07. Februar 2024
Argentiniens rechter Präsident Javier Milei wurde beim Weltwirtschaftsforum in Davos mit offenen Armen willkommen geheißen. Der herzliche Empfang ist ein Anzeichen dafür, wohin sich der Marktradikalismus in Zukunft bewegen dürfte.
Mileis Rede vor dem World Economic Forum geht um die Welt.
Die herzliche Begrüßung von Javier Milei auf dem diesjährigen Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos war der jüngste Höhepunkt beim scheinbar unerklärlichen Aufstieg des rechtsradikalen Libertarismus in den politischen Mainstream. Der kürzlich gewählte Präsident Argentiniens, der bei seinen Wahlkampfveranstaltungen gerne eine Kettensäge schwang, um symbolisch die bürokratischen Vorschriften zu zerschlagen, ist die neue Galionsfigur der libertären Rechten.
Der Libertarismus ist lange Zeit als politische Randbewegung unterschätzt worden. Wir sollten sein Streben nach einem Platz im politischen Mainstream im Zusammenhang mit der Entwicklung seines engsten ideologischen Verbündeten, dem Neoliberalismus, sehen.
Beide sind in den 1930er Jahren als rechte Phänomene gemeinsam entstanden. Dass libertäre Führer gerade jetzt an Popularität gewinnen, wo sich die neoliberale Ära ihrem Ende zu nähern scheint, deutet weniger auf ein Ende der marktradikalen Ideologien als auf deren Verfestigung hin.
Javier Milei fühlte sich beim Kuscheln mit der Wirtschaftselite in Davos sichtlich wohl und nutzte sein Podium beim WEF, um die Zuhörerschaft zu warnen: Die westliche Welt sei »in Gefahr«. Vom deutschen WEF-Gründer Klaus Schwab wurde er als »außergewöhnliche Person« begrüßt – und startete umgehend eine Tirade gegen Feministen, Klimaaktivistinnen und einen Großteil des Wissenschaftsbetriebs. Sie alle seien Feinde der Freiheit und des Wohlstands.
Milei setzte sich damit über alle Versuche des WEF in den vergangenen Jahren hinweg, sich verstärkt mit Themen wie sozialer Verantwortung und ökologischem Wandel auseinanderzusetzen. Stattdessen versuchte er, die Weltwirtschaft auf den von Ayn Rand propagierten Kampf zwischen den »Machern« und den Menschen, die alles hinnehmen (müssen), zu reduzieren. Zum Abschluss seiner Rede beglückwünschte Milei nochmals ausdrücklich die Business-Elite im Publikum: »Sie sind Helden […] Lassen Sie sich von niemandem einreden, Ihr Ehrgeiz und Ihr Streben sei unmoralisch.«
Mileis Rede ging in der ultra-liberalen Community weltweit viral. Diese fühlte sich verständlicherweise von seinen Komplimenten geschmeichelt. Auch die WEF-Teilnehmenden lobten Milei; sein »Warnruf« komme »zur rechten Zeit«. Elon Musk sah in den Statements des Argentiniers eine »gute Erklärung« zum Thema Wohlstand und Armut. Freilich teilte der Multimilliardär auch eifrig Milei-Memes auf »seinem« Twitter/X. Der rechte Historiker Niall Ferguson lobte die Rede als »eine großartige Verteidigung der individuellen Freiheit und der freien Marktwirtschaft«.
»Die steigende Popularität extremerer Formen des Libertarismus weltweit sollte uns eine Warnung sein, dass der Marktradikalismus nicht einfach verschwinden wird«
Für die Rechte war Mileis Zurschaustellung seines Hardcore-Marktradikalismus auf dem wichtigsten Treffen neoliberaler Interessenvertreter ein Ansporn – hatten sie doch schon befürchtet, der Wirtschaftsliberalismus verliere seine Schlagkraft, seitdem er versucht, das eigene Image aufzupolieren, indem soziale und ökologische Belange in die Forderung nach einem neuen Kapitalismus einbezogen werden.
Tatsächlich wird Inklusion beim WEF aktuell wohl größer geschrieben als je zuvor, doch zeitgleich deutet sich ein Revival eines rechten Libertarismus à la Milei schon seit einem Jahrzehnt vorsichtig an. Die Schriften von Ayn Rand, der Ikone des amerikanischen Libertarismus, erlebten bereits nach den Lobeshymnen von Donald Trump und diverser Silicon-Valley-Unternehmer eine bemerkenswerte Renaissance.
Derweil ist die Idee von im Meer treibenden »Seasteading«-Communities, die sich jeglicher staatlicher Gesetzgebung entziehen, durch die gemeinsamen Anstrengungen libertärer Aktivisten und Investoren ihrer Umsetzung näher als je zuvor. Auf subtilere Weise zeigt sich der Einfluss libertärer Utopien auch in den jüngsten Neuauflagen klassischer Science Fiction à la Robert A. Heinlein auf beliebten Streaming-Plattformen.
Als libertäre Ideen und Ideologien langsam anfingen, im Mainstream zu verfangen, führten linke Kommentatoren eine Debatte, ob die vom freien Markt geprägte Ära langsam zu Ende gehe. Der Neoliberalismus – der domestizierte, etwas salonfähigere Bruder des Libertarismus – schien spätestens mit den weltweiten Reaktionen auf COVID-19 den Todesstoß erhalten zu haben: Die Pandemie führte zu noch nie dagewesenen Formen staatlicher Intervention und zu neuen Lösungsansätzen in Sachen Sozial- und Umweltkrise.
Andere sahen bereits in der Wahl von Donald Trump 2016 und seiner isolationistischen, xenophoben und schlichtweg illiberalen Politik eine tiefe Krise oder sogar das Ende des Neoliberalismus aufkommen. In jedem Fall erschien der Neoliberalismus im Laufe der frühen 2020er Jahre vielen als Auslaufmodell.
Es mag durchaus sein, dass wir derzeit den Anfang vom Ende einer gemäßigten, zentristischen Version des Neoliberalismus mit einer »offenen Gesellschaft« erleben – eine Entwicklung, die jahrzehntelang auch für viele in der einstigen sozialdemokratischen Linken attraktiv erschien. Gleichzeitig sollte uns aber die steigende Popularität extremerer Formen des Libertarismus weltweit Warnung sein, dass der Marktradikalismus nicht einfach verschwinden wird. Vielmehr scheint sich diese radikale Ideologie zu festigen beziehungsweise zu ihren kulturellen Wurzeln zurückzukehren.
So ist Mileis dramatische Warnung, die westliche Zivilisation sei in Gefahr, einerseits nur ein rhetorisches Mittel, um mehr Aufmerksamkeit in der schnelllebigen und polarisierten Social-Media-Welt zu erhaschen. Andererseits steht er damit aber in der fatalistischen Tradition der frühen neoliberalen und libertären Denker der 1930er und 1940er Jahre. Friedrich Hayek warnte in seinem Pamphlet Der Weg zur Knechtschaft (1944) vor einem »unerwarteten« Richtungswechsel, mit dem der »zur Selbstverständlichkeit gewordene Weg des Fortschritts« verlassen und das Wiederaufblühen »vergangener, barbarischer Zeiten« drohe. Ihm graute es vor dem »Kollektivismus«.
»Amerikanern und Europäern war in ihrem Fatalismus gemein, dass sie jeden Appell für kollektives Handeln als nicht weniger als eine Bedrohung für die gesamte Zivilisation betrachteten.«
Im Grundsatzpapier des ersten Treffens der Mont Pèlerin Gesellschaft – einem internationalen Zusammenschluss diverser neoliberaler Intellektuelle, Politikerinnen und Wirtschaftsvertreter – hieß es ähnlich dramatisch: »Die zentralen Werte der Zivilisation sind in Gefahr.« Wirtschaftsplanung, so die frühen Neoliberalen, führe unweigerlich auf den »Weg zur Knechtschaft« und in den Totalitarismus.
Auch wenn sie sich im Laufe der Zeit in intellektuell unterschiedliche Bewegungen verzweigt haben mögen, so haben doch sowohl der Neoliberalismus als auch der rechte Libertarismus einen gemeinsamen Gründungsmoment und Gründungsmythos. Sie entstanden in einem pessimistischen Klima, das die liberale Reaktion auf den Aufstieg totalitärer Ideologien in den 1930er und 40er Jahren kennzeichnete. Die Befürworter einer Wiederbelebung des Liberalismus versuchten in diesen düsteren Zeiten, sich als Bollwerk gegen die totalitären Bedrohungen darzustellen.
Während europäische Neoliberale wie Hayek den Fokus dabei stärker auf die »kollektivistische« Gefahr des Kommunismus und des Faschismus legten, bezogen amerikanische Libertäre wie H. L. Mencken, Rose Wilder Lane oder Isabel Paterson schon früh entschieden Position gegen die New-Deal-Politik von Präsident Roosevelt ein. Offensichtlich erschien ihnen schon diese Politik als »totalitär«. Amerikanern und Europäern war in ihrem Fatalismus aber gemein, dass sie jeden Appell für kollektives Handeln als nicht weniger als eine Bedrohung für die gesamte Zivilisation betrachteten.
Das von Hayek und vielen seiner Mitstreiter beschworene »Gespenst des Totalitarismus« wurde zu einem diskursiven Mittel, um Diskussionen über Ungleichheit sowie jegliche Bemühungen um soziale Gerechtigkeit im Keim zu ersticken. Bald wurde es auch dazu benutzt, die populäre Volksdemokratie als solche anzugreifen. So versuchte der neoliberale Historiker Jacob L. Talmon in mehreren Büchern, das Erbe der Französischen Revolution zu dekonstruieren und warnte, sie habe letztlich zum Aufstieg eines gefährlichen »Messianismus« und einer »totalitären Demokratie« geführt.
Talmons Intervention war Teil einer größeren Debatte über den historischen Determinismus, der angeblich dem emanzipatorischen Verständnis von Demokratie innewohnt – mit Hayek und Karl Popper als führenden Protagonisten. Neoliberale und Libertäre vertraten als Gegensatz zu dieser politischen Demokratie das Konzept einer »Marktdemokratie«, das vom österreichischen Ökonomen Ludwig von Mises entwickelt wurde. Demnach müsse jeder Kauf oder Verkauf auf einem Markt als Abstimmung betrachtet werden. Eine solche Marktdemokratie würde die Ideale der Demokratie weit besser repräsentieren, als es ein staatszentrierter Ansatz jemals könnte. Der Markt (der ironischerweise als Retter der demokratischen Zivilisation gepriesen wurde) sollte daher die politische Volksdemokratie allmählich ersetzen.
»Dass der Radikale Milei beim neoliberalen WEF nun vor dem umgehenden Gespenst des Totalitarismus warnte, könnte ein Zeichen sein, dass die Spaltung zwischen moderateren Neoliberalen und Libertären langsam überwunden wird.«
Erst in den 1960er Jahren kam es als Reaktion auf die emanzipatorische Politik der Neuen Linken zur echten Spaltung zwischen Anhängern des gemäßigteren Neoliberalismus und des radikalen Libertarismus. Der libertäre Wirtschaftswissenschaftler Murray Rothbard lehnte damals die Proteste für mehr Gleichstellung ab, indem er auf die angeblich rassistische Natur des Menschen verwies. So bewegten er und seine Anhängerschaft sich allmählich an den rechtsextremen Rand der amerikanischen Politiklandschaft. Sie bauten damit die Basis für Rechtspopulisten und die Alt-Right von heute, wie der Historiker Quinn Slobodian kürzlich darlegte.
Ein Jahrzehnt später bekamen die Neoliberalen unter der Leitung von Milton Friedman die Gelegenheit, sich in der aktiven Politik auszuprobieren: Sie wurden zu Wirtschaftsberatern in der Regierung des chilenischen Diktators Augusto Pinochet. Der Neoliberalismus, der die anti-totalitäre Vergangenheit seiner Vorgänger geflissentlich ignorierte, fand damals seinen Weg in den intellektuellen Mainstream – auf dem Rücken des chilenischen Volkes und mit lang anhaltenden Folgen der vom Pinochet-Regime verfolgten ökonomischen Schockdoktrin. Dass die Neoliberalen im Mainstream angekommen waren, zeigte sich auch daran, dass Hayek 1974 und Friedman 1976 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielten.
Javier Milei huldigt der neoliberalen sowie der libertären Ideologie auf seine ganz eigene Weise: Eine seiner fünf heißgeliebten englischen Doggen heißt Murray, eine andere Milton. Dass der Radikale Milei beim neoliberalen WEF nun vor dem umgehenden Gespenst des Totalitarismus warnte, könnte ein Zeichen sein, dass die Spaltung zwischen moderateren Neoliberalen und Libertären langsam überwunden wird.
Die vordergründige Abneigung gegen den Staat in dieser Denkschule täuscht über die unzähligen Ansätze hinweg, mit denen neoliberale Politiker den ungeliebten Staat nutzen als ihn tatsächlich loszuwerden. Dennoch zeigt sich auch, dass Marktradikale wie Milei keine Skrupel haben, die Demokratie endgültig abzuschaffen.
So wird der vermeintliche Anspruch, die »westliche Zivilisation« zu verteidigen, mit dem Autoritarismus von Führern wie Milei, Donald Trump oder Jair Bolsonaro vereinbart.
Es ist unwahrscheinlich, dass diese Leute angesichts einer weiteren Krise des Liberalismus das neoliberale Erbe komplett aufgeben und es sterben lassen werden. Stattdessen steht die nächste, radikalere Welle eines untoten »Zombie-Neoliberalismus« vor der Tür. Darauf sollte man vorbereitet sein.
Dennis Kölling forscht im Bereich Intellectual History am European University Institute und ist Promotionsstipendiat am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte.