30. November 2024
Die militärische Lage für die Ukraine verschlechtert sich und es mehren sich Anzeichen für Kriegsmüdigkeit. Eine weitere Eskalation zwischen dem Westen und Moskau wäre für die Ukraine – und für uns alle – verheerend.
Ein Rettungshelfer betrachtet die Schäden eines russischen Raketenangriffs in der Region Saporischschja im Südosten der Ukraine, 9. Juli 2024.
Nachdem die Regierung von Joe Biden die ukrainischen Streitkräfte autorisiert hatte, US-Langstreckenraketen auf Ziele in Russland zu feuern, folgte der Auftritt von Emmanuel Macron. Frankreichs Präsident rief die Führung in Moskau auf, im Gegenzug nicht zu überreagieren: »Seien Sie vernünftig.«
Die russischen Behörden betonten ihrerseits, die Angriffe mit ATACMS-Raketen seien nur mit direkter Beteiligung der USA möglich gewesen; Außenminister Sergej Lawrow sprach von einer »qualitativen« Wende im Krieg. Er deutete an, dies könne Moskau sogar zum Einsatz von Atomwaffen veranlassen.
Macrons Aufruf zur »Vernunft« verpuffte weitgehend effektlos. Er beruhte lediglich auf der Hoffnung, die russische Führung werde in Reaktion auf die amerikanische Aktion (und übrigens im Gegensatz zu früheren westlichen Aussagen, Putin agiere »im Wahn«) darauf verzichten, noch mehr Ukrainer und potenziell andere Menschen zu töten.
Die Angriffe auf russisches Territorium mit ATACMS wurden von Beamten der Biden-Regierung kurz und knapp als eine taktische Volte im Kriegsgeschehen dargestellt. Sie sollen als Reaktion auf die Mobilisierung nordkoreanischer Soldaten, mit deren Hilfe Russland die ukrainischen Truppen aus dem russischen Oblast Kursk zurückdrängen will, verstanden werden. Das ist aber nicht gänzlich überzeugend. Schließlich hatte Biden derartige Schläge bisher als eine rote Linie dargestellt, die nicht überschritten werden dürfe, da sie russische Vergeltungsmaßnahmen provozieren könnte. Nun, am Ende seiner Amtszeit, nimmt er genau solche Vergeltung in Kauf. Sein Schritt ist mit Sicherheit (auch) vom anstehenden Wechsel an der Spitze der US-Regierung motiviert. Mit den Worten von Anatol Lieven: Biden zwingt seinen Nachfolger Donald Trump dazu, entweder die Ukraine weiterhin zu unterstützen, oder – wenn man das Ganze wohlwollender interpretiert – er versucht, die Position der Ukraine in den zu erwartenden Friedensgesprächen unter Trumps Beteiligung zu stärken.
Derweil ist die Vorstellung, Wladimir Putin werde vor Gegenmaßnahmen gegen die Politik der Biden-Regierung zurückschrecken, bereits widerlegt worden: So feuerte Russland eine ballistische Mittelstreckenrakete (IRBM) auf die Ukraine. Dies ist ein erneuter Fingerzeig, wozu das russische Militär fähig ist – glücklicherweise noch ohne mit Atomsprengköpfen bestückten Raketen.
Auch die Annahme, die Verhandlungsposition der Ukraine werde durch die ATACMS gestärkt, scheint weit von der Realität entfernt zu sein. So rückte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Interview mit Fox News von seiner vorherigen Haltung ab, russische Truppen müssten aus dem gesamten ukrainischen Staatsgebiet vertrieben werden. Er erklärte, dass »nicht Zehntausende unserer Landsleute um der Krim willen sterben« dürften. Vielmehr könne die 2014 von Russland annektierte Halbinsel durch »Diplomatie« zurückgewonnen werden.
Selenskyjs Strategie besteht seit langem darin, den Krieg zu internationalisieren, indem er ihn als existenziellen Kampf nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Europa und die USA darstellt. Doch Anzeichen der Kriegsmüdigkeit im Westen sind nicht zu übersehen. Sicher, einige EU-Beamte diskutieren über weitere Remilitarisierung, Aufrüstung und eine Aufstockung der eigenen Mittel, falls Trump die Hilfe für die Ukraine einstellt, aber derartige Pläne haben alles andere als uneingeschränkte Unterstützung. Tatsächlich scheint beispielsweise Deutschlands Kanzler Olaf Scholz seine Position aufzuweichen. Sein kürzlicher Anruf bei Putin – der erste seit zwei Jahren – wurde von vielen als Reaktion auf die heimischen Rufe nach einem Ende des Krieges gewertet. Vermutlich kann die Antikriegsstimmung auch als Miterklärung für das Erstarken sowohl der AfD als auch des jungen BSW dienen. Der kraftlose Scholz sucht kurz vor den Neuwahlen eine Position irgendwo zwischen dem Druck der radikal-rechten sowie linken Opposition und den weiterhin kriegsfreudigen Akteuren in der Regierung und bei den Konservativen.
Die westliche Politik ist im Großen und Ganzen gespalten und schwankt zwischen den Extrempositionen massive Aufstockung der Mittel für Kiew oder komplette Einstellung der Lieferungen. Einige fordern, den anhaltenden Krieg bereits als »Kickstart« für eine beschleunigte Reindustrialisierung der Ukraine zu verstehen.
Derweil gibt es selbst in der Ukraine Anzeichen dafür, dass der Widerstandswille und die Kraft, mit der seit Beginn der Invasion im Februar 2022 zunächst sehr erfolgreich mobilisiert wurde, nicht ewig beziehungsweise bei allen anhalten können. Wenn offenbar die zu mobilisierenden Männer ausgehen und gleichzeitig die Zahl derjenigen steigt, die desertieren, sich nicht einziehen lassen oder ihre Daten und sich selbst vor den Militärbehörden verstecken, deutet dies auf tiefliegende Probleme hin. Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind tapfer und bewundernswert für die Verteidigung ihres Landes eingestanden und haben sich ebenso engagiert für den Zusammenhalt einer leidenden, angegriffenen Gesellschaft eingesetzt. Wenn Selenskyj nun sagt, weitere »Zehntausende« dürften nicht für die Krim sterben, dann zweifeln viele offenbar, warum weitere Menschen für Dörfer im Donbas sterben sollten.
»Angesichts der drohenden militärischen Eskalation wäre es natürlich schön, wenn man sich über demokratischen Druck von unten gegen die Kriegstreiberei freuen könnte. Doch ein solcher existiert nur bedingt.«
Wir sind nicht in der Position, festzulegen, welchen faulen Frieden die Ukrainer schlucken sollen. Es gibt keinen prinzipiell geltenden Grund, angesichts des unverhohlen imperialistischen Angriffskriegs stets das »Reden« dem »Kämpfen« vorzuziehen. Wir im Westen sollten aber zumindest daran zweifeln, dass diejenigen bei uns, die Krieg bis zum letzten Mann predigen, lediglich den Willen »der Ukrainer« ausdrücken. Es ist offensichtlich schwierig, auch nur einen vagen Eindruck vom wirklichen Meinungsbild in der ukrainischen Bevölkerung zu bekommen, insbesondere angesichts des drastischen Rückgangs der Bevölkerung während des Krieges: fast sieben Millionen Geflüchtete sind im Ausland (davon über eine Million in Russland) und mehrere weitere Millionen leben in von Russland okkupierten Gebieten. Umfragen von Gallup bieten zumindest eine Momentaufnahme eines möglichen Trends: Sie deuten darauf hin, dass in den ersten beiden Kriegsjahren eine große Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer der Ansicht waren, es brauche einen vollständigen Sieg, um den Krieg zu beenden. Inzwischen befürwortet offenbar die Hälfte sofortige Verhandlungen mit Moskau.
Das liegt sicher nicht daran, dass diese Menschen glauben, Verhandlungen über einen Waffenstillstand würden zu einem vernünftigen Kompromiss und einer zukünftigen friedlichen Koexistenz führen. Diese Haltung erklärt sich vielmehr aus der direkten Kriegserfahrung seit fast drei Jahren – und der Befürchtung, dass es noch schlimmer kommen könnte. Bei den Gesprächen wird es nicht um die endgültige Beilegung von Differenzen gehen, sondern um reine Machtlogik. Ja, in diesem Fall wird dies wahrscheinlich bedeuten, dass der russische Staat dem kleineren Nachbarn seinen Willen aufzwingt, was vermutlich viele Demütigungen und eine eingeschränkte Souveränität der Ukraine mit sich bringt. Wenn Kiew – wie Selenskyj es ausdrückt – die Verstümmelung seines Territoriums in den Grenzen von 1991 »rechtlich nicht anerkennen wird«, schafft dies durchaus Raum für zweideutige Übergangslösungen. Für die russische Führung wiederum wäre es vermutlich ausreichend, wenn es in der Ukraine einen »eingefrorenen Konflikt« gibt, der das Land langfristig lähmt. Wenn es keinen eindeutigen und endgültigen Friedensschluss gibt, wird dies darüber hinaus für permanenten Wirbel und Unruhe in der ukrainischen Innenpolitik sorgen. Das würde in Moskau ebenfalls mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen werden.
Darüber hinaus ist immer und immer wieder zu betonen: Westliche Meinungsmacher, die eine immer weitere Eskalation fordern, bleiben weitgehend unberührt von den daraus resultierenden Vergeltungsmaßnahmen Russlands. Denn diese treffen zum allergrößten Teil die Ukraine selbst. Selbst mit dem Hinweis, dass der Kreml angefangen hat und die Schuld für den Krieg trägt, ist diese Herangehensweise wenig hilfreich. In Deutschland sind die Grünen, deren Basis traditionell am wenigsten »wehrdienstwillig« ist, die mit Blick auf die Ukraine kriegslüsternste Partei derzeit. Es ist ja auch eine angenehme Position: Wenn ich aus meinem Wohnungsfenster auf einen Plattenbau in Ost-Berlin schaue, kann ich recht sicher davon ausgehen, dass er nicht von einer russischen Interkontinentalrakete getroffen wird, bevor ich diesen Artikel fertiggestellt habe. Doch die rhetorische und militärische Eskalation folgt einer eigenen Logik: Unsere Selbstdarstellung in diesem Krieg, ja sogar die Bezeichnung »Mitkriegsparteien«, hat unsere Staaten zu Verpflichtungen gedrängt, die nur wenige eingehen wollen. Der anhaltende Krieg in der Ukraine hat die Vorstellung, der Westen könne den russischen Imperialismus praktisch »per Fernsteuerung« ersticken, als falsch entlarvt. Und das Beharren darauf, dass wir alle involviert seien und in gewisser Weise mitkämpfen, hat die Gefahr von weiteren, heißeren Kriegen erhöht.
Angesichts der drohenden militärischen Eskalation wäre es natürlich schön, wenn man sich über demokratischen Druck von unten gegen die Kriegstreiberei freuen könnte. Doch ein solcher existiert nur bedingt: In den am unmittelbarsten betroffenen Gesellschaften sind Millionen vor dem Konflikt geflohen. Sie haben aber nicht unbedingt nur gegen den Krieg »mit den Füßen gestimmt«. Schließlich gab und gibt es genügend weitere Gründe, diese Regionen zu verlassen – wobei der Kriegsausbruch selbstverständlich ein einschneidendes Erlebnis war, das für viele den Druck wohl unerträglich gemacht hat.
Auch in Russland gibt es Kriegsgegner. Sie haben es aber besonders schwer, eine Massenbewegung aufzubauen. Darüber hinaus scheint es keine grundlegende Regimekrise zu geben. Die Machtelite wirkt geeint, es sind keine Risse zu sehen. Selbst ein halbgarer Putschversuch wie der von Jewgeni Prigoschin im Juni 2023 scheint heute geradezu undenkbar.
In der Ukraine werden von offizieller Seite derweil mögliche Wahlen im Jahr 2025 ins Gespräch gebracht. Diese wären sicherlich deutlich demokratischer als Wahlen in Russland, aber sie dürften kaum gute Alternativen bringen. Die oben erwähnten Schwierigkeiten bei Meinungsumfragen würden auch für Wahlumfragen gelten, und die politische Unterdrückung derjenigen, die als »Vaterlandsverräter« angesehen werden, lässt nichts Gutes für die Wahrung demokratischer Grundsätze erwarten. Die Wahl eines neuen »Kriegspräsidenten« unter den gegebenen Bedingungen – in denen die Ukraine militarisiert und teilweise besetzt ist sowie von ihren westlichen Gönnern finanziell an der kurzen Leine gehalten wird – wäre offensichtlich ein recht eingeschränkter »Ausdruck der Volkssouveränität«.
»Wir dürfen nicht nur hoffen und darum betteln, dass Putin in seiner Reaktion auf die Aktionen der westlichen Kriegspartei ›vernünftig‹ ist. Stattdessen brauchen wir einen wirklich umsetzbaren Plan, wie Europa aus diesem Krieg herauskommen kann.«
Dennoch würde dies dem Großteil der Ukrainerinnen und Ukrainer zumindest ein gewisses Maß an Mitspracherecht darüber einräumen, wie es weitergehen soll. Das bedeutet aber nicht, dass es Konsens und infolgedessen Stabilität gibt. Eine ukrainische Regierung, die Friedensgespräche anstrebt, muss mit erheblichem, gegebenenfalls sogar gewalttätigem Widerstand rechnen.
Indes war Bidens Entscheidung, den Einsatz von ATACMS zu genehmigen, keine Einzelentscheidung der USA. Sie war vielmehr eine Antwort auf eine Forderung von Selenskyj. Fragwürdig ist vor allem, dass ein scheidender Präsident eine derart historische außenpolitische Wende einleitet, die komplett außer Kontrolle geraten könnte. Eine solche Aktion und die zu befürchtenden Folgen dürften die Entschlossenheit der US-amerikanischen oder westlichen Öffentlichkeit, die Ukraine noch stärker zu unterstützen, kaum stärken. Es gibt nach wie vor Kräfte in Osteuropa und in den EU-Hauptstädten im Allgemeinen, die einen Kampf bis zum Sieg versprechen. Dort sieht man sich auch als fähig, einzuspringen, sollte Trump die Unterstützung der USA für Kiew aussetzen, einschränken oder an Bedingungen knüpfen. EU-weite Umfragen (die auf der Website des EU-Parlaments nicht mehr aktualisiert werden) deuten jedoch darauf hin, dass interner Widerspruch und Pazifismus, aber auch Apathie und Kriegsmüdigkeit diesen vermeintlichen Konsens für einen Krieg bis zum Sieg untergraben haben.
Biden, ein Mann des Kalten Krieges, mag inzwischen die Logik der gegenseitigen Abschreckung vergessen haben, die einst die westlichen Regierungen und Moskau davon abhielten, allzu direkt aneinanderzugeraten. Die Bevölkerung in der Ukraine (insbesondere die einkommensschwachen Schichten und die Männer im wehrfähigen Alter) und auch die Menschen in der EU haben heute womöglich ein deutlich besseres Gespür dafür, was eine weitere Eskalation bedeuten könnte. Wenn dieser Krieg tatsächlich ein »existenzieller Kampf« um den Westen und seine Werte ist, dann dürfen die Einstellungen und Interessen dieser Menschen nicht ignoriert werden.
Wir dürfen nicht nur hoffen und darum betteln, dass Putin in seiner Reaktion auf die Aktionen der westlichen Kriegspartei »vernünftig« ist. Stattdessen brauchen wir einen wirklich umsetzbaren Plan, wie Europa aus diesem Krieg herauskommen kann. Und zwar schnell.
David Broder ist Europa-Redakteur von JACOBIN und Autor von Mussolini’s Grandchildren: Fascism in Contemporary Italy (Pluto Press, 2023).