07. Oktober 2024
Seit dem Angriff der Hamas herrscht in Israel blanker Hass. Als Israelis, die für eine andere Zukunft gekämpft haben, schmerzt es uns, zu sehen, was aus unserem Land geworden ist – und es erfüllt uns mit Sorge und Angst.
»Netanjahus Kompromisslosigkeit kommt an: Die jüngsten Angriffe Israels im Libanon haben zu einem deutlichen Anstieg der Unterstützung für die Regierung des Premierministers geführt.«
Der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 hat die israelische Gesellschaft fundamental erschüttert. Alle Israelis spüren seitdem einen nicht zu stillenden Schmerz in der Brust – wir denken an die Menschen, die wir verloren haben, trauern um die potenzielle Zukunft, die uns dadurch genommen wurde und fragen uns, was wir hätten tun können, um all das zu verhindern. Eine Minderheit von uns empfindet darüber hinaus Schmerz angesichts dessen, was Israel in Gaza anrichtet. Wir leiden, wenn wir sehen, was wir als Israelis geworden sind – oder vielleicht schon immer waren.
Die humanitäre Katastrophe, die sich nach wie vor in Gaza abspielt, ist beispiellos. Es handelt sich um ein inzwischen ein Jahr andauerndes Kriegsverbrechen, dessen Ende immer noch nicht abzusehen ist. Es ist eine der schlimmsten von Menschen verursachten Notlagen des 21. Jahrhunderts und das wohl größte moralische Dilemma unserer Zeit. Im Gegensatz dazu, wie es in englisch- und deutschsprachigen Medien oft erscheint, gibt es Verantwortliche und Urheber dieser Katastrophe. Die Hamas trägt zweifelsohne die volle Verantwortung für den Beginn des aktuellen Krieges; Israel trägt die Verantwortung für das, was weiterhin in Gaza geschieht.
Der Wandel in der israelischen Gesellschaft, der Letzteres ermöglicht, hat sich allerdings nicht erst mit dem 7. Oktober 2023 vollzogen: Das allmähliche Abdriften nach ganz rechts ist seit mindestens zwanzig Jahren, wenn nicht sogar länger, zu beobachten. Die ideologischen Wurzeln für diesen Rechtsruck reichen weit zurück. Man könnte sogar sagen, dass eine Politik der ethnischen Säuberung und des jüdischen Expansionismus seit Beginn der organisierten jüdischen Besiedlung Palästinas im frühen 20. Jahrhundert Teil des zionistischen Projekts ist. Doch über derartige Tendenzen innerhalb der israelischen Gesellschaft wurde historisch immerhin gestritten. Die wohl auffälligste Folge des 7. Oktobers ist hingegen die Festigung einer zunehmend radikalen Pro-Kriegs-Mehrheit in der Gesellschaft.
»Die israelische Bevölkerung lebt in einem Spannungsfeld, das einerseits von einer riesigen Angst vor Bedrohungen von außen und andererseits von einer wachsenden faschistischen Stimmung im Inland geprägt ist.«
Die liberal-demokratische Fassade, mit der lange Zeit zumindest für die jüdischen Bürgerinnen und Bürger trotz des bestehenden Apartheid-Regimes ein Gefühl der Normalität bewahrt werden konnte, ist endgültig zerbröckelt. Seit dem vergangenen 7. Oktober herrscht Hass im Land. Es wirkt, als hätte der Angriff der Hamas alle negativen strukturellen Elemente des jüdischen Staates zu Tage gefördert: das bedingungslose Vertrauen in die eigene militärische Stärke, die implizite Überzeugung, dass Palästinenserinnen und Palästinenser als Menschen weniger wert (oder gar keine Menschen) sind, und das Beharren auf bedingungsloser Loyalität zur eigenen Ethnie und Nation. Diese hässlichen Züge unserer Gesellschaft machen denjenigen Israelis Angst, die wie wir der Meinung sind, dass ein anderer Weg für diesen Staat möglich gewesen wäre.
Die Ereignisse vom 7. Oktober stellten einen Wendepunkt im persönlichen Leben aller Israelis dar. Sie waren eine traumatische Zäsur im kollektiven Bewusstsein Israels. Dieser düstere Tag – der umgehend zum Mythos wurde und wiederholt als das schlimmste Ereignis in der jüdischen Geschichte seit dem Holocaust bezeichnet wurde – schuf ein allgegenwärtiges Gefühl der Unsicherheit und des Pessimismus. Letztendlich steigerte sich dies bei vielen Israelis zu einer rachsüchtigen Missachtung für alles palästinensische Leben. Das gesellschaftliche Trauma bleibt dabei größtenteils dekontextualisiert und fokussiert sich ausschließlich auf diesen einen Tag. Dabei hat der Krieg im Gazastreifen auch auf viele andere Arten einen erheblichen Tribut von der israelischen Gesellschaft gefordert. Dies scheint angesichts der Schrecken des 7. Oktobers 2023 jedoch weitgehend unbeachtet zu bleiben.
Zunächst einmal ist der tatsächliche physische Raum, der israelischen Zivilisten zugänglich ist, seit Beginn des Krieges dramatisch geschrumpft: Bereits in den ersten Kriegstagen ordneten die israelischen Behörden an, dass etwa 300.000 Bürgerinnen und Bürger, die innerhalb der international anerkannten Grenzen des Staates Israel leben, ihre Häuser verlassen sollten. Die Evakuierung in den südlichen Regionen des Landes waren notwendig, da bewaffnete palästinensische Milizen dort operierten. Die Evakuierung an der »Nordfront« zum Libanon war hingegen eine schnell und in einem Moment der Panik ergriffene Vorsichtsmaßnahme. Es herrschte offensichtlich Angst vor weiteren, mit der Hamas-Attacke vergleichbaren Angriffen aus dem Norden. In den vergangenen zehn Monaten erwies sich diese Evakuierung als eine besonders schwerwiegende strategische (Fehl-) Entscheidung Israels im Krieg: Sie ermöglichte das ganze Jahr über anhaltende, immer heftigere Gefechte entlang der Grenze und führte schließlich zur jüngsten Eskalation im Libanon, einschließlich der Ermordung des Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah und nun einer israelischen Bodeninvasion, deren Umfang und Folgen noch nicht abzusehen sind.
»Die Vorstellung, Israel könnte den eigenen Norden verloren haben, ist ein besonders starker emotionaler Faktor mit Blick auf den anhaltenden Krieg. Man könnte vom größten Vertrauensverlust in den Staat nach dem Sicherheitsdebakel vom 7. Oktober 2023 sprechen.«
Viele Menschen im Süden Israels sind nach der Besetzung und Zerstörung Gazas sowie der klaren Hoheit der israelischen Armee über die Grenze bereits in ihre Häuser zurückgekehrt. Im Norden, entlang der libanesischen Grenze, bleiben die etwa 60.000 evakuierten Menschen hingegen Binnenflüchtlinge. Ihre Dörfer und Kibbuzim sind zu Geisterstädten geworden, die aktuell nur von israelischen Soldatinnen und Soldaten bewohnt werden. Darüber hinaus werden Häuser und Felder durch direkte Attacken der Hisbollah sowie durch von diesen Angriffen ausgelöste Buschbrände systematisch zerstört.
Durch die Evakuierung ganzer Gemeinden im Norden entstand eine große Gruppe von Israelis, die aktuell praktisch obdachlos sind. Einige Kibbuzim wurden zwar in andere Kibbuzim in zentraleren Regionen integriert und es gibt Aufnahmelager. Doch zehntausende Menschen müssen sich auf Familienmitglieder oder Kollegen verlassen, um Unterschlupf zu finden. Sie fragen sich, ob ihre Vertreibung dauerhaft sein wird. Niemand kann derzeit sagen, ob sie jemals zurückkehren werden.
Die Vorstellung, Israel könnte den eigenen Norden also in gewisser Weise verloren haben, ist nicht zu unterschätzen und ein besonders starker emotionaler Faktor mit Blick auf den anhaltenden Krieg. Man könnte vom größten Vertrauensverlust in den Staat nach dem Sicherheitsdebakel vom 7. Oktober 2023 sprechen. Einige rechtfertigen diesen vermeintlichen Souveränitätsverlust als hinzunehmenden Preis für die anhaltende Gaza-Offensive. Die Regierung instrumentalisiert die Evakuierungen ihrerseits für Kriegspropaganda: Offensichtlich bestehe große Gefahr für den Norden – und dies rechtfertigt die Ausweitung der Nordfront, wie wir sie in den vergangenen Wochen beobachten mussten.
Vor dem 7. Oktober tobte in der israelischen Gesellschaft ein hitziger politischer Kampf. Grund war die von der Regierung Netanjahu vorgeschlagene Justizreform, durch die die Judikative geschwächt und der Exekutive extrem weitreichende Befugnisse eingeräumt werden sollten. Diese Reform war Teil eines umfassenderen Maßnahmenpakets, das den Weg für die Annexion des Westjordanlands ebnen würde. Seit Januar 2023 kam es zu Massenprotesten gegen die Reform. Der 7. Oktober war auch für diese Proteste eine Zäsur: die gesamte jüdisch-israelische Gesellschaft stand angesichts der Angriffe nun geschlossen für die Nation ein – und ermöglichte es somit der Regierung, im Schatten des allgegenwärtigen Krieges ihre autoritäre Agenda mit anderen Mitteln durchzudrücken.
In den ersten Wochen nach dem 7. Oktober gab es eine massive Welle von Ermittlungen, Verhaftungen und Anklagen gegen palästinensische Bürgerinnen und Bürger, denen »Anstiftung zur Gewalt« oder »Unterstützung des Terrorismus« vorgeworfen wurde. Die meisten wurden wegen Social-Media-Beiträgen verhaftet. Dabei handelte es sich unter anderem um reine Mitleidsbekundungen angesichts der Lage in Gaza. Hunderte Ermittlungsverfahren wurden eingeleitet. Der Generalstaatsanwalt erteilte der Polizei weitreichende Erlaubnis zur Ingewahrsamnahme von Verdächtigen. Viele Menschen wurden längere Zeit inhaftiert; es gab Berichte über körperliche Gewalt und erniedrigende Behandlung. Auch palästinensische Journalistinnen und Journalisten, die für internationale Medien arbeiteten, wurden attackiert, verhaftet, willkürlichen Einschränkungen unterworfen und in einigen Fällen mit Tätigkeitsverboten belegt.
Zur polizeilichen Repression kamen zahlreiche Belästigungen, Doxing und Gewalt von Zivilisten und rechten Gruppierungen (die ihrerseits kaum polizeiliche Gegenmaßnahmen fürchten mussten) hinzu. Palästinensische Menschen wurden an ihren Arbeitsplätzen, Schulen und an öffentlichen Orten bedroht. Es entstand eine Atmosphäre der Einschüchterung einerseits sowie des Schweigens und Wegsehens andererseits. Diese Drangsalierung ist besonders an Universitäten und Hochschulen weit verbreitet; die Institutionen und Behörden bieten in der Regel wenig bis gar keinen Schutz.
»Ben-Gvir sorgte nach dem Hamas-Angriff dafür, dass zigtausende Schusswaffen an Zivilisten ausgegeben wurden, indem er die Waffenlizenzvorschriften lockerte. Die Zahl der privaten Waffenbesitzer stieg innerhalb weniger Wochen um 64 Prozent.«
Das harte Vorgehen gegen palästinensische Menschen (und gegen Anti-Kriegs-Aktivisten) ist Teil einer umfassenderen, äußerst gefährlichen Politisierung der Polizei, wie Noa Levy und andere Beobachterinnen und Beobachter argumentieren. Die systematische Übernahme der Polizei durch die Rechte begann mit der Ernennung des Radikalen Itamar Ben-Gvir zum Minister für nationale Sicherheit. Im Dezember 2022 verabschiedete die Knesset im Rahmen der Vorbedingungen für die Bildung der amtierenden Regierung Netanjahu den sogenannten »Ben-Gvir-Zusatz« zum Polizeigesetz. Damit wurden wichtige und weitreichende Befugnisse vom nationalen Polizeipräsidenten auf den Minister übertragen. Schon kurz darauf besetzte Ben-Gvir zahlreiche hochrangige Polizeipositionen mit politisch loyalen Personen neu. Er entließ Polizeikommandeure, die sich seiner politischen Agenda widersetzten, und stärkte rechten Beamten den Rücken – insbesondere, wenn sie eine gewisse Gewaltaffinität und die Bereitschaft zeigten, Proteste gegen die Regierung gewaltsam niederzuschlagen. Laut Presseberichten erfolgten einige dieser Ernennungen gegen bestehende Vorschriften und ohne juristische Überprüfung. Insbesondere seien offen rechtsradikale Beamte mit einschlägigen Gewalt-Vorgeschichten und früheren Disziplinarverstößen befördert worden.
Im Folgenden nutzte Ben-Gvir den 7. Oktober umgehend, um einerseits die Umwandlung der israelischen Polizei in eine ihm hörige politische Waffe zu beschleunigen als auch anderseits weitere paramilitärische rechtsextreme Kräfte zu stärken. So sorgte Ben-Gvir in den Wochen nach dem Hamas-Angriff dafür, dass zigtausende Schusswaffen an Zivilisten ausgegeben wurden, indem er die entsprechenden Waffenlizenzvorschriften lockerte. Die Zahl der privaten Waffenbesitzer stieg innerhalb weniger Wochen um 64 Prozent. Darüber hinaus sollen etwa 12.000 Waffenscheine illegal ausgestellt worden sein, was zu Ermittlungen gegen das Ministerium führte.
Darüber hinaus richtete Ben-Gvir rund 900 sogenannte »Notfalleinsatzgruppen« (Emergency Response Units) ein. Diese bestehen aus zivilen Freiwilligen, die mit Sturmgewehren bewaffnet werden. Diese »Einheiten«, die hastig und ohne angemessene Ausbildung, Disziplin oder militärisch-polizeiliche Aufsicht geschaffen wurden, sind nun in Städten und Gemeinden im ganzen Land (einschließlich Ostjerusalem und in gemischt jüdisch-palästinensischen Städten innerhalb der Grünen Linie) im Einsatz. Es ist zu befürchten, dass diese Truppen unautorisiert Gewalt anwenden und so bewaffnete Auseinandersetzungen innerhalb der Zivilbevölkerung auslösen könnten.
Während Ben-Gvir sich darauf konzentrierte, in der israelischen Innenpolitik zu zündeln, lässt sein Kompagnon Bezalel Smotrich – ein Fürsprecher der radikalen jüdischen Siedler in der Regierung – seiner Wählerschaft im besetzten Westjordanland freie Hand.
Gemäß der Koalitionsvereinbarung wurde Smotrich zusätzlich zu seinem Amt als Finanzminister die Leitung der sogenannten Zivilverwaltung und der Koordinierungsstelle für Regierungstätigkeiten in den Gebieten (COGAT) übertragen. Dies sind zwei Organe, die das gesamte zivile Leben im C-Gebiet im Westjordanland regeln. Unter anderem konnte Smotrich in dieser Position ein neues Organ namens »Siedlungsverwaltung« einrichten. Diese Verwaltung ist für jegliche Themen in Siedlungsgebieten zuständig, die zuvor unter militärischer Gerichtsbarkeit standen. Mit dieser augenscheinlich rein administrativen Umstrukturierung wurde stillschweigend der Weg für eine De-facto-Annexion der Siedlungsgebiete geebnet.
»Der Hass und die Entmenschlichung der palästinensischen Bevölkerung sind beispiellos, selbst in der langen Geschichte blutiger Kriege Israels.«
Seit dem 7. Oktober nutzt Smotrich die ihm übertragenen Aufgaben, um die ethnische Säuberung und eine Ausweitung der Siedlungen im Westjordanland voranzutreiben. Schon im April dieses Jahres wurde ein neuer Rekord mit Blick auf als »staatliches Land« deklarierte Orte in den besetzten Gebieten erreicht. Ähnliche »Rekordzahlen« gab es auch bei den Genehmigungen für neue Baupläne. Hinzu kamen Versuche, illegale Außenposten und Häuser jüdischer Siedler – einige davon auf palästinensischem Privatland – rückwirkend zu legalisieren. Seit Beginn des Krieges wurden 24 neue Außenposten errichtet und Dutzende neue Straßen angelegt.
Gewalttaten von jüdischen Siedlern gegen palästinensische Menschen hatte es schon vor dem 7. Oktober massiv gegeben. Seitdem haben die Vorfälle nochmals deutlich zugenommen. Übergriffe werden oft mit dem Schutz, wenn nicht sogar der aktiven Beteiligung von Polizei und Militär begangen. In diesem Jahr wurden fast 1.000 gewalttätige Angriffe verzeichnet; an einigen waren hunderte Randalierer beteiligt. Mindestens 31 palästinensische Menschen starben bei den Ausschreitungen. Aktivistinnen und Aktivisten berichten, es sei nahezu unmöglich geworden, zwischen zivilen Siedlern und Soldaten zu unterscheiden, da viele Siedler als Reservisten der Armee registriert sind. Die Angreifer könnten auf praktisch absolute Straffreiheit vertrauen. So wurden beispielsweise 19 Hirtengemeinschaften im Jordantal vertrieben und ihres Landes beraubt – ohne rechtliche Konsequenzen. Auch linke Aktivistinnen und Aktivisten, die diese Communities schützen und verteidigen wollen, sind regelmäßig Ziel von Angriffen.
Der derzeitige Hass und die Entmenschlichung der palästinensischen Bevölkerung sind beispiellos, selbst in der langen Geschichte blutiger Kriege Israels. Es gibt Ausnahmen, doch größtenteils reichen die Reaktionen auf das Töten, Aushungern und Terrorisieren von 2 Millionen Menschen in Gaza von Achselzucken und Gleichgültigkeit bis hin zu regelrechter Blutgier. In der Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) werden hunderte potenziell genozidrechtfertigende Aussagen von hochrangigen israelischen Politikern von Netanjahu bis Yoav Gallant dokumentiert. Als erschreckendes Beispiel sei hier nur Smotrichs jüngste Aussage genannt, es könne »gerechtfertigt und moralisch vertretbar sein, 2 Millionen Menschen verhungern zu lassen«.
»Im israelischen Bewusstsein existierte der Gazastreifen als eine Art Geisterland: ein Ort des absolut Bösen und Gefährlichen, über den die meisten Israelis aber so gut wie nichts wussten.«
Entmenschlichende Ansichten dieser Art sind durch das traumatische Erlebnis des 7. Oktobers sicherlich noch stärker und weiter verbreitet worden, sie sind aber keinesfalls ein Produkt dieses einen Tages. Vielmehr sind sie das Ergebnis jahrzehntelanger Embargos und Belagerungen, mit denen Israel die vollständige Kontrolle über viele Aspekte des Lebens in Gaza ausübte, während die israelische Gesellschaft kaum Berührungspunkte mit den Menschen dort hatte. Im israelischen Bewusstsein existierte der Gazastreifen als eine Art Geisterland: ein Ort des absolut Bösen und Gefährlichen, über den die meisten Israelis aber so gut wie nichts wussten und mit dem es keine Kommunikation gab (und geben durfte).
Die Entmenschlichung wurde und wird durch die israelischen Mainstream-Medien verstärkt, die bereitwillig den Sprachgebrauch des Militärs übernehmen. Israelische Nachrichtenagenturen haben systematisch Berichte über Opfer und Leid in der Zivilbevölkerung Gazas unterschlagen. Die meisten Artikel berufen sich auf keine anderen Quellen als Sprecher der israelischen Armee. Abgesehen von einer Handvoll unabhängiger Medien sowie gelegentlichen Berichten in der Zeitung Haaretz werden Israelis nicht mit den erschütternden Bildern und Berichten konfrontiert, die der Rest der Welt zu sehen bekommt. Wie Hagar Shezaf kürzlich berichtete, verweigert die israelische Armee Journalistinnen und Journalisten den Zugang zum Gazastreifen – es sei denn, sie begleiten Militäreinheiten. Damit solle wohl sichergestellt werden, dass die Berichterstattung mit der »offiziellen« israelischen Perspektive übereinstimmt. Die Schließung der Redaktion von Al Jazeera in Israel durch die Regierung war ebenfalls ein klarer Angriff auf die Pressefreiheit. Dadurch wird die Möglichkeit der israelischen Allgemeinheit beschnitten, Zugang zu anderen, abweichenden Sichtweisen und Einschätzungen zu erhalten.
Dieser mediale »Blackout« hat die israelische Gesellschaft nicht nur in Bezug auf die verursachte Zerstörung in Gaza, sondern auch gegenüber Meinungsverschiedenheiten und Nuancen innerhalb der palästinensischen Gemeinschaft abgestumpft. Dadurch werden Palästinenserinnen und Palästinenser sowie ihre Unterstützer – sei es in Gaza, im Westjordanland und sogar auf US-amerikanischen College-Campus – in immer größeren Teilen der israelischen Gesellschaft als homogene Gruppe wahrgenommen, die sich ausschließlich dem Massenmord an Jüdinnen und Juden verschrieben habe. Dies befeuert natürlich die ohnehin dominante Meinung, nur harte und geradezu endlose Militäraktionen könnten israelische Menschen vor einem zweiten 7. Oktober schützen.
Im vergangenen Jahr konnten wir die weitere Militarisierung einer bereits stark militarisierten Gesellschaft beobachten. Jüdische Israelis aus allen Teilen der Gesellschaft schließen sich aktiv der Vision für Israel an, die von der religiösen Rechten propagiert wird: Ein Land als eine Art »jüdisches Sparta im östlichen Mittelmeer«; eine Nation von Kriegerinnen und Kriegern unter Gottes Führung, die einen heiligen und ewigwährenden Kreuzzug gegen die Araberinnen und Araber führt.
Laut der vorherrschenden militaristischen Narrative und Erklärungen zum 7. Oktober habe sich Israel zu sehr auf das Konzept einer »kleinen, aber smarten Armee« verlassen, einer Truppe, die durch technologische Versiertheit, hochwirksame Aufklärungsarbeit und eine starke Luftwaffe überzeugt. Das militärische Desaster vom 7. Oktober, dieser Kollaps der israelischen Verteidigung, hat unter israelischen Militärexperten zum Konsens geführt, dass die Armee mehr Personal und Panzer benötige, um die Grenzen effektiv zu verteidigen und die Okkupation anderer Gebiete zu meistern.
»Sogar die Einführung der Wehrpflicht für die Ultraorthodoxen gilt nun als wichtige militärische Frage. Anders ausgedrückt: Israel scheint sich auf eine Art permanenten Kriegszustand vorzubereiten.«
Eine permanente Erweiterung der Streitkräfte in einem relativ kleinen Land wie Israel wird weitreichende gesellschaftliche Folgen haben. Viele gehen davon aus, dass die Hypermilitarisierung – einschließlich der langfristigen Wiederbesetzung des Gazastreifens und womöglich der Einrichtung eines »Sicherheitsstreifens« im Südlibanon – eine Verlängerung des Militärdienstes für Männer erforderlich machen wird. In den israelischen Medien wird bereits über eine mögliche Ausweitung des Grundwehrdienstes von drei auf vier Jahre sowie ein anschließender Reservedienst von bis zu 100 Tagen pro Jahr berichtet. Sogar die Einführung der Wehrpflicht für die Ultraorthodoxen (ein seit jeher heiß umstrittenes Thema) gilt nun als wichtige militärische Frage. Anders ausgedrückt: Israel scheint sich auf eine Art permanenten Kriegszustand vorzubereiten.
Eine solche Zukunft würde unter anderem schwerwiegende ökonomische Folgen haben. Permanenter Krieg bedeutet auch permanente Kriegswirtschaft. Die erhöhten Investitionen in die Armee – in Waffensysteme, Ausbildung, Personal – dürften zu Lasten sozialer Dienste und Leistungen gehen. Darüber hinaus würde der verlängerte Wehrdienst die Produktivität Israels direkt beeinflussen, da weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Soldaten schaffen keinen ökonomischen Mehrwert.
Diese direkten Kosten des permanenten Kriegszustands wären dabei nur die unmittelbaren Auswirkungen einer solchen »Spartaisierung« Israels. Vielmehr droht die militaristische Politik der Regierung, den Staat Israel auf der internationalen Bühne zum Paria zu machen, trotz der anhaltenden Unterstützung durch die USA und Deutschland. Die global gut vernetzte und integrierte israelische Wirtschaft mit ihrem Fokus auf den High-Tech-Sektor dürfte eine derart weitreichende Isolation langfristig nicht überstehen. Die israelische Wirtschaftsplanung würde sich auf Cybersicherheit, Rüstung und Erdgasförderung konzentrieren müssen, um ein unter den westlichen Staaten zumindest mittelhohes BIP zu halten. Selbst wenn eine drohende Kriegswirtschaft erfolgreich ist, wird der zukünftige Lebensstandard nicht mit dem vergleichbar sein, an den sich die Israelis in den vergangenen Jahrzehnten gewöhnt haben.
Angesichts dieser sich abzeichnenden Zukunft sind viele Israelis, die über die Möglichkeit und die Mittel (sprich: Fachwissen und einen ausländischen Pass) verfügen, bereits dabei, das Land zu verlassen. Dabei geht es weniger darum, ob sie den aktuellen Krieg befürworten oder nicht: Sie wollen schlichtweg nicht in einem zukünftigen jüdischen Sparta leben. Der Trend ist am stärksten in den Gesellschaftsschichten ausgeprägt, die Israel braucht, um sich wirtschaftlich über Wasser zu halten – IT-Fachkräfte, Akademikerinnen und Ärzte, um nur einige zu nennen. Während die realen und auch die bildlichen Mauern in und um Israel herum höher werden, ist ein Exodus der gut ausgebildeten Israelis bereits im Gange.
Angesichts des gesamtgesellschaftlichen Traumas, einer hypermilitarisierten Gesamtatmosphäre und einer Welle antidemokratischer sowie expansionistischer Politik ist es der Opposition gegen die Regierung Netanjahu (sowohl im Parlament als auch auf der Straße) absolut nicht gelungen, adäquate Reaktionen und Gegenentwürfe zu präsentieren. Insgesamt gibt es zwar viel Kritik an den Fehlern der Regierung bei der Kriegsführung. Doch nur eine kleine Minderheit lehnt den Krieg per se ab.
Tatsächlich ist die Wut gegenüber der Regierung in weiten Teilen der Öffentlichkeit stärker denn je. Die Menschen machen Netanjahu und sein Team dafür verantwortlich, den Angriff vom 7. Oktober nicht verhindert und die Geiseln sowie die nördlichen Regionen Israels im Stich gelassen zu haben. Bei großen Protesten im Laufe dieses Jahres (und insbesondere nach der Ermordung von sechs Geiseln im August) hielten die Demonstrierenden Schilder hoch, auf denen sie Netanjahu und seine Minister als Mörder bezeichneten. Dies bezog sich freilich nicht auf die Tötung von mehr als 41.000 Menschen in Gaza, sondern auf die Weigerung der Regierung, ein Waffenstillstandsabkommen zu unterzeichnen, mit dem die Geiseln hätten gerettet werden können.
»Die bittere Wahrheit ist aber, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen in Israel weitgehend das Narrativ akzeptiert, militärische Aggression sei der einzige Weg, um die eigene Sicherheit wiederherzustellen.«
Die marginalisierte israelische radikale Linke nimmt an diesen Demonstrationen als Teil des »Anti-Occupation«-Blocks teil (und ist mit der palästinensisch-jüdischen Partei Chadasch auch in der Knesset vertreten). Sie versucht, das Schicksal der israelischen Geiseln mit dem der palästinensischen Menschen in Gaza zu verknüpfen, da alle unter dem gegenwärtigen Krieg leiden. Die bittere Wahrheit ist aber, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen in Israel weitgehend das Narrativ akzeptiert, militärische Aggression sei der einzige Weg, um die eigene Sicherheit wiederherzustellen. Der Oppositionsführer Yair Lapid hat in letzter Zeit seinen Ton geändert: Er fordert nun ausdrücklich ein Ende des Krieges, befindet sich damit aber in der Minderheit. Zahlreiche Falken und Ex-Generäle wie Benny Gantz und Yair Golan sowie der rechtsradikale Avigdor Liberman (allesamt scharfe Netanjahu-Kritiker) haben ihrerseits Pläne für eine Eroberung des Libanon vorgelegt. Gideon Saar, ein weiterer rechtsgerichteter Abgeordneter der Opposition, ist kürzlich Netanjahus Regierung beigetreten, um den Feldzug im Libanon zu unterstützen. Dieser Schritt hat die Chancen der amtierenden Koalition erheblich erhöht, bis 2026 an der Macht zu bleiben.
Im November 2023 war der von der Protestbewegung erzeugte Druck ein wesentlicher Grund für die Freilassung von 105 Geiseln im Rahmen eines ersten Abkommens. Die Proteste werden insgesamt aber fruchtlos bleiben, solange die größeren, zugrundeliegenden moralischen und politischen Fragen mit Blick auf den Krieg nicht angesprochen werden. Alle Seiten betrachten ein Ende des Krieges entweder als Preis, der für die Rückkehr der Geiseln gezahlt werden muss, oder aber als Preis, der für diese Rückkehr zu hoch wäre. Ein Kriegsende als Ziel an sich ist in den Debatten kaum zu vernehmen. Die Widersprüche wurden in einer kürzlich durchgeführten Kampagne deutlich: Demnach sollten die Geiseln befreit und dann in Gaza weitergekämpft werden. Diese Idee – gleichermaßen grausam und unrealistisch – ist vor allem ein verzweifelter Versuch, auf der Meinungswelle in einer kriegsbegeisterten Bevölkerung mitzuschwimmen. Letztlich nützt dies nur der Regierung, die die Protestierenden leicht als irrational oder defätistisch bezeichnen kann. Netanjahu selbst kann sich als »harter Verhandlungspartner« sowohl gegenüber der Hamas als auch der USA darstellen. Indem die Opposition die grundlegenden Handlungsweisen der Regierung nicht in Frage stellt, stärkt sie diese.
Abgesehen von den hier beschriebenen psychosozialen Faktoren und den Auswirkungen der Entmenschlichung von Palästinenserinnen und Palästinensern ist die zögerliche Haltung der Mainstream-Opposition, einen Waffenstillstand zu fordern, auch darauf zurückzuführen, dass sie schlichtweg keine alternative politische Vision anzubieten hat. Die Israelis haben verständlicherweise Angst davor, dass in Gaza wieder eine Situation wie vor dem 7. Oktober entsteht. Die meisten von ihnen wissen zwar, dass das Versprechen, die Hamas komplett »auszulöschen«, unrealistisch ist und dass die Aufrechterhaltung militärischer Präsenz in Gaza und im Libanon – ganz zu schweigen vom Wiederaufbau von jüdischen Siedlungen – nicht weniger als einen endlosen Zermürbungskrieg bedeuten. Dennoch hat keiner der Hauptakteure der Opposition andere Lösungsansätze vorgeschlagen. Viele kritisieren Netanjahu. Er habe die Herrschaft der Hamas (statt der Palästinensischen Autonomiebehörde) über Gaza zugelassen und sogar gefördert, so der Vorwurf. Doch keine der anderen zionistischen Parteien schafft es, einer tatsächlichen Lösung des Konflikts Priorität einzuräumen.
Die sogenannte Versöhnungserklärung, die Hamas und Fatah im vergangenen Juli in Peking unterzeichnet haben, hätte die Chance für eine alternative Lösung sein können – wenn Israel nicht in der darauffolgenden Woche den als in der Hamas eher gemäßigt geltenden Ismail Haniyya ermordet hätte. Eine palästinensische Einheitsregierung, die gemeinsam mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft den Wiederaufbau Gazas beaufsichtigt, ist weitaus besser als jeder andere von Israel vorgeschlagene Weg.
Echte Lösungsansätze für die Situation in Gaza – Wiederaufbau, Aufhebung der Belagerung und schrittweise Öffnung der Grenzen per regionalen Abkommen – standen bereits vor dem 7. Oktober 2023 nicht auf der politischen Tagesordnung Israels. Seitdem tun sie es erst recht nicht.
Die israelische Bevölkerung lebt somit in einem Spannungsfeld, das einerseits von einer riesigen Angst vor Bedrohungen von außen und andererseits von einer wachsenden faschistischen Stimmung im Inland geprägt ist. Dies führt zum fatalistischen Glauben, militärische Aggression und Härte sei die einzig gangbare Lösung für das Land.
In diesem Klima gedeiht Netanjahus angst- und kriegstreiberische Propaganda bestens. Seine Kompromisslosigkeit kommt an: Die jüngsten Angriffe Israels im Libanon haben zu einem deutlichen Anstieg der Unterstützung für die Regierung des Premierministers geführt. Der bisherige militärische Erfolg dieser Angriffe wird in Israel gefeiert, aber sie bedeuten auch, dass es viele weitere Monate Krieg geben wird. Über allem schwebt das Risiko, dass es zu einem Flächenbrand kommt und dass sich die in Gaza begangenen Gräueltaten wiederholen könnten – und das alles, ohne eine klare Zukunftsperspektive für die vertriebenen Israelis zu bieten, die nur dann in ihre Häuser im Norden des Landes zurückkehren könnten, wenn eine Verhandlungslösung gefunden wird.
»Unter diesen Umständen kann in Israel selbst nur eine energische, entschlossene internationale Einflussnahme von außen den Krieg in Gaza und im Libanon beenden. Vor allem Deutschland könnte erheblichen Einfluss ausüben.«
Unter diesen Bedingungen besteht wenig Hoffnung auf Veränderungen aus dem inner-israelischen politischen System heraus. Zwar kämpfen einige weiter gegen die derzeitige Situation an, doch das traumatisierende Erlebnis vom 7. Oktober und die darauffolgenden Repressionswellen haben den liberalen und linken Lagern im Land geradezu tödliche Schläge verpasst. Unter diesen Umständen kann in Israel selbst nur eine energische, entschlossene internationale Einflussnahme von außen, beginnend mit einem glaubwürdigen Waffenembargo, den Krieg in Gaza und im Libanon beenden. Als wichtigster Verbündeter Israels in der EU könnte vor allem Deutschland erheblichen Einfluss ausüben. Dafür müsste man sich in Berlin allerdings dafür entscheiden, sich gewissen Aktionen anzuschließen, anstatt sie abzulehnen – sei es mit Blick auf das IGH-Verfahren gegen Israel, der jüngsten Resolution der UN-Generalversammlung zur Beendigung der Besatzung oder auch einer Anerkennung der palästinensischen Eigenstaatlichkeit.
Langfristig wird internationaler Druck auch eine entscheidende Rolle dabei spielen, einen politischen Wandel innerhalb der israelischen Gesellschaft zu unterstützen. Wenn der Rest der Welt den Israelis deutlich macht, dass inakzeptables Verhalten ihres Staates einen Preis und tatsächliche Konsequenzen hat, könnte dies Kräfte in der israelischen Politik stärken, die deutlich »Nein« zur rechtsradikalen Vision einer Spartaisierung Israels sagt. Dadurch würde auch ein anderer Ansatz für die israelischen Beziehungen zu den Palästinenserinnen und Palästinensern – und mit Blick auf die Nahostregion insgesamt – gefördert.
Nimrod Flaschenberg war parlamentarischer Berater der linken Chadasch-Allianz in Israel. Aktuell studiert er in Berlin Geschichte.
Alma Itzhaky ist israelische Künstlerin und Wissenschaftlerin. Sie ist eine der Mitbegründerinnen der in Berlin ansässigen Gruppe Israelis for Peace.