09. Februar 2024
Während der jahrelangen Austeritätspolitik haben Europas linke Parteien oft vom gemeinsamen Kampf gegen den Neoliberalismus gesprochen. Doch man blieb ohne eine gemeinsame Strategie und war selten in der Lage, grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu entwickeln.
Pablo Iglesias, Ska Keller, Pierre Laurent, Alexis Tsipras und Gregor Gysi winken der Menge von der Bühne aus zu auf der letzten SYRIZA-Wahlkundgebung auf dem Syntagma-Platz in Athen, 18. September 2015.
Die Polykrise des Kapitalismus spitzt sich weiter zu – und die radikale Rechte gewinnt weiterhin Wahlen in ganz Europa. Ende vergangenen Jahres siegten die Rechten von Geert Wilders in den Niederlanden; Anfang 2023 errangen erzkonservative Parteien sowohl in Griechenland (wo migrationsfeindliche Parteien ebenfalls Erfolge verbuchen konnten) als auch in Spanien (wo die sozialdemokratische PSOE von Pedro Sánchez nur durch einen Deal mit den Regionalparteien an der Macht bleiben konnte) bei Wahlen den ersten Platz. Seit der Regierungsübernahme in Italien im vergangenen Oktober haben die Fratelli d‘Italia von Giorgia Meloni sich in den Sonntagsfragen mühelos an der Spitze gehalten, während in Deutschland die AfD derzeit auf Platz zwei liegt.
Die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2024 versprechen ein ähnliches Ergebnis: Die konservative (wenn auch zunehmend reaktionäre) Europäische Volkspartei (EVP) wird wahrscheinlich die größte Fraktion bleiben, gefolgt von den Sozialdemokraten. Die größten relativen Zugewinne dürften jedoch zwei rechtsgerichtete Fraktionen verbuchen, die immer mehr zum Mainstream werden: Identität und Demokratie (ID) und die Europäischen Konservativen und Reformer (EKR). Nach aktuellen Prognosen würden die beiden künftig 87 beziehungsweise 82 Sitze in Brüssel/Straßburg einnehmen.
Im Gegensatz dazu dürfte die linke Fraktion The Left (GUE/NGL) mit weniger als 40 Sitzen die kleinste Fraktion im Europäischen Parlament bleiben. Dies spiegelt auch die Schwäche der linken Parteien in den eigenen nationalen Gefilden wider (trotz einiger herausragender Ausnahmen wie die belgische Partei der Arbeit oder die KPÖ in Österreich). Die beiden großen Erfolgsgeschichten des vergangenen Jahrzehnts, Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien, haben es während ihrer Regierungsbeteiligung nicht geschafft, den neoliberalen Status quo grundlegend infrage zu stellen, weder im eigenen Land noch in der EU. Vielmehr musste Syriza Haushaltskürzungen und Privatisierungen durchsetzen, wodurch beides auch auf europäischer Ebene verstärkt wurde. Bei den Wahlen im vergangenen Jahr haben die beiden Parteien nur noch halb so gut abgeschnitten wie auf ihrem Wahl-Höhepunkt 2015. Mit der Wahl eines ehemaligen Goldman-Sachs-Bankers zum Parteivorsitzenden schloss Syriza die langwierige Verwandlung in eine zentristische Partei ab.
Dass die Linke derart schwach und zersplittert wirkt, liegt auch an der unzureichenden Koordination und Kooperation auf transnationaler Ebene. Der Internationalismus mag so alt sein wie die Linke selbst. Doch mit Blick auf die europäische Integration ist die radikal linke Parteienfamilie (also Parteien links von der Sozialdemokratie) bei der transnationalen Zusammenarbeit auf EU-Ebene immer wieder ins Hintertreffen geraten.
Ihre erste Organisation im Europäischen Parlament in den 1970er Jahren entstand ein paar Jahrzehnte später als die der anderen großen Parteien. Dies lag nicht zuletzt am Widerstand der kommunistischen Parteien gegen die europäische Integration, wodurch sie jahrelang nicht vertreten waren. Als dann die Fraktion der Kommunisten und Nahestehenden entstand, war sie von internen Spannungen zwischen den eurokommunistischen und den moskautreuen Parteien geprägt, bevor sie 1989 endgültig zerfiel.
Die derzeitige Fraktion The Left beziehungsweise GUE/NGL (gegründet 1995) zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass nicht alle in ihr vertretenen Parteien auch Teil der Europäischen Linkspartei (die EL, die ihrerseits ein Jahrzehnt später als andere paneuropäische Parteien gegründet wurde) sind. Auch hier sind die Hauptstreitpunkte die Meinungsverschiedenheiten über die EU an sich. Die beiden größten transnationalen Organisationen der Linken haben heute wenig politischen Einfluss und sind dem Massenpublikum praktisch unbekannt.
Die Eurozonen-Krise der 2010er Jahre ließ die berechtigte Hoffnung aufkommen, die radikale Linke könne endlich die Kurve kriegen und ihre Zusammenarbeit stärken. Der offensichtlich transnationale Charakter der Krise hätte linke Parteien sicherlich dazu veranlassen sollen, ihren Widerstand gegen die Austeritätspolitik auf die transnationale Ebene zu bringen. Im Jahr 2013 wies der Syriza-Vorsitzende und künftige griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras bei einer Veranstaltung in London zu Recht darauf hin: »Wir werden unsere Ziele nicht ohne die Solidarität und die Hilfe der europäischen Linken erreichen können [...] Unsere Kämpfe sind dieselben.«
Vielversprechende Zeichen in diese Richtung gab es zwei Jahre später, als der Sieg von Syriza mit einem Anti-Austerität-Wahlprogramm europaweit für Aufsehen sorgte. Tsipras feierte den Sieg in Athen gemeinsam mit Podemos-Chef Pablo Iglesias. Die Menge auf dem berühmten Syntagma-Platz skandierte: »Syriza, Podemos, venceremos!«. Später im Jahr erreichte Podemos bei den spanischen Parlamentswahlen über zwanzig Prozent und wurde zur drittstärksten politischen Kraft. Weitere Wahlerfolge gab es für den Bloco de Esquerda in Portugal und für La France Insoumise von Jean-Luc Mélenchon.
»Die Auswirkungen dieser unvermittelten Kehrtwende auf die Moral in der Bevölkerung und die Glaubwürdigkeit der Linken in Griechenland können kaum überschätzt werden.«
Wie ich in meinem kürzlich erschienenen Buch zeige, kam eine »transnationale Einheitsfront« gegen die neoliberale EU letztlich aber nicht zustande. Trotz der Euphorie, die in den ersten Monaten der Syriza-Regierung herrschte, blieb die breitere europäische Linke – Parteien, Gewerkschaften und soziale Bewegungen gleichermaßen – in ihrer Opposition gegen die Austerität ausgesprochen national verhaftet. Die transnationale Zusammenarbeit zur Unterstützung der griechischen Regierung (also der einzigen Anti-Austeritäts-Führung in der EU) beschränkte sich auf symbolische Solidaritätsbekundungen. Damit wurde bei Weitem nicht der Druck auf die nationalen Regierungen sowie auf die EU-Institutionen erzeugt, der während der Verhandlungen zwischen Syriza und der berüchtigten Troika hätte ausgeübt werden können und müssen.
Die internationale Isolierung der Syriza-Regierung während dieser Verhandlungen trug sicherlich zu ihrer Kapitulation im Juli 2015 bei. Damals stimmte die Partei überraschend einem dritten Rettungspaket für Griechenland zu, das im Gegenzug weitere Haushaltskürzungen und Privatisierungen vorsah. Entgegen der Ergebnisse des von ihr selbst zuvor ausgerufenen Oxi-Referendums zog die griechische Regierung somit den Verbleib in der Eurozone eindeutig ihren programmatischen und wahltaktischen Versprechen, die Sparpolitik zu beenden, vor. Die Auswirkungen dieser unvermittelten Kehrtwende auf die Moral in der Bevölkerung und die Glaubwürdigkeit der Linken in Griechenland können kaum überschätzt werden. Gleichzeitig hatte das Einknicken der Syriza-Regierung eine spaltende Wirkung auf die Linke außerhalb Griechenlands. Einige versuchten, die Entscheidung zu rechtfertigen; andere sprachen von Verrat.
Die alten Meinungsverschiedenheiten über die EU-Frage haben sich nach 2015 vertieft. Es herrschte zunächst Einigkeit darüber, dass der undemokratische Charakter der EU offen zutage getreten war, doch man kam zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Einige – wie die Europäische Linkspartei oder DiEM25 von Yanis Varoufakis – forderten weiterhin eine Umgestaltung der EU von innen heraus. Dieser Ansatz hat in gewisser Weise eine gemeinsame Basis mit dem liberalen Argument, demnach eine komplette Ablehnung der EU mit Nationalismus gleichgesetzt werden könne.
Das Argument lautet: Wir brauchen eine Beschleunigung der europäischen Integration entlang progressiver Leitlinien, wie die Einführung einer EU-weiten Unternehmenssteuer oder die Möglichkeit der Europäischen Zentralbank, öffentliche Schulden zu finanzieren. Eine (pandemiebedingte) Krise später hat sich die EU jedoch nur wenig in diese Richtung bewegt. Im Gegenteil, die von der Europäischen Kommission nun vorgeschlagenen Reformen der Schuldenregelungen (der sogenannte Stabilitäts- und Wachstumspakt) dürften die neoliberale Finanzpolitik der EU weiter verschärfen. Gleichzeitig wurden sogar die Geldzahlungen, die die Mitgliedstaaten aus dem Corona-Wiederaufbaufonds (NextGenerationEU) erhielten, von weiteren neoliberalen Anpassungen begleitet.
Auf der anderen Seite haben die eher orthodoxen kommunistischen Parteien immer einen klaren Bruch mit der EU gefordert. Sie sehen in der Kapitulation von Syriza einen weiteren Beweis dafür, dass die EU nicht reformierbar ist. Die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) formulierte es so: »Die EU, die eine Union des Kapitals ist, kann nicht zu Gunsten der Menschen verbessert werden, sie kann nicht demokratisiert werden, sie kann nicht in ein Europa der Arbeiter umgewandelt werden.« Das mag so sein. Andererseits ist diese Schlussfolgerung ohne eine plausible Vision und Strategie, wie ein Ende der EU oder ein Austritt im Sinne der Arbeiterinnen und Arbeiter vonstattengehen könnte, wenig aussagekräftig oder hilfreich. Besonders schwer dürfte dies werden angesichts des Grads des Klassenbewusstseins (der von Land zu Land sehr unterschiedlich ist) als auch des Gleichgewichts der Klassenkräfte auf nationaler sowie transnationaler Ebene.
Eine gewisse Synthese zwischen diesen beiden Positionen entstand dann mit dem sogenannten »Plan B« für Europa. Die auf Initiative von Parteien wie La France Insoumise, Bloco de Esquerda, Podemos und der dänischen Rot-Grünen Einheitsliste ins Leben gerufene Gruppe hielt zwischen 2016 und 2017 fünf Gipfeltreffen ab, bevor sie 2018 unter dem etwas ungelenken Namen »Jetzt die Menschen« (Maintenant le peuple) neu aufgelegt wurde.
»Insgesamt blieb der Plan B eine Angelegenheit der Partei-Eliten. Er verblasste nach 2018, als sich die Parteien selbst von ihm abwandten.«
Kurz zusammengefasst war die Plan-B-Truppe der Ansicht, eine linke nationale Regierung benötige – angesichts des gescheiterten Versuchs von Syriza, dem EU-Establishment Zugeständnisse abzuringen – eine zweistufige Strategie: Plan A bestünde darin, progressive Strukturreformen in der EU zu fordern und gleichzeitig die neoliberalen Vorschriften der EU-Institutionen zu missachten, indem im eigenen Land konsequent linke Politik umgesetzt wird. Plan B würde dann für den (sehr wahrscheinlichen) Fall ins Spiel kommen, dass das EU-Establishment dieser linken Regierung droht, das entsprechende Land könne aus der Eurozone fliegen. Dem müsse nicht mit einer Kapitulation (wie bei Syriza) begegnet werden, sondern mit dem Aufbau »eines komplett neuen Systems der europäischen Zusammenarbeit, beruhend auf der Wiederherstellung der wirtschaftlichen, steuerlichen und monetären Souveränität«.
Damit wurde versucht, ein Mittelweg zwischen Austerität und neoliberaler Reform einerseits und direktem Ausscheiden aus der Eurozone (oder sogar der EU) andererseits aufzuzeigen. Diesem »ungehorsamen Euroskeptizismus« gelang es jedoch nicht, sonderlich viele weitere Anhänger in der europäischen Linken zu gewinnen oder Beziehungen zu breiteren Bewegungen und sozialen Gruppen aufzubauen. Selbst Podemos, die einzige Plan-B-Partei mit späterer Regierungsbeteiligung, milderte ihre Haltung gegenüber der EU als Juniorpartner in der spanischen Regierung (2019-2023) ab. [Das könnte sich nun wieder ändern, nachdem die Partei nicht mehr Teil der Regierungskoalition ist und der Parteivorsitzende die Europäische Kommission wegen ihrer Haltung zum Gaza-Krieg scharf kritisiert.]
Auch Mélenchons Partei hat, obwohl sie einer der Hauptinitiatoren von Plan B ist, kaum über »Ungehorsam« gegenüber der EU gesprochen. Grund dafür war und ist, dass man die gemäßigteren Partner in der NUPES-Allianz nicht verprellen will. Aufgrund anderer Streitigkeiten wird NUPES allerdings wohl keinen gemeinsamen Kandidaten für die EU-Parlamentswahl aufstellen. Des Weiteren konnte Mélenchon freilich nicht einmal seine eigenen Anhängerinnen und Anhänger von einer scharfen Ungehorsam-Strategie überzeugen (die Mehrheit spricht sich nach wie vor klar für die EU-Mitgliedschaft Frankreichs aus). In jüngster Zeit haben führende Vertreter der Partei daher mehrfach betont, Ungehorsam und der Verbleib in der EU seien durchaus miteinander vereinbar.
Insgesamt blieb der Plan B eine Angelegenheit der Partei-Eliten. Er verblasste nach 2018, als sich die Parteien selbst von ihm abwandten. Diese Elitisierung ist paradoxerweise charakteristisch für andere transnationale Projekte, die in den vergangenen Jahren in der Linken entstanden sind. Dazu zählen beispielsweise die Progressive Internationale oder eben DiEM25, denen es bisher nicht gelungen ist, eine Basis oder eine schlagkräftige Bewegung aufzubauen – davon, dass sie die breiten Massen nicht erreichen, ganz zu schweigen.
Alles in allem ist die Uneinigkeit beim Thema EU auch heute noch eines der Haupthindernisse für die transnationale Zusammenarbeit der radikalen Linken. Zahlreiche Aufrufe, sich auf eine kohärente Vision für Europa zu einigen, waren bisher vergeblich. Bleibt zu fragen: Ist eine solche gemeinsame Vision wirklich notwendig, damit die Linke ihre derzeitige Fragmentierung überwinden kann? Und rechtfertigt die Uneinigkeit darüber, wie man dem Neoliberalismus der EU am besten entgegentreten kann, überhaupt das Ausmaß dieser Fragmentierung?
Linke Parteien, die sich auf nationaler Ebene (zumindest anfangs) auf soziale Bewegungen und andere Formen der Massenmobilisierung stützten, um eine politische Opposition gegen die Austeritätspolitik zu artikulieren, haben es versäumt, dies auch auf EU-Ebene zu tun. Stattdessen kanalisierten sie den Großteil ihrer transnationalen Aktivitäten über ihre EU-Parlamentsabgeordneten – und damit über den institutionellen Rahmen des transnationalen Hegemon, dem sie sich eigentlich widersetzen wollten.
Dies steht nicht nur in krassem Gegensatz zum sozialistischen Erbe eines Aufbaus unabhängiger internationalistischer Organisationen (dessen Wiederbelebung wohl eine der wichtigsten Aufgaben der radikalen Linken ist). Vielmehr hat die Überbetonung der Arbeit im Europäischen Parlament auch den bestehenden Meinungsverschiedenheiten über die EU selbst mehr Gewicht verliehen. So wurde die transnationale Zusammenarbeit in der Linken weiter erschwert.
Der Ansatz mit Fokus auf die EU-Institutionen bedeutete, dass die Parteien wenig Zeit für die wenigen transnationalen Anti-Austeritäts-Initiativen fanden, die sich außerhalb des institutionellen Rahmens der EU entwickelten, wie Blockupy und Alter Summit. Dass es diesen Initiativen nicht gelang, organisatorische Stärke und eine echte Präsenz an der Basis in Ländern mit relevanten Bewegungen gegen die Austeritätspolitik aufzubauen, lag zum Teil auch daran, dass sich die Parteien nur sehr begrenzt an diesen Initiativen beteiligten. Umgekehrt haben Parteien wie Syriza und Podemos trotz ihrer Verbindungen zu heimischen Anti-Austeritäts-Bewegungen auch nicht viel getan, um transnationale Kontakte zwischen diesen Bewegungen zu fördern. Sie hätten als zentrale Knotenpunkte einer europaweiten Bewegung gegen Austerität und Neoliberalismus fungieren können – taten dies aber nicht.
Sinnbildlich für dieses geringe Interesse an transnationaler Mobilisierung war der Aktionstag, den der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) im November 2012 ausrief. Zum ersten Mal gab es gleichzeitige, koordinierte Streiks in vier krisengeplagten Ländern – Griechenland, Italien, Spanien und Portugal. Trotzdem versuchten die linken Parteien nicht einmal, ihre eigene Basis zur Teilnahme zu mobilisieren. Der Aktionstag hat letztlich in keinem dieser Länder ernsthaft etwas bewirkt. Das lag sicherlich auch an den dürftigen Mobilisierungsversuchen des EGB, die den Eindruck erweckten, dass die ganze Initiative kaum mehr als eine symbolische Geste sei. Die relativ unbedeutende Rolle, die der EGB bei der Mobilisierung von Massenkämpfen und -bewegungen spielt(e), spiegelt sich ähnlich in der Rolle der Europäischen Linkspartei und The Left wider.
Die Marginalität der wichtigsten transnationalen Organisationen der Linken ist zweifellos auf grundsätzliche, strukturelle Faktoren zurückzuführen, darunter das Fehlen einer echten europäischen (Medien-) Öffentlichkeit oder die Hindernisse für EU-weite Tarifverhandlungen. Damit verbunden ist die Tatsache, dass die europäische Arbeiterklasse (noch) nicht das bewusste historische Subjekt ist, das für eine nachhaltige Massenmobilisierung auf transnationaler Ebene erforderlich wäre. Die linken Parteien haben allerdings auch sehr wenig zum Aufbau eines solchen Subjekts beigetragen und sich stattdessen (trotz gelegentlicher internationalistischer Rhetorik) überwiegend auf ihre heimischen Gefilde konzentriert. Sie waren dabei nicht alle so unverblümt wie der Ex-Vorsitzende der Sozialistischen Partei der Niederlande, der der Ansicht war, es sei »ein großer Fehler anderer linker Parteien in Europa, ständig europäische Solidarität zu fordern«. Doch selbst die Parteien, die eine solche Solidarität anmahnten, konzentrierten sich im Laufe der Zeit immer wieder verstärkt auf die Innenpolitik. Dies zeigte sich zum Beispiel an der nachlassenden Zusammenarbeit zwischen Syriza und Podemos nach 2015.
»Um solche Kämpfe sowie allgemeinere Themen wie Lebenshaltungskosten, Aufstieg der radikalen Rechten, Krieg und Klimawandel herum könnte und sollte die europäische Linke ihre transnationale Zusammenarbeit neu aufbauen.«
Die doppelte Überbetonung von heimischer Innenpolitik und Parlamentarismus ist letztlich in der (neo-)reformistischen Ausrichtung dieser Parteien begründet. Sie sind der Ansicht, dass sozialer Wandel (in erster Linie) über die Institutionen der kapitalistischen Demokratie erreicht werden kann. Dies spiegelt sich sowohl in ihrer programmatischen Mäßigung als auch in ihrer strategischen Verlagerung weg von »der Straße« wider. Dadurch wiederum sind sie den anderen Parteien, zu denen sie eine Alternative darstellen sollten, zu ähnlich geworden. Die Macht liegt außerhalb des Parlaments – und noch mehr außerhalb des Europäischen Parlaments, das unter den EU-Institutionen die geringste Macht hat.
Wenn die Linke substanzielle Zugeständnisse auf transnationaler Ebene erreichen kann, dann nur durch transnational koordinierte Gemeinschaftsaktionen, wie den Streik der Ryanair-Piloten 2017. Damals wurde die Fluggesellschaft gezwungen, eine gewerkschaftliche Vertretung im Konzern zu akzeptieren; und damit ein wichtiger Präzedenzfall für transnationale Arbeitskämpfe geschaffen. Andere bemerkenswerte transnationale Kampagnen (beispielsweise Make Amazon Pay) haben sich in den vergangenen Jahren ebenfalls entwickelt, ohne dass linke Parteien sie unterstützt oder auch nur bekannter gemacht hätten. Die fehlende Unterstützung durch Parteien bedeutete leider auch, dass diese wichtigen Klassenkämpfe dem Gros der Arbeiterklasse bisher weitgehend unbekannt geblieben sind.
Um solche Kämpfe sowie allgemeinere Themen wie Lebenshaltungskosten, Aufstieg der radikalen Rechten, Krieg und Klimawandel herum könnte und sollte die europäische Linke ihre transnationale Zusammenarbeit neu aufbauen. Wie der EU-Parlamentsabgeordnete Marc Botenga von der belgischen Partei der Arbeit es kürzlich in einem Interview ausdrückte: »Natürlich können wir auf nationaler Ebene etwas erreichen, aber auf europäischer Ebene brauchen wir einen europäischen Kampf. Ich behaupte nicht, dass das einfach ist, aber es entwickelt sich in immer mehr Sektoren. Angesichts der Einigkeit des europäischen Kapitals – zumindest bei bestimmten Themen wie der Zerstörung der Arbeitnehmerrechte, der Liberalisierung und der Marktintegration – sehen wir immer mehr Aktionen von [Arbeiterinnen und Arbeitern] auf europäischer Ebene.«
Zusammenarbeit in all diesen Fragen ist nicht abhängig davon, dass über den Charakter der EU völlige Einigkeit besteht. Das bedeutet aber auch nicht, dass man Differenzen einfach beiseiteschiebt, sondern dass man sie nach innen verlagert – innerhalb einer »transnationalen Einheitsfront«, die vor allem die brennenden Probleme angeht, mit denen die Menschen heute konfrontiert sind, und mit ihnen gemeinsam für Lösungen kämpft. So kann man immer mehr Menschen in Europa und darüber hinaus inspirieren.
Eine solche Einheit im externen Handeln ist nicht nur vereinbar, sondern untrennbar verbunden mit einer internen Kultur, die Meinungsverschiedenheiten und Debatten fördert (ja, auch über Aufbau und Charakter der EU an sich). Die Alternative – das Streben nach absoluter Einigkeit in allen Fragen – ist genau das, was immer in Zersplitterung und Sektierertum mündet. Die besten Jahre der Zweiten und Dritten Internationale waren genau durch diese Dualität von inneren Differenzen und äußerer Einheit gekennzeichnet. Es gibt keinen Grund, warum die europäische Linke heute nicht dasselbe tun kann – wenn nicht sogar besser.
Vladimir Bortun ist Politikwissenschaftler an der Universität Oxford und beschäftigt sich mit den Themenfeldern politische Eliten, Klassen-Repräsentanz und linke Parteien. Er ist der Autor des Buches Crisis, Austerity and Transnational Party Cooperation in Southern Europe (Palgrave Macmillan, 2023).