kategorien, die die innere Gliederung der bürgerlichen Gesellschaft ausmachen. Wichtig ist nun, dass alle diese Kategorien vom Kapital her bestimmt werden. Dabei gilt: »Je weiter diese kapitalistische Produktionsweise zu einem ›organischen Ganzen‹ sich konstituiert und reproduziert, die Warenform zur ›ökonomischen Zelle‹ der ›modernen bürgerlichen Gesellschaft‹ in ihrer gegebenen Totalität wurde, desto deutlicher kann die innere Gliederung der modernen bürgerlichen Gesellschaftsstruktur erkannt werden«.
Der große Verdienst von Marx war es, die Wesenslogik des Kapitalverhältnisses entschlüsselt zu haben. Er bezog sich in dieser Analyse vor allem auf England und mitunter auf Westeuropa und Nordamerika, also die Gegenden, wo die bürgerliche Gesellschaft seinerzeit am weitesten entwickelt war. Trotzdem ist eine Wesenslogik des Kapitalverhältnisses etwas anderes als historische Entwicklung. Diese Verwechslung bestand schon zu Marx’ Lebzeiten, wurde aber nach seinem Tod immer gravierender, bis der Marxismus schließlich zu einer reinen »Entwicklungssoziologie« wurde, ergänzt durch »Moral und Ethik«, wie Dutschke beschreibt. Scheinbar »evolutionäre Naturgesetze« führten nun vom »Einzeller zum Sozialismus«. Dabei hatte Marx sich deutlich – und interessanterweise gerade in Bezug auf Russland – gegen eine solche Interpretation seines Werkes gewehrt.
Einem Kritiker hielt er spöttisch entgegen, dass dieser »meine historische Skizze von der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa in eine geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges verwandeln [würde], der allen Völkern schicksalsmäßig vorgeschrieben ist, was immer die geschichtlichen Umstände sein mögen, in denen sie sich befinden«. Dies würde aber bedeuten, so Marx süffisant, ihm »zugleich zu viel Ehre und zu viel Schimpf an[zu]tun«.
Ganz allgemein hielt Marx im dritten Band seines Kapital fest, dass in jeder Klassengesellschaft in irgend einer Art und Weise unbezahlte Mehrarbeit aus den Produzentinnen und Produzenten »ausgepumpt« wird. Wenn wir aber eine bestimmte Gesellschaft verstehen wollen, dann müssen wir deren »spezifische ökonomische Form« untersuchen. Diese spezifische Form bestimmt das »Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis, wie es unmittelbar aus der Produktion selbst hervorwächst […] Hierauf aber gründet sich die ganze Gestaltung des ökonomischen, aus den Produktionsverhältnissen selbst hervorwachsenden Gemeinwesens und damit zugleich seine spezifische politische Gestalt. Es ist jedesmal das unmittelbare Verhältnis der Eigentümer der Produktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten worin wir das innerste Geheimnis, die verborgne Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion […] finden«. Diese spezifischen ökonomischen und politischen Formen der Klassenherrschaft im russischen Zarenreich interessierten gerade den späten Marx ungemein. So machte er sich die Mühe, russisch zu lernen, russische Originalquellen zu studieren und stand in Kontakt mit verschiedenen russischen revolutionären Intellektuellen.
Dutschkes Analyse der verschiedensten Äußerungen von Marx und Engels zur russischen Gesellschaft führen ihn zu dem Schluss, dass für beide die Dominanz des landwirtschaftlichen Unterbaus der springende Punkt der russischen Verhältnisse war und nicht die wenigen Großstädte, die sich eher wie einsame Inseln im Riesenreich ausmachten. Im Zentrum ihrer Überlegungen standen die Formen des Gemeinbesitzes am Boden durch die russische Dorfgemeinde (Obschtschina). Die relativ egalitären aber voneinander isolierten Dorfgemeinden brachten als Kehrseite die zentralisierte zaristische Bürokratie mit einer speziellen Form der Leibeigenschaft hervor. »Nicht bloß der russische Staat im allgemeinen, sondern sogar seine spezifische Form, der Zarendespotismus, statt in der Luft zu hängen, ist notwendiges und logisches Produkt der russischen Gesellschaftszustände«.
Dutschke stellt fest, dass weder Marx noch Engels diese spezifischen Formen des »Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis« als Feudalismus oder russische Feudalität bezeichneten. Bezüglich einer gesellschaftlichen »Grundformationen« (Marx) bringen sie Russland dagegen immer wieder mit der »asiatischen Produktionsweise« in Verbindung. Zumindest den politischen Überbau, die Staatsform der Zarenherrschaft, bezeichneten sie regelmäßig als »orientalische« oder »asiatische Despotie«. Die russischen Bauern dagegen bezeichnete Marx einmal als »halbasiatische Leibeigene«. Im Gegensatz zur klassischen Grundformation der »asiatischen Produktionsweise« fehlte für Russland allerdings das zentrale Element der Bewässerungslandwirtschaft, für welches der despotische Staat mit seiner Bürokratie hier zu sorgen hat. In Anlehnung an Marx spricht Dutschke deshalb in seiner Arbeit vom »halbasiatischen Russland« und in Analogie dazu von einem »halbasiatischen Weg zum Sozialismus«. Zentral ist, dass es bei diesen Begrifflichkeiten nicht um eine geografische Lage geht, sondern um die sozialökonomischen Strukturen.
Wie aber – und diese Frage stellten sich im ausgehenden 19. Jahrhundert die russischen Revolutionäre – sollten diese vorbürgerlichen Knechtschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse revolutioniert werden? Die liberalen Ökonomen sprachen sich für eine Zerstörung der Bauerngemeinde aus und hielten eine kapitalistische Entwicklung der Gesellschaft für unabdingbar. Marx merkte diesbezüglich zunächst an, das Russland dies nicht gelingen könne, »ohne vorher einen guten Teil seiner Bauern in Proletarier verwandelt zu haben«. Gegen eine solche Entwicklung standen die sozialrevolutionären russischen Narodniki, die an eine historische Mission Russlands glaubten und sich auf den »asiatischen Ackerbau-Widerstand« stützen. Die landwirtschaftlichen Verhältnisse hielten sie nicht für zurückgeblieben, sondern wollten im Gegenteil an die noch kollektivwirtschaftlich organisierten Dorfgemeinden anknüpfen, um auf diesem Weg zum Sozialismus zu gelangen.
Die Frage ob dies möglich sei, wurde in russischen Oppositionellenkreisen heftig diskutiert und nach der Lektüre des Kapitals durch die russische Revolutionärin Vera Sassulitsch an diesen persönlich herangetragen. Marx lies sich Zeit mit einer Antwort und schrieb mehrere Entwürfe, bevor er schliesslich festhielt, dass »diese Dorfgemeinde der Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt Rußlands« werden könne. Gemeinsam mit Engels griff Marx die Frage ein letztes Mal im Januar 1882 auf, also gut ein Jahr vor seinem Tod: »Kann die russische Obschtschina, eine wenn auch stark untergrabene Form des uralten Gemeinbesitzes am Boden, unmittelbar in die höhere des kommunistischen Gemeinbesitzes übergehn? Oder muß sie umgekehrt vorher denselben Auflösungsprozeß durchlaufen, der die geschichtliche Entwicklung des Westens ausmacht?« Ihre Antwort viel etwas ambivalent aus: »Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so daß beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen«.
»Es ist bezeichnend« stellt Dutschke zurecht fest, »daß der russische Marxismus 1883 im Ausland, fern von der russischen Wirklichkeit der Bauernmassen, seinen offiziellen Beginn nahm«. Nicht die arbeitenden Klassen, sondern die revolutionäre Intelligenz, die der Zarismus nach Europa getrieben hatte, machte sich hier mit der marxistischen Theorie vertraut. Die oben zitierten Aussagen, die speziell Marx zu Russland und der russischen Dorfgemeinde gefällt hatte, spielten dabei allerdings keine Rolle mehr. Vielmehr war es die Marx-Rezeption von Karl Kautsky, der die deutsche Sozialdemokratie und die Zweite Internationale stark prägte, die sich die russischen Intellektuellen nun aneigneten. Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt war die Feindschaft gegen den Zarismus und die Hoffnung auf eine schnellstmögliche Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise in Russland.
Nach diesem Verständnis stand nunmehr eine bürgerliche Revolution auf der Tagesordnung und erst der Sieg des Kapitalismus würde einer künftigen proletarischen Revolution den Nährboden bereiten. Diese schematische Betrachtungsweise von historischen Gesetzmäßigkeiten bezeichnet Dutschke treffend als »Schablonen der Kautskyanischen Marx-Rezeption«. In Russland wurde dieser Vulgärmarxismus von von Georgi Plechanow, dem »Vater des russischen Marxismus« popularisiert. Auch wenn Lenin sich schon um die Jahrhundertwende mit Plechanow, seinem einstigen Lehrer und künftigen Menschewiki, verwarf, so prägten dessen Vorstellungen Lenins Theorie doch nachhaltig.
Das besondere bei Lenin ist aber nun, dass Theorie und Praxis bei ihm weit auseinanderfielen. Diese Anpassungsfähigkeit mit all ihren Widersprüchen dargestellt zu haben, ist das spannende und verdienstvolle an Dutschkes Buch. »Der Widerspruch zwischen dem orthodoxen Marxismus der 2. Internationale, von dem Lenin wesentlich beeinflußt ist, d.h. zwischen seiner theoretischen Position und seiner praktischen Politik […] kennzeichnet die ganze Geschichte Lenins«. Dutschke argumentiert, dass Lenin zwar in der Theorie »kautskyanisch begrenzt« an die russische Wirklichkeit herantrat, diese jedoch in seiner Praxis nie (ganz) aus den Augen verlor. Dies ist auch die tiefere Ursache für die Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki. Letztere »waren nicht nur im Kopf, sondern auch in der Praxis völlig falsch auf Westeuropa orientiert«. Gemeinsam war ihnen der theoretische Widerspruch zum Bauernsozialismus der Narodniki, den sie getreu ihrer europäisierten Denkformen als reaktionäre Bewegung (miss)verstanden. Sie hielten den Narodniki entgegen, dass die Bauernschaft als Klasse zum Untergang verdammt wäre und sich in Russland nunmehr die kapitalistischen Produktionsweise mit Naturnotwendigkeit durchsetzen werde. Bereits 1906 ging Lenin, in seinem »Bericht über den Vereinigungsparteitag« so weit zu behaupten, das »sich in Rußland seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die kapitalistische Produktionsmeise gefestigt« habe »und im 20. Jahrhundert ist sie zur unbedingt vorherrschenden geworden«). Die vormoderne ländliche Struktur Russlands als Fundament der Zarenherrschaft hat Lenin dagegen nie wahrhaben oder verstehen wollen.
Anstatt die Spezifik der russischen Gesellschaft zu studieren, postulierte Lenin in orthodoxer Manier die Dominanz des Kapitalverhältnisses. Tatsächlich waren die Bolschewiki eine Arbeiterpartei und wirkten fast ausschließlich in den wenigen Industriestädten des Landes, also an der »europäischen Oberfläche«, wie Dutschke es nennt. Während sie hier, im »aufgepfropften« industriellen Überbau eine reale Basis besaßen, fanden sie zu den plebejischen Bauernmassen keinen Zugang. Dies mussten sie auch nicht unbedingt, schließlich war die Bauernschaft in ihrem Geschichtsverständnis ohnehin dem Untergang geweiht. »Die realen Widersprüche halb-asiatischer Verhältnisse (mit kapitalistischer Oberfläche im westeuropäischem Sinne und asiatischer Erscheinungsform der Produktionsweise in Vergangenheit und Gegenwart) wurden darum bei Lenin niemals zur grundlegenden Bestimmung der Kampf- und Zielrichtung«. Trotzdem prägten die russischen Verhältnisse Lenin und den Leninismus wesentlich, was Dutschke anhand der Partei-, Staats- und Revolutionstheorie aufzeigt.
»Eine erbärmliche Nation, eine Nation von Sklaven, von oben bis unten – alles Sklaven«, so zitiert Lenin noch kurz vor dem Ersten Weltkrieg den russischen Demokraten Tschernyschewski. Überhaupt bezeichnet Lenin die Staatsform der Zaren-Monarchie immer wieder als »asiatische Despotie«. In der Praxis ging es nun darum, diesen Gegner zu schlagen. Dabei diktierte dieser Gegner, mit seinen despotischen Knechtschaftsverhältnissen die Formen, in denen die Bolschewiki effektiv kämpfen konnten. Es ging eben nicht gegen eine moderne Bourgeoisie und ihren bürgerlichen Staat mit freien Wahlen sowie Presse-, Rede- und Organisationsfreiheit. Im Gegenteil waren im zaristischen Russland nicht einmal Gewerkschaftsorganisationen legal.
Deshalb zentralisiert sich in Lenins Gedanken alles um seine Partei als Avantgarde- und Verschwörerorganisation. Notgedrungen kreisen die Vorstellungen von der illegalen Partei darum, dem Gegner ebenbürtig zu sein. So forderte Lenin etwa »größte Konspiration und militärische Disziplin« in einem »Netz ausführender Agenten«. Außerdem sah er eine »Konzentrierung aller konspirativen Funktionen in den Händen einer möglichst geringen Zahl von Berufsrevolutionären« vor. In einem »Brief an einen Genossen über unsere organisatorischen Aufgaben« aus dem Jahr 1902 wurde Lenin besonders plastisch: »Damit die Zentralstelle […] das Orchester wirklich dirigieren kann, ist es erforderlich, daß man genau weiß, wer wo welche Geige spielt, wo und wie er welches Instrument spielen gelernt hat oder lernt, wer wo und warum falsch spielt (wenn die Musik in den Ohren kratzt) und wen man, wie und wohin, zur Beseitigung des Mißklangs versetzen muß«. In der Praxis bedeutet Lenins Prinzip des »demokratischen Zentralismus« ganz klar eine Überbetonung des Zentralismus und eine Unterbetonung des Demokratismus. Dutschke sieht darin die »technisch-konkretistische Negation des Zarismus« und damit letztlich einen »politisch-organisatorische[n] Ausdruck einer bestimmten sozialökonomischen Struktur«. Kurzum: Der Kampf gegen das zaristische »Ungeheuer« findet notgedrungen in der Illegalität statt, was bezeichnend war für die gesellschaftlichen Verhältnisse, denen sie entsprangen.
Auch die beste und straffste Form der Organisation von (Berufs)Revolutionären konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese die Eigenheiten der eigenen Gesellschaftsformation verkannten. Die Bolschewiki hatten keinen Begriff von den Wünschen, Forderungen und Vorstellungen der bäuerlichen Mehrheitsbevölkerung. Auch wenn sie abstrakt von einer revolutionären Rolle der Bauernschaft in der anstehenden Revolution ausgingen, hatte ihr Agrarprogramm nichts mit der russischen Wirklichkeit zu tun. Wenig verwunderlich hatten die Bolschewiki auch keinerlei Verankerung auf dem Land. Vielmehr begriffen sie sich als »spezifische Arbeiterpartei« in einem »Bauernland« und gerieten »permanent in Widerspruch mit der russischen Wirklichkeit«, wie Dutschke festhält. Die Wünsche von den tradierten Formen des Gemeinbesitzes der Kleinbauern spiegelten sich dagegen im Programm der Bauernsozialisten wieder, der ehemaligen Narodniki, die sich nunmehr als Partei der Sozialrevolutionäre organisiert hatten.
Im Revolutionsjahr 1917 liefen dann alle revolutionären Parteien den Bauernmassen hinterher, die sich im ausgehenden Weltkrieg in Bewegung gesetzt hatten und auf eigene Faust ihre traditionellen Vorstellungen von der Aufteilung des Bodens umsetzten. Als die Sozialrevolutionäre im entscheidenden Moment – in den Wirren von Krieg und Revolution – damit haderten, zu ihrem eigenen Programm zu stehen, übernahmen die Bolschewiki dieses einfach und bewiesen sich damit als Meister der revolutionären Entschlossenheit. Lenin gab es ganz offen zu: »Wir haben gesiegt, weil wir nicht unser, sondern das Sozialrevolutionäre Agrarprogramm annahmen und praktisch verwirklichten. Unser Sieg bestand gerade darin, daß wir das Sozialrevolutionäre Programm verwirklichten, deshalb war der Sieg auch so leicht«. Lenin verwarf also genau im richtigen Augenblick all seine agrarpolitischen Konzeptionen, weil er sah, »daß die Bedürfnisse der Bauern im Programm der Sozialrevolutionäre standen« und nicht im eigenen, wie Dutschke festhält. Das war bezeichnend für die ganze Revolution und drückte nach Dutschke »die taktische Stärke und die theoretische, politisch-organisatorische Schwäche der Bolschewiki aus«. Der eigentliche Erfolg war es, dass es ihnen gelang – unter der Losung »Brot, Land, Frieden« – die spontanen Aufstände der bäuerlichen Mehrheitsbevölkerung »in die politische Linie der städtischen Bolschewiki aufzunehmen«.
Faktisch waren die revolutionären Massen den Bolschewiki 1917 zuvorgekommen. »Wie sehr methodische Fehler ein aktuell-politisch richtiges Handeln nicht ausschließen, zeigt die wirklichkeitsbezogene Schmiegsamkeit von Lenin«, so Dutschke. Es blieb die Frage, welchen Charakter die Revolution eigentlich tragen sollte, an deren Spitze man sich am Jahresende 1917 stellte. Der Despotismus des Zarenreichs war immerhin bereits im Frühjahr des Revolutionsjahres gestürzt worden. War die bürgerlich-demokratische Revolution nunmehr beendet oder musste man sie weitertreiben? Das Gerede von der großen sozialistischen Oktoberrevolution ist definitiv eine nachträgliche Zuschreibung oder vielmehr Erfindung. Eine sozialistische Revolution hielten die Bolschewiki in Russland damals zumindest unmittelbar noch für unmöglich und betonten unentwegt: »Rußland ist das rückständigste Land«. Noch kurz vor dem Ersten Weltkrieg beschrieb Lenin, dass in der gesellschaftlichen Struktur »völlig patriachalische, vorkapitalistische Züge überwiegen, und die Warenwirtschaft und die Klassendifferenzierung nur ganz geringfügig entwickelt sind«.
Womit die Bolschewiki aber fest rechneten, und dies ließ sie über die vormodernen Zustände in ihrem Land hinwegsehen, war die kommende sozialistische Revolution im Westen. Unmittelbar vor der Oktoberrevolution, der Eroberung der politischen Macht durch die Bolschewiki, stellte Lenin unmißverständlich und in heroischen Worten klar, worum es nun ging. Letztlich gäbe es »auf der ganzen Erde keine Gewalt, die die Bolschewiki, wenn sie sich nicht einschüchtern lassen und es verstehen, die Macht zu ergreifen, daran hindern könnte, die Macht bis zum Siege der sozialistischen Weltrevolution zu behaupten«. Die Weltrevolution, die man nun einleiten wollte, war bei Lenin stets der Sieg des Proletariats »in allen fortgeschrittenen Ländern oder auch nur in einigen der größten fortgeschrittenen Länder«, sprich im Westen. Konnten die russischen Verhältnisse auch noch so rückschrittlich sein, so hatte der »imperialistische Weltkrieg« doch »die revolutionäre Krise in unserem Lande mit der wachsenden proletarischen, sozialistischen Revolution im Westen unzertrennlich verbunden« erklärte Sinowjej stellvertretend für die gesamte Führungsriege der Bolschewiki.
Die Prognose für die sozialistische Weltrevolution leiteten die Bolschewiki aus Lenins Imperialismustheorie ab, die man als Weiterentwicklung des Marxismus ausgab. Nicht mehr wie bei Marx der Konkurrenzkampf der Kapitale, ihre Verwertungssituation und zyklischen Bewegungen waren entscheidend, sondern nationale Monopole und Staaten. Dieser monopolistische Imperialismus hatte sich, so Lenin, vor dem Weltkrieg als höchste Stufe des Kapitalismus im Weltmaßstab durchgesetzt. Bei all den Gemeinsamkeiten, die durch die Epoche des Imperialismus unterstellt wurden, blieb kaum noch Spielraum, sozial-ökonomisch zwischen dem entwickelten Kapitalismus im Westen, der den Weltmarkt bestimmte, und den russischen Verhältnissen zu unterscheiden. Die alte, falsche Hypothese von der Dominanz des Kapitalverhältnisses in Russland, wurde in der Imperialismus-Theorie von Lenin auf die Spitze getrieben. »Das hat«, so Dutschke »seine russisch-historische Berechtigung wie auch seine Berechtigung in der Weltkriegssituation«, ändert aber nichts an der Fehlerhaftigkeit der grundlegenden Annahmen.
Besonders irreführend an Lenins Theorie war nun, das mit ihr sowohl die widersprüchliche Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise im Westen, wie auch das Spezifikum der stagnierenden russischen Verhältnisse verkannt wurden. »Lenin verhüllt […] die Schwäche der Entwicklung der Produktivkräfte und damit der Arbeiterklasse, die ›impotente‹ Bourgeoisie und die riesige Bauernschaft«, so Dutschke. Objektive Gegebenheiten und Entwicklungen werden von Lenin nunmehr übergangen und durch das »Primat der Politik« ersetzt. Letztlich gehe es ihm um die »revolutionsstrategische Legitimation der nunmehr sozialistischen Perspektive der Revolution in Russland«. Politisch mag Lenins Imperialismus-Theorie hilfreich gewesen sein, weil man mit ihr gegen den Krieg und für die Revolution argumentieren konnte. Eine Weiterentwicklung des Marxismus war sie aber nicht. Dutschke bezeichnet sie stattdessen als »eine durchaus verkappte und mit Hilferding modifizierte verkürzte Zusammenbruchstheorie in politischer Form«.
Im Oktober 1917 hatten die Bolschewiki die Macht ergriffen, um sie bis zum Sieg der Revolution im Westen zu halten. Die Tragik der Geschichte war nun, dass sie die Staatsmacht zwar hielten, aber die sozialistische Revolution im Westen ausblieb. Als Lenin nach der Revolution »über die heutige Wirtschaft Russlands« schreibt, geht er von »verschiedenen Typen ökonomischer Gesellschaftsstruktur« aus, die sich jeweils »verflechten«: die patriarchalische oder naturalwirtschaftliche Bauernwirtschaft, die kleine Warenproduktion, den privatwirtschaftlichen Kapitalismus, den Staatskapitalismus und den Sozialismus. Nüchtern stellte er fest, dass »in einem kleinbäuerlichen Lande das kleinbürgerliche Element vorwiegt«. Dabei ließ er keinen Zweifel daran, dass der Kapitalismus und gerade der Staatskapitalismus ein Segen sei im Vergleich zur Kleinproduktion. Ihm ging es darum, die politische Macht zu nutzen, um die ökonomische Entwicklung zu steuern. Getreu dem Primat der Politik war Lenin überzeugt, mit der Staatsmacht ökonomische Entwicklungsgesetze lenken und Gesellschaftsstrukturen austricksen zu können.
Die dringende Aufgabe die »Produktivkräfte zu steigern«, stellte die Bolschewiki nach Dutschke vor folgendes Problem: Sie »konnten als Illegalitäts- und Kaderpartei der Großstädte nicht die Massen in Stadt und Land mobilisieren, ihre frei gewordenen Bedürfnisse und Kräfte nach der Machtergreifung nicht verstehen und sich diesen nicht anpassen«. Vielmehr gingen sie die neuen Herausforderung genau so an, wie sie es unter der Despotie gelernt hatten, nämlich technisch-organisatorisch. Die marxistische Kategorie der Produktivkräfte wurde dabei von Lenin seit jeher mit technischen Errungenschaften verwechselt.
Die Organisationsstruktur der Bolschewiki nach der Revolution blieb wie während ihrer Arbeit in der Illegalität streng hierarchisch. Der demokratische Zentralismus stand nunmehr Pate beim Aufbau der neuen Staatsmacht. Dutschke betont diesbezüglich, dass die Organisationsfrage »keine der politischen Oberfläche« ist. Sie sei »keine technische Frage«, sondern vielmehr eine »politische Vergegenständlichungsform«. In seinem Werk Staat und Revolution – welches im Revolutionsjahr geschrieben und nachher veröffentlicht wurde – stellte Lenin klar: »Durch die Erziehung der Arbeiterpartei erzieht der Marxismus die Avantgarde des Proletariats, die fähig ist, die Macht zu ergreifen und das ganze Volk zum Sozialismus zu führen, die neue Ordnung zu leiten und zu organisieren, Lehrer, Leiter, Führer aller Werktätigen und Ausgebeuteten zu sein«. Diese »messianisch-pädagogische Haltung des Erziehers Lenin«, die sich auf Marx beruft, hat mit diesem rein gar nichts mehr zu tun. So hatte Marx in seiner dritten Feuerbachthese hervorgehoben, dass die »Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß«. Dutschke hält diesbezüglich fest, dass die »Tragik der Bolschewiki« darin bestand, »daß der Erzieher nicht verstehen wollte, daß auch er erzogen werden muß«. Rätedemokratie oder Arbeiterkontrolle – Formen, mit denen die Massen die Revolutionäre hätten erziehen und kontrollieren können – verstanden die Bolschewiki als bloßes Beiwerk der Revolution, dass schnell wieder verschwinden konnte. Lenin verstand die ›Diktatur des Proletariats‹ als ›Diktatur der Bolschewiki‹ als befreiende Erziehungsdiktatur«.
Wenn man bedenkt, dass Lenin seine Schrift Staat und Revolution mitten in den Revolutionswirren schrieb, ist es umso verwunderlicher, dass dort keinerlei konkrete Aussagen zum russischen Staatsapparat gefällt werden. Die ganze Schrift dreht sich um Allgemeinheiten und Zitate von Marx und Enges, die nichts mit den russischen Verhältnissen zu tun hatten. »Die grundlegende Schwäche« von Lenins Schrift besteht darin, dass dieser »die politisch-ökonomische Vermittlung in der Staatsfrage überhaupt nicht angeht«, so Dutschke. Getreu den Marxschen Textstellen zu Westeuropa konstatierte Lenin, dass die proletarische Staatsmacht nach der Revolution absterben werde. Unter den konkreten sozialhistorischen Voraussetzungen der russischen Wirklichkeit passierte exakt das Gegenteil.
Die Partei- und Staatsmaschienerie blähte sich auf und wurde ein bürokratisches Monstrum, das den gestürzten Zarismus noch in den Schatten stellte. Auch ihre repressive Seite wurde dabei immer dominanter. Dem Verbot der Parteien der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre folgte das Fraktionsverbot innerhalb der eigenen Partei. Parallel wurde die Tscheka, also die Geheimpolizei zur unerlässlichen Hilfsorganisation der neuen Machthaber, »zum verselbstständigten, nicht wirklich politisch kontrollierten Organ und schließlich zu einem auch die Revolution verschlingenden Sumpf«.
Das Hauptanliegen von Dutschkes Buch war es, »Lenin auf die Füße zu stellen«. Eine Analyse der besonderen russischen Produktions- und Gesellschaftsverhältnisse galten ihm dabei als Schlüssel zum Verständnis des russischen Revolutionärs. Nur so ließ sich nachvollziehen, wie die Bolschewiki zum Verständnis ihrer Erzieherrolle kamen. In mehreren Exkursen und Unterkapiteln schildert Dutschke im Anschluss, welche Auswirkungen die Übernahme der leninistischen Theorien durch die Kommunistinnen und Kommunisten im Westen der 1920er Jahre mit sich brachten. Er bezog sich hierbei sowohl auf die Dritte Internationale, also die Komintern, sowie den Revolutionär George Lukács. Letzterer interessierte Dutschke wohl vor allem deshalb, weil am Ende der Jugend- und Studentenbewegung Anfang der 1970er Jahre viele ehemalige Aktivistinnen und Aktivisten durch Lukács Schriften zum Marxismus-Leninismus fanden. Lukács Hauptwerk Geschichte und Klassenbewusstsein wollte Dutschke sogar noch ein eigenes Buch widmen, weshalb die Auseinandersetzung mit dem ungarischen Revolutionär etwas unvollständig wirkt.
Dass Lenin und die Oktoberrevolution international eine unheimliche Anziehungskraft hatten, kann eigentlich nicht verwundern. Nur in Russland hatte die Revolution gesiegt. Scheinbar hatte Lenin alles richtig gemacht. Warum sollte die erfolgreiche Theorie und die organisatorische Struktur der Partei der Bolschewiki – die Entschlossenheit des revolutionären Kampfes, die Disziplin, die Technik, die Zentralisation – dann nicht allgemeingültig sein für den Sieg der sozialistischen Weltrevolution? Dass faszinierende an Lenin, so stellte Lukács fest, war dessen »dominierende Allmacht der Praxis«. Lenin war »immer bereit zu handeln«, so Lukács. Tatsächlich drehte sich bei Lenin in der Epoche des Imperialismus alles um die Aktualität der Revolution.
Die Faszination für den Erfolg der Bolschewiki, gibt Dutschke allerdings zu bedenken, verwechselte »revolutionäre Planung und große taktische Anpassungsfähigkeit. Ohne ihr Mitschwimmen auf der revolutionären Welle des asiatischen Landproletariats im Sinne der sozialrevolutionären Parolen wären die Bolschewiki nie an die Macht gekommen!«. Die Klassenkämpfe in Westeuropa entsprangen gänzlich anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen und mussten entsprechend auch einen ganz anderen Charakter tragen. Aus der Euphorie des revolutionären Augenblicks heraus wurde die »russisch-sowjetische Avantgarde-Theorie« in der »3. Internationale internationalisiert und einstrukturiert«, wie Dutschke schreibt. Die Bolschewiki brauchten und hofften auf die Revolution im Westen, um die eigene Revolution zu retten. Die Revolutionäre im Westen blickten gebannt und fasziniert auf die siegreiche Oktoberrevolution. Was folgte war die politisch-organisatorische Bolschewisierung aller Sektionen, sprich Mitgliedsparteien, der Kommunistischen Internationale. Darin lag für Dutschke »ein verhängnisvoller Fehler bezüglich der revolutionären Taktik in Westeuropa und Nordamerika, ein Fehler, der noch bis in die Gegenwart reicht«.
»Bolschewisierung« bedeutete, dass alle Parteien, die der Komintern angehören wollten, nach dem dem Prinzip des demokratischen Zentralismus aufgebaut sein mussten, also möglichst zentralistisch geführt und mit einer fast schon militärischen Disziplin. Dutschke veranschaulicht dies im Buch anhand von Exkursen zu Ungarn und Deutschland, also der KPU und der KPD. In den Partei-Auseinandersetzungen war die »leninistische Partei« das »neue heilige Wesen«. Alle Fehler und Probleme konnten auf dieses »verabsolutierte Ding« abgewälzt werden. Das Problem bestand dann wahlweise in der Schwäche der Organisation, ihrem Opportunismus oder irgendeinem Verrat. Die ganze Organisationsfrage wurde abstrakt-moralisch diskutiert und war zutiefst subjektivistisch.
Inwiefern der bolschewistische Parteitypus in den Ländern der entwickelten bürgerlichen Produktionsweise überhaupt eine historisch-materialistische Legitimation hatte, wurde dagegen nicht gefragt. »Politische Unklarheit und unbewußte Ohnmacht waren die Folge […] wie sich nach der ersten revolutionären Euphorie am Ende des Ersten Weltkrieges herausstellte«, so Dutschke. Anhand der frühen Schriften von Lukács kann Dutschke zeigen, dass dieser immerhin einen »Verdacht gegen den bürokratischen Dogmatismus der Komintern hatte«. Diese Schriften sind für Dutschke deshalb »trotz aller Einschränkungen die wertvollste Kritik gewesen, die in den europäischen KI Sektionen zu dieser Zeit entwickelt wurde«. Letztlich kann aber auch Lukács nicht unterscheiden »zwischen der Wesenslogik der bürgerlichen Gesellschaft bei Marx und der revolutionären Politik Lenins unter Knechtschaftsverhältnissen«. In letzter Konsequenz konnte er somit nicht sehen, dass die Organisationsformen und das Avantgarde-Verständnis von Lenin zu den Klassenverhältnissen, Verhaltensweisen und Bewegungsformen in der modernen bürgerlichen Gesellschaft nicht passten. Dutschkes Ausführungen zur Komintern verdeutlichen, was für fatale Folgen die unkritische Übernahme der politisch wertvollen, aber in ihrer sozialökonomischen Grundlage falsch interpretierten Revolutionserfahrungen Russlands für die Entwicklung der Revolutionäre in Europa hatte.
Als Dutschke seine Arbeit Anfang der 1970er Jahre schrieb, war dies auch als Kritik an der damals noch existierenden Sowjetunion gemeint. Für ihn war diese mittlerweile ein »halbasiatischer Staatssozialismus« geworden »mit der die Arbeiter und Bauern beschränkenden und ausbeutenden Staats-Maschinerie«. Sympathien und Hoffnungen hegte Dutschke dagegen mit dem antiimperialistischen Befreiungskampf in Vietnam und der Kulturrevolution in China. Dort sah er seinerzeit scheinbar einen »asiatischen Weg zum Sozialismus« im Durchbruch. Ho Chi Minh und Mao Tse-tung attestierte er etwa die Selbstorganisation der Bauern im »revolutionären Prozeß eines Agrarvolkes« begriffen zu haben. Ob es jemals realistisch war, aus Zuständen des traditionellen bäuerlichen Gemeinbeseitzes in »höhere Formen des kommunistischen Gemeinbesitzes überzugehen«, kann heute kaum mehr beantwortet werden. Fakt ist allerdings, dass mittlerweile alle diese Versuche gescheitert sind.
Was an Dutschkes Analyse wesentlich bleibt, sind deshalb nicht seine Gedanken über die Möglichkeiten eines (halb-)asiatischen Wegs zum Sozialismus‚ sondern sein Nachweis, dass die Theorien, die dieser Versuch hervorbrachte, nicht zu den Verhältnissen einer modernen bürgerlichen Gesellschaft passen: »Das ›Primat der Politik‹, die Herrschaft der politischen Außenansicht der Verhältnisse, über die Verhältnisse selbst, steht der Kritik der politischen Ökonomie als Methode für die Sprengung des Kapitalverhältnisses feindlich gegenüber. Jedenfalls bei uns, schließlich geht es im Westen um eine dynamische, nicht um eine stagnierende Gesellschaft wie in der asiatischen Zone«.
Dutschke ging es um eine Rückbesinnung auf Marx’ Kritik der politischen Ökonomie, die die moderne bürgerliche Gesellschaft in ihrem Wesen beschrieb. Der Leninismus, Lenins Partei-, Staats- und Revolutionstheorie war gerade keine Weiterentwicklung der Marxschen Theorie, sondern eine Vermischung der Begriffswelt für vorkapitalistische Gesellschaften mit der Begriffsstruktur von Marx. Die Besonderheit der kapitalistischen Produktionsweise, ihre widersprüchliche Dynamik, kommt bei Lenin nicht vor. »Wir meinen«, erklärt Dutschke zu dieser Problematik, »daß Lenin die Genesis der Formbestimmung des Werts z.B. durch Marx nicht verstehen kann, weil in der russischen Wirklichkeit die von Marx wesensmäßig dargelegte bürgerliche Gesellschaft nicht existiert!«. Nur in letzterer aber ist »das Kapital die alles beherrschende ökonomische Macht«. Die russischen Verhältnisse dagegen beruhten nicht auf (entfremdeter) Lohnarbeit und Kapital, sondern auf persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen und außerökonomischem Zwang.
Dieser Unterschied beinhaltet gravierende Folgen für die Klassenkämpfe. Lenins Parolen von »Geschlossenheit, Standhaftigkeit und Disziplin« – die aus der Zeit der bolschewistischen Heroen in der Illegalität stammten – wirkten schon damals in Westeuropa nur hemmend. Sie tun dies heute erst recht. Was die Lohnabhängigen dieser Tage zu ihrer Emanzipation brauchen, ist Selbsttätigkeit und nicht Bevormundung. Dazu bedarf es keiner Avantgarde leninschen Typs, sondern eine »proletarisch-emanzipative Organisationsstruktur, in welcher der Erzieher erzogen wird, kontrolliert wird, die Strukturierung von ›unten‹ nach ›oben‹ erfolgt«, wie Dutschke schreibt. Dutschkes Buch ist nunmehr fünfzig Jahre alt, bleibt aber in seiner grundsätzlichen Zielstellung richtig. Der letzte Satz lautet: »Sozialismus mit konkreter Freiheit oder modernisierte Barbarei – das ist erneut die Frage«. Um diesem Ziel näher zu kommen, helfen weder erzieherischer Dogmatismus noch leerer Radikalismus. Dutschke argumentiert stattdessen mit seinem Mentor Ernst Bloch. Bei dessen »konkreter Utopie« geht es stets um eine Vermittlung von Nahziel und Fernziel, von konkreten und utopischen Interessen und Bedürfnissen die dabei der jeweiligen historischen Lage entsprechen müssen. »Und auch sachlich muß sich das Fernziel in jedem Nahziel kenntlich machen, eben sowohl damit das Fernziel nicht leer, abstrakt, unvermittelt sei, wie damit das Nahziel nicht blind, opportunistisch, in den Tag hineinlebend«, so Bloch.
Das höchste Ziel bleibt heute die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise durch die Aufhebung Lohnarbeit. Diese wird »aber in der Gegenwart immer mehr möglich und immer notwendiger, um den weltweiten Zerstörungsprozeß von Mensch und Natur durch die herrschenden Verhältnisse ein Ende bereiten zu können«, wie Dutschke betont. Um dem höchsten Ziel näher zu kommen, darf dieses nicht nur abstrakt gepredigt werden. Vielmehr bedarf es der »Entwicklung konkreter Übergangsprogramme, damit die historischen Schritte immer auch Schritte der Annäherung an eben diese Utopie sind. Diese Programme haben wir nicht. Wir brauchen sie. Wir brauchen sie jetzt«. Das ist richtig und ist erschreckender weise noch immer aktuell. In diesem Sinne gilt es – gerade heute – an den vor 45 Jahren an den Folgen seines Attentates viel zu früh verstorbenen Rudi Dutschke zu (ge)denken.
Christian Hofmann veröffentlichte 2022 gemeinsam mit Philip Broisted die Edition »Linke Klassiker« zum Thema »PLANWIRTSCHAFT: Staatssozialismus, Arbeitszeitrechnung, Ökologie« sowie 2020 »Goodbye Kapital« im PapyRossa-Verlag.