29. März 2024
Kohei Saitos Degrowth-Interpretation des Marxismus ist nicht nur an den Haaren herbeigezogen. Würde sie angenommen und in die Praxis umgesetzt, dürfte sie sowohl die sozialistische Linke als auch die Umweltbewegung in eine politische Katastrophe führen.
Luftaufnahme von alten Ruinen und jungen Bäumen in Puebla, Mexiko.
Fast jeden Tag scheinen die Schlagzeilen eine neue düstere Episode im Alltagsleben von Millionen einfacher Menschen zu liefern, von der »Gierflation« bis hin zur Wohnungskrise, von den steigenden Kosten für Bildung und Gesundheitsversorgung bis hin zur Tatsache, dass beispielsweise in den USA rund 60 Prozent der Menschen von der Hand in den Mund leben. Das gilt ähnlich für die gesamte »hochentwickelte« kapitalistische Welt: Seit mehr als vier Jahrzehnten leiden die arbeitenden Menschen unter Kürzungen im Sozialbereich, Deindustrialisierung, immer prekäreren Arbeitsplätzen und in vielen Branchen stagnierenden oder gar sinkenden Löhnen.
Dennoch gibt es eine wachsende Zahl von Umweltaktivistinnen und -aktivisten, die angesichts der ökologischen Krisen – vom Klimawandel bis zum Artensterben – meinen, selbst diese prekär lebenden Menschen würden noch zu viel konsumieren. Sie müssten daher den Gürtel enger schnallen, damit die Wirtschaft des Globalen Nordens nachhaltig schrumpfen könne (»Degrowth«). Andernfalls würden schlicht die Kapazitäten des Planeten gesprengt. Um diese Arbeiterinnen und Arbeiter in der westlichen Welt für dieses Schrumpfen zu entschädigen, soll es im Gegenzug zahlreiche neue Sozialprogramme sowie eine kürzere Arbeitswoche geben, betonen die Degrowther.
Dennoch heißt es, die Arbeiterschaft in den reichen Ländern habe Teil an einer »imperialen Lebensweise«, sei sozusagen Partnerin der Kapitalistenklasse bei der Ausbeutung der Arbeit sowie der Ressourcen des Globalen Südens, und müsse ihren extravaganten Lebensstil aufgeben. So sieht es auch Kohei Saito, der japanische Theoretiker eines »Degrowth-Kommunismus«. Die westlichen Arbeiterinnen und Arbeiter leben Saito zufolge nicht in Ausbeutung und Prekarität, sondern sind geradezu verhätschelt, »dank der Unsichtbarkeit der Kosten unserer Lebensweise«.
Zunächst scheint es widersprüchlich, von amerikanischen, deutschen, französischen oder japanischen Arbeiterinnen und Arbeitern einerseits zu fordern, sie müssten sich organisieren, gegebenenfalls streiken und höhere Löhne durchsetzen; und ihnen andererseits zu sagen, ihr Lebensstil sei nicht nur extravagant, sondern imperial. Die Begeisterung für die Degrowth-Ideologie scheint auf den ersten Blick daher weder mit sozialistischen Zielen noch mit der Gewerkschaftsbewegung oder der klassischen marxistischen Kapitalismuskritik vereinbar zu sein.
Dennoch finden die Ideen von Saito – der nicht nur selbst für eine Verknüpfung von Degrowth und Marxismus plädiert, sondern gar behauptet, Marx höchstpersönlich sei schon lange vor dem aktuellen Trend so etwas wie der erste Degrowth-Theoretiker gewesen – großen Anklang in der nicht-marxistischen grünen Linken und sogar bei selbstbezeichneten Öko-Marxisten.
War also die traditionelle sozialistische Gegnerschaft zum Malthusianismus und seinem Glauben an die Grenzen des Wachstums ein Irrtum, ebenso wie die klassischen marxistischen Forderungen nach einer »Befreiung der Produktivkräfte« von den irrationalen Zwängen des Marktes? Angesichts der derzeitigen Popularität von Saito lohnt es sich, seine Ideen kritisch zu beleuchten. Dabei lässt sich feststellen, dass die Unvereinbarkeit von Degrowth und klassischem Marxismus deutlich tiefer und über die Behauptung hinausgeht, die arbeitenden Menschen in den Industrieländern seien Imperialisten, deren Alltag die globale »ökologische Katastrophe« maßgeblich vorantreibe.
Kohei Saito ist Philosoph und Dozent an der Universität von Tokio. Seine erste Veröffentlichung, Natur gegen Kapital: Marx’ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus, wurde 2018 mit dem Isaac and Tamara Deutscher Memorial Prize ausgezeichnet. In dieser Publikation stützt sich Saito auf Marx’ naturwissenschaftliche Notizen – insbesondere auf seine Aufzeichnungen über die Schriften eines der wichtigsten Chemiker im 19. Jahrhundert, Justus von Liebig – und deren Einfluss auf Marx’ Verständnis des Stoffwechsel-Konzepts. Demnach gibt es einen »irreparablen Bruch« zwischen der kapitalistischen Lebensweise im urbanen Raum einerseits und dem ländlichen Boden und der Natur andererseits.
Laut Saito habe sich Marx zunehmend Gedanken über die natürlichen Grenzen der kapitalistischen Entwicklung der Landwirtschaft gemacht. Unerwähnt bleibt, dass viele dieser angenommenen Grenzen später durch die Entwicklung von synthetischem Stickstoffdünger überwunden wurden. Saitos grundlegende Aussage lautet: Marx hat sich deutlich mehr mit ökologischen Zwängen und Grenzen beschäftigt, als in der späteren Rezeption seines Denkens anerkannt wird.
Saito erlebt gerade einen Bekanntheits-Boom: Sein zweites Buch verkaufte sich in Japan 500.000 Mal und wurde inzwischen auch in deutscher Übersetzung unter dem Titel Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus veröffentlicht. Eine weitere Publikation, Marx in the Anthropocene, vertieft mehrere Argumente aus Saitos erstem Buch – und hat bei vielen in der Linken Aufmerksamkeit erregt.
In all diesen Texten greift Saito an, was er als »produktivistischen Sozialismus« bezeichnet, eine angebliche Fehlinterpretation des Marxismus, die eine ›prometheische‹ [das heißt pro-technologische und anti-ökologische] Hoffnung auf Naturbeherrschung« vertrete. Die Annahme, mit einer pro-technologischen Haltung sei man gleichzeitig anti-ökologisch, passt gut zu einer »Umweltideologie«, der sich Saito annähern will.
»Es ist nicht so, dass die Menschheit und ihre Produktion erst ab einem bestimmten Punkt an natürliche Grenzen stößt. Vielmehr ist sie immer und überall von natürlichen Grenzen umgeben, von Beschränkungen dessen, was wir derzeit vollbringen und leisten können.«
Saito betont, nicht nur nicht-sozialistische Kritiker des Marxismus waren der Meinung, dass Marx eine unbegrenzte wirtschaftliche und technologische Entwicklung befürwortete. Vielmehr »gaben sogar selbsternannte Marxisten diesen Fehler zu«. Zunächst räumten Philosophen wie Ted Benton, André Gorz und Michael Löwy, die Saito als Ökosozialisten der ersten Stunde ansieht, ein, dass der Marxsche »Prometheanismus« ein Irrtum gewesen sei oder dass Marx nun einmal zu einer Zeit gelebt habe, die vom heutigen Verständnis diverser Umweltfragen weit entfernt war. Daher habe der Marxismus korrigiert oder zumindest durch eine »ökologische« Analyse ergänzt werden müssen.
In den 1990er und frühen 2000er Jahren hätten Ökosozialisten der zweiten Generation, vor allem John Bellamy Foster und Paul Burkett, die Texte von Marx jedoch erneut analysiert und dabei »unbemerkte oder unterschätzte« ökologische Aspekte in seinem Werk entdeckt. Marx brauchte also gar nicht mehr korrigiert zu werden; vielmehr gab es Hinweise auf eine ökologische Dimension schon in mehreren seiner eigenen Schriften.
Saito sieht sich selbst als die nächste Generation im Abkehrprozess vom konventionellen »prometheischen Marxismus«. Er argumentiert nicht mehr nur, dass es einige Aspekte eines ökologischen Verständnisses in Marx’ Schriften gibt, sondern dass Marx in den 1870er Jahren einen radikalen Bruch in seiner Theoretisierung des Kapitalismus vollzogen habe. Demnach wurde ein ökologisches Verständnis der planetaren Grenzen zur eigentlichen Grundlage seiner Kritik der politischen Ökonomie. In der Folge muss die Marx-Rezeption nicht mehr mit einem zusätzlichen Verständnis über die natürlichen ökologischen Grenzen »korrigiert« werden; nach Saito beruht bereits Marx’ gesamte Kritik auf einem solchen Verständnis.
Letztlich will Saito einen neuen Marxismus konstruieren (oder, wie er es ausdrücken würde: das wiederherstellen, was Marx ohnehin schon vertreten und gemeint hatte). Es wäre ein Marxismus, der die Existenz und vor allem die Unterwerfung unter vermeintlich feststehende natürliche Grenzen anerkennt: Da die Ressourcen des Planeten Erde begrenzt sind, gäbe es »absolute biophysikalische Grenzen für die Kapitalakkumulation«. Saito bezeichnet diese Grenzen als objektive »Grenze des Stoffs« oder »Belastungsgrenzen der Erde«, die mit neuer Technologie zwar bis zu einem gewissen Grad »verschoben« werden können; doch die Gesetze von Energie und Entropie seien und blieben nun einmal objektive und vom Menschen unabhängige Tatsachen.
Im Beharren auf solche festen natürlichen Grenzen lässt sich eine Art Neomalthusianismus erkennen. Im Neomalthusianismus der späten 1960er Jahre wurden die Bedenken des klassischen Ökonomen Thomas Malthus hinsichtlich der Grenzen von Nahrung und Bevölkerung auf natürlich-ökologische Grenzen übertragen. Eingeläutet wurde das neomalthusianische Revival mit der Veröffentlichung von Paul Ehrlichs unglaublich rassistischem Bestseller The Population Bomb (deutsch: Die Bevölkerungsbombe) im Jahr 1968. Der Stanford-Professor behauptete darin, dass menschliche Bevölkerungswachstum werde die in der Natur angelegten Möglichkeiten, uns alle zu ernähren, übersteigen. Er sagte voraus, dass spätestens in den 1970er oder 1980er Jahren Hungersnöte zu hunderten Millionen Toten führen würden. Auch der bekannte Bericht Die Grenzen des Wachstums des Club of Rome aus dem Jahr 1972 trug zum Revival bei.
In letzter Zeit wurden derartige Sorgen unter dem Schlagwort der neun kritischen »planetarischen Grenzen« (unter anderem Klimawandel, Stickstoff- und Phosphorverschmutzung sowie veränderte Landnutzung) neu verpackt. Diese beruhen auf den Argumenten von Forschenden des Stockholm Resilience Centre. Saito stützt sich in Systemsturz stark auf diese Literatur.
Wie die meisten anderen Degrowth-Anhänger will Saito zwar die Überbevölkerungsthese von Malthus aufgeben, an der zentralen Idee der Einhaltung von Grenzen aber festhalten: »Wenn [die Anerkennung von Grenzen] als Malthusianismus gilt, dann wäre im Umkehrschluss die einzige Möglichkeit, die malthusianische Falle zu vermeiden, die dogmatische Leugnung der natürlichen Grenzen als solche.« Wenn sich die Welt vom Wirtschaftswachstum verabschiede, sei das Bevölkerungswachstum demnach kein Problem mehr.
Der Glaube an die Unveränderlichkeit von Grenzen – sei es der Grenzen von Bevölkerungsentwicklung oder Grenzen der nutzbaren Ressourcen – verkennt jedoch die Lebensrealität der Menschen: Denn es ist nicht so, dass die Menschheit und ihre Produktion erst ab einem bestimmten Punkt an natürliche Grenzen stößt. Vielmehr ist die Menschheit immer und überall von natürlichen Grenzen umgeben, von Beschränkungen dessen, was wir derzeit vollbringen und leisten können.
Wissenschaft und Technologie, in Kombination mit Egalitarismus (oder wie es der Marxist Hal Draper Mitte des Jahrhunderts ausdrückte: »Prometheus plus Spartakus«), ermöglichen es uns aber, diese Grenzen zu überwinden. Friedrich Engels kritisierte schon 1844 Malthus für eine »Kleinigkeit«, die dieser offenbar übersehen habe: »Die Wissenschaft aber vermehrt sich mindestens wie die Bevölkerung [...] und was ist der Wissenschaft unmöglich?«
Was für die Wissenschaft in Bezug auf Bevölkerungsentwicklung gilt, gilt auch für die Wissenschaft in Bezug auf Material und Energie, die die Bevölkerung verbrauchen. (In unserem Zeitalter der Raumfahrt ließe sich sogar argumentieren, dass die Erde nicht die einzige denkbare Quelle für Energie oder materielle Ressourcen ist.)
Um es konkret zu machen: Eine der planetarischen Grenzen des Stockholm Resilience Centre ist die Grenze für die Menge an Treibhausgasen, die wir ausstoßen können, bevor die globalen Durchschnittstemperaturen die für das menschliche Wohlergehen optimalen Werte überschreiten. Anders ausgedrückt: Diese Klimagrenze ist eine Grenze für die Menge an fossiler Energie, die wir ohne schwere Schäden nutzen können. Diese energetische Grenze ist natürlich real, aber sie ist auch bedingt: Wenn wir vollständig auf saubere Energiequellen wie Windkraft, Solarenergie – und ja, auch Kernenergie – umsteigen würden, wäre eine rein klimabedingte Grenze der Energienutzung überwunden beziehungsweise nicht mehr relevant. Die einzig wahren, dauerhaft nicht überwindbaren Grenzen, denen wir gegenüberstehen, sind die Gesetze der Physik und der Logik.
Wie wir nur zu gut wissen, erfolgen derartige Umstellungen aber nicht automatisch. Die Frage für Marxistinnen und Marxisten ist daher, wie die Produktionsverhältnisse und -beziehungen das Überschreiten von Grenzen entweder verhindern oder diese Grenzen verschieben können.
Saito lehnt sich in seinen Schriften stark an die Arbeit des langjährigen Herausgebers des Monthly Review, John Bellamy Foster, an und versucht, diese auszubauen. Foster argumentiert, entgegen der unter Marxisten weit verbreiteten Meinung, Marx sei ein Befürworter der industriellen Revolution gewesen, habe der alte Mann in Wirklichkeit eine Theorie eines »ökologischen Bruchs« oder »metabolischen Risses« (metabolic rift) entwickelt. Mit diesen Überlegungen habe er die technologisch-industrielle Revolution und ihre Entwicklungen tatsächlich sehr viel kritischer gesehen als bisher angenommen.
Fosters Theorie des ökologischen Bruchs besagt, dass die kapitalistische Produktionsweise zu einem Bruch des normalen, gesunden Austauschs zwischen Mensch/Gesellschaft und Natur geführt habe. Dieser Bruch ist die Quelle aller Umweltprobleme, mit denen wir damals wie heute konfrontiert sind. Fosters Beweise, dass Marx eine solche Theorie entwickelt habe, stammen aus einer Handvoll Fußnoten und Passagen in Notizbüchern aus einigen wenigen Schriften von Marx, vor allem im dritten Band des Kapitals.
Marx bezog sich dabei auf die Erkenntnisse von Justus von Liebig über die Einflussfaktoren für die Fruchtbarkeit von Böden. Er schrieb, der Kapitalismus erzeuge »Bedingungen, die einen unheilbaren Riss hervorrufen in dem Zusammenhang des gesellschaftlichen und durch die Naturgesetze des Lebens vorgeschriebenen Stoffwechsels«.
Mit anderen Worten: die kapitalistische Urbanisierung schafft eine Bevölkerungskonzentration, deren Abfälle nicht nachhaltig zur Erneuerung der Böden wiederverwertet werden können. Liebig beschreibt dies als eine Form des »Raubs«, die letztlich zur Degradation der Böden führt.
Fosters Theorie des ökologischen Bruchs besagt, Marx habe Liebigs Erkenntnisse über die Bodenfruchtbarkeit auf die gesamte Beziehung zwischen Gesellschaft und Natur ausgeweitet. Das Bedürfnis des Kapitalismus nach immer größerem Wachstum führe demnach zu einem irreparablen Raubbau am Boden – und was für die Bodenfruchtbarkeit gilt, gilt für alle natürlichen Prozesse. Ebenso wie der Kapitalismus die Böden weniger fruchtbar macht, so treibt er das gesamte Spektrum der Umweltzerstörung voran. Der Kapitalismus hat somit die natürlichen Prozesse gestört, also die Art und Weise, wie die Natur oder das Naturgesetz die Dinge normalerweise »regeln« würde. Diese Störung wirkt wie eine Trennung (oder Entfremdung) der Menschheit von der Natur, ähnlich wie die Entfremdung der Arbeiter vom Produkt ihrer Arbeit.
»Da Märkte die Produktion nur auf die Dinge beschränken, die profitabel sind, versprach der Sozialismus immer, viel produktiver zu sein als der Kapitalismus.«
Saito jedoch erweitert Fosters Position und kehrt sie sogar um: Während für Foster Marx’ Kapitalismuskritik eine Theorie dieses »ökologischen Bruchs« beinhaltet, ist für Saito das Marxsche »Konzept des Stoffwechsels« nicht weniger als die Grundlage seiner politischen Ökonomie: Der Stoffwechsel ist die Basis für alles.
Nachdem Saito den Stoffwechsel als Grundwert eines Öko-Marxismus identifiziert hat, nimmt er im Folge-Buch Marx in the Anthropocene eine Besprechung linker Denker wie István Mészáros, Rosa Luxemburg, Georg Lukács und natürlich Friedrich Engels vor. Diese Rückschau lässt sich nur als »parteiisch« und unausgewogen bezeichnen: Saito bewertet diese Denkerinnen und Denker ausschließlich danach, wie sehr sie die Bedeutung der Stoffwechseltheorie (an-)erkennen.
Saito lobt insbesondere Mészáros, der »einen großen Beitrag zum richtigen Verständnis von Marx’ Konzept des Stoffwechsels als Grundlage seiner politischen Ökonomie geleistet« habe. Luxemburg hingegen »verstand« den ökologischen Bruch auf der »internationalen Ebene«, stolpere aber an der letzten Hürde, da sie »ihre Theorie des Stoffwechsels gegen Marx formulierte«. In Saitos Vorhaben, Karl Marx als Öko-Propheten darzustellen, ist das natürlich nicht sehr willkommen.
Engels wiederum wird von Saito dahingehend kritisiert, er habe sich in den 1870er Jahren von Marx’ Degrowth-Erwachen abgewendet, und sogar das Wort »natürlich« aus der oben zitierten Passage über den »irreparablen Riss« gestrichen (in Marx’ Originalmanuskript war von einem »Prozess zwischen gesellschaftlichem und natürlichem Stoffwechsel« die Rede). Diese Auslassung ist Saitos Hauptbeweis für seine Behauptung, Engels habe die zentrale Bedeutung der Ökologie für das marxistische Projekt aktiv unterdrückt. Dies habe sogar zu einem späten Auseinanderdriften der beiden Denker geführt. In einem kürzlich erschienenen Essay zeigt sich aber selbst Foster nicht wirklich überzeugt: »Es ist fraglich, ob die Streichung [des Ausdrucks] ›natürlicher‹ Stoffwechsel die Bedeutung von Marx’ ursprünglicher Passage tatsächlich wesentlich verändert hat.«
Saito scheint sich nicht sonderlich dafür zu interessieren, was die zitierten Denker ansonsten zu sagen hatten – solange sie die Bedeutung des Stoffwechsels bekräftigen. So wird Lukács für die Nutzung des Begriffs gelobt, doch auf der gleichen Seite, auf der Saito ihn zustimmend zitiert, klingt Lukács doch sehr nach den »prometheischen« Marxisten, die hier doch eigentlich verlacht werden. Denn Lukács erklärt, die sozialistische Gesellschaft sei »die Erbin all der gewaltigen Errungenschaften, die der Kapitalismus auf dem Gebiet der Technik hervorgebracht hat«.
Saito zeigt sich auch weitgehend uninteressiert an den Hunderten anderen Denkerinnen und Denkern im marxistischen Kanon und in der sozialistischen Bewegung – von Lenin bis Trotzki, von Sylvia Pankhurst bis Nikolai Bucharin – für die die Marx’sche These, dass der Sozialismus die Produktivkräfte aus den Fesseln des Kapitalismus befreien werde, glasklar war. Für die Marxisten war elementar, dass ab einem bestimmten Punkt in der (Weiter-)Entwicklung der Produktivkräfte (im Wesentlichen wissenschaftliches Wissen, Technologie, Arbeit, Land und natürliche Ressourcen) eben diese durch die bestehenden Produktionsverhältnisse eingeschränkt würden (also durch die Art und Weise, wie die Produktion organisiert ist; im Kapitalismus: dass die Eigentümer von Kapital Waren auf den Märkten mit Gewinn verkaufen und die Eigentümer von Arbeitskraft gegen Lohn angeheuert werden).
Die soziale Revolution befreit die Produktivkräfte dann aus den Beschränkungen des Kapitalismus. Dies ist ein zentraler Punkt in der Theorie des historischen Materialismus, aber keine rein abstrakte Angelegenheit. Ein Beispiel: Während der Pandemie war es im Interesse der Menschheit, Anti-Covid-Impfstoffe in ausreichender Menge zu produzieren, um bestenfalls die gesamte Weltbevölkerung zu impfen, aber die Impfstoffproduktion wurde aus Profitinteresse auf irrationale Weise eingeschränkt. Da Märkte die Produktion nur auf die Dinge beschränken, die profitabel sind, versprach der Sozialismus immer, viel produktiver zu sein als der Kapitalismus. Auch beim Thema Klimawandel ist deutlich, dass viele potenzielle Lösungen zwar existieren (könnten), aber schlicht nicht profitabel genug sind.
Saitos Rosinenpickerei aus dem marxistischen Kanon ist freilich nur ein zweitrangiges Problem: Deutlich schwerer wiegt, dass er Marx und die kleine Anzahl an Marxistinnen und Marxisten, die er gutheißt, zu regelrechten Propheten macht – und nicht als die fehlbaren menschlichen Theoretiker sieht, die sie tatsächlich waren. Kurz: Nur weil Marx (oder andere) etwas gesagt haben, ist es noch lange nicht richtig.
Um kurz zu rekapitulieren: Saito verweist auf Fosters Analyse der Marxschen Gedanken zu Liebigs Forschungen. Fosters Argumentation wurde weithin akzeptiert, ohne zu berücksichtigen, was Liebig tatsächlich gesagt hat, oder zu prüfen, was zeitgenössische Bodenwissenschaftler und Biochemiker zu diesem Thema hinzuzufügen hatten.
Daher lohnt ein kurzer Exkurs, um darüber nachzudenken, was Stoffwechsel in der Biochemie eigentlich bedeutet, was Liebig zum Thema Böden und Fruchtbarkeit herausgefunden hat sowie was Ökologinnen und Evolutionsbiologen zu der Frage zu sagen haben, ob es überhaupt den besagten »Bruch« in oder mit der Natur geben kann.
Sowohl für Saito als auch für Foster beziehen sich die hier transkribierten relevanten Passagen von Marx auf die Entdeckung von Liebig, dass die chemischen Elemente Kalium, Phosphor und vor allem Stickstoff für das Wachstum von Pflanzen unerlässlich sind. Heute wissen wir, dass Stickstoff in allen Organismen (nicht nur in Pflanzen) über eine Reihe chemischer Reaktionen zusammen mit anderen wichtigen Bestandteilen in Aminosäuren umgewandelt wird, die wiederum die Bausteine der Nukleinsäuren sind, aus denen RNA und DNA bestehen, sowie der Proteine, aus denen so ziemlich alle Gewebe in einem Organismus entstehen. In Pflanzen wird Stickstoff zusammen mit anderen Substanzen in Blätter und Stängel und alles andere, was eine Pflanze ausmacht, umgewandelt. Wenn Tiere diese Pflanzen fressen, wird der darin enthaltene Stickstoff verwendet, um unsere eigenen Proteine, unsere DNA und alle anderen Gewebearten »herzustellen«.
Metabolismus oder Stoffwechsel sind Begriffe aus der Biochemie, die sich auf diese und alle anderen chemischen Reaktionen in einem Organismus beziehen. Es gibt zwei Arten von Stoffwechsel: Katabolismus – das Auseinanderbrechen von Molekülen, wie es geschieht, wenn Bakterien die Dreifachbindung eines N2-Moleküls von Stickstoff durchtrennen – und Anabolismus – der Aufbau neuer Moleküle, wie er geschieht, wenn Pflanzen und andere Organismen Proteine herstellen. Alle Organismen betreiben sowohl Katabolismus als auch Anabolismus. »Stoffwechsel« ist die Gesamtheit all dieser chemischen Reaktionen.
»Die Geschichte des Lebens auf der Erde ist keineswegs eine Geschichte des fragilen Gleichgewichts, sondern eine Geschichte des ständigen dynamischen Wandels.«
Liebig beschrieb den beobachteten Rückgang der Bodenfruchtbarkeit als einen Prozess, bei dem chemische Nährstoffe im Boden von den Pflanzen aufgenommen werden, die dann wiederum von uns Menschen und unseren Haustieren gefressen werden. Wenn diese Nährstoffe nun nicht in Form unserer Exkremente, unseres Urins und nach dem Tod unserer Körper in den Boden zurückkehren, gibt es nur eine Richtung, in die diese Nährstoffe verschwinden: vom Land in die Stadt, und durch deren Kanalisation in die Ozeane. Das bezeichnete Liebig als eine Form des »Raubs« von Nährstoffen, die nicht in die Böden zurückkehren.
Liebig ist ein Gigant der Naturwissenschaften und der Chemie. Doch Foster und Saito stellen eine ganz andere Art von Behauptung über das beschriebene »Raubsystem« auf: Es sei historisch spezifisch für den Kapitalismus. Dies ist der Dreh- und Angelpunkt ihres gesamten Ansatzes für einen Ökosozialismus: Wenn wir bei Marx eine Theorie darüber finden könnten, wie der Kapitalismus zwangsläufig die Natur zerstört, hätten wir eine echte marxistische Theorie dafür, warum der Kapitalismus durch den (Öko-)Sozialismus ersetzt werden müsse.
Dabei gibt es zwei Schwierigkeiten. Erstens ist nicht klar, ob das, was Marx (oder Liebig) beschreibt, überhaupt als spezifisch für den modernen Kapitalismus angesehen werden kann. Liebigs Begriff des »Raubes« beschreibt Prozesse in einer urbanen Zivilisation, in der die Eliten über Arbeitskräfte und Ressourcen aus der ländlichen Peripherie verfügen. Solche Konstellationen existieren allerdings schon seit Jahrtausenden: derartige Dynamiken finden sich in so unterschiedlichen Kontexten wie im antiken Rom oder in der Maya-Zivilisation. Beide hatten ebenfalls mit ökologischen Problemen aufgrund der urbanen Ausbeutung der Ressourcen aus der Peripherie zu kämpfen).
Man könnte nun plausibel argumentieren, dass der Kapitalismus die Urbanisierung (inklusive des charakteristischen Merkmals eines städtischen Proletariats) beschleunigt hat, aber das bedeutet nicht, dass es eine dem Kapitalismus innewohnende Kraft gibt, mit der alle ökologischen Probleme erklärt werden können. Vielmehr stellt der Kapitalismus eine graduelle Verschärfung, einen graduellen Unterschied zu früheren Gesellschaften dar.
Zweitens krankt die Theorie des ökologischen Bruchs an einem unwissenschaftlichen Glauben an eine Art Gleichgewicht der Natur. Es ist die Vorstellung, dass die Natur auf eine bestimmte Weise funktioniert und dass der Kapitalismus dieses Gleichgewicht stört. Die Geschichte des Lebens auf der Erde ist aber keineswegs eine Geschichte des fragilen Gleichgewichts, sondern eine Geschichte des ständigen dynamischen Wandels. Vom ersten Massen-Artensterben, das durch die Erzeugung von molekularem Sauerstoff durch Cyanobakterien ausgelöst wurde, bis hin zu mehreren Fällen globaler Erwärmung, die durch massiven Vulkanismus verursacht wurden, hat sich der Planet ständig verändert. Das hat wiederum zu einem stetigen evolutionären Wandel und dem damit verbundenen Aussterben und der Speziesbildung geführt.
Stellen wir persönliche Ansichten zum Thema Umwelt und Klima kurz hintan: Für den Rest der Natur ist alles, was wir Menschen tun – sei es in Form der kapitalistischen Produktionsweise oder auf andere Weise, von der Verbrennung fossiler Brennstoffe bis hin zur Erfindung von Kunststoffen – nur die neueste Runde von evolutionärem Selektionsdruck.
Das wirklich Besondere am menschlichen Handeln ist, dass unser derzeitiges Verhalten uns selbst bedroht. Es kann definitiv zu Schäden an den Ökosystemfunktionen, auf die Menschen für ihr Überleben angewiesen sind, kommen. Tote oder degradierte Böden für die Landwirtschaft, Klimawandel, Stickstoffbelastung und anderes sind eine reale Gefahr für unser Überleben, aber sie sind kein »Riss« im vermeintlichen Gleichgewicht der Natur (das es nicht gibt). Außerdem nochmals: menschliches Handeln, das solche Ökosystemfunktionen schädigt, ist kein Alleinstellungsmerkmal des Kapitalismus. Tatsächlich war das Aussterben mehrerer Tierarten – etwa Mammuts, Säbelzahnkatzen und Seekühe – im späten Pleistozän wahrscheinlich auf Überjagung oder auf den Kampf um Ressourcen zurückzuführen. Diese Ereignisse liegen nicht nur vor unserer menschlichen Zivilisation, sondern sogar vor dem ersten Auftreten des Homo sapiens, denn Naturzerstörung begann bereits mit unseren früheren Verwandten.
Darüber hinaus gibt es eine Fehlinterpretation der Beiträge von Liebig. Für die Agrarwissenschaft war und ist Liebig prägend, allerdings nicht für seine Ausführungen über den Raubbau am Boden. Stattdessen ist er vielmehr für seinen Beitrag zur organischen Chemie bekannt, gilt manchmal sogar als der »Vater des Düngemittels«. Er entdeckte also nicht nur die Einseitigkeit des Nährstoffflusses in der landwirtschaftlichen Produktion, sondern nutzte eben diese Erkenntnis, um herauszufinden, wie das Problem korrigiert werden kann.
Liebig (und dann im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts Fritz Haber und Carl Bosch mit ihrem Verfahren zur Synthese von Ammoniak) ist es zu verdanken, dass Hungersnöte in der Geschichte der Menschheit langsam zu einem weniger prävalenten Problem geworden sind. Infolge der Verbreitung solcher Innovationen und der damit verknüpften Techniken wie optimierte Bewässerung, ertragreiches Getreide, Mechanisierung, chemische Düngemittel und Pestizide kam es ab den 1950er Jahren in Asien kaum noch zu Hungersnöten. Heutige Hungerkrisen, vor allem in Afrika, sind auf rein politische Gründe zurückzuführen und nicht als Konsequenz aus dem beschriebenen »Raub« am Boden.
Kritikerinnen und Kritiker dieser »Grünen Revolution« beklagen zu Recht ihre aktuelle Form, in der es zu starker Machtausübung durch Großkonzerne und zur Zerstörung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft kommt. Allerdings wäre eine arbeitssparende, mechanisierte Landwirtschaft auch unter anderen (nämlich sozialistischen) Produktionsverhältnissen möglich. Ebenso vernachlässigen die kritischen Stimmen, dass diese Entwicklung genau das ist, was Marx als Wegbereiter für den Sozialismus vorausgesagt hat (eine Vorhersage, die sich nach seinem Tod weitgehend bewahrheitet hat).
Das Haber-Bosch-Verfahren mag kohlenstoffintensiv sein, da es auf Erdgas als Quelle für den Wasserstoffeinsatz zurückgreift. Auch kann der Abfluss von Nährstoffen aus der Landwirtschaft bei fehlender Regulierung und mangelnder Infrastruktur zu schädlichen Algenblüten an den Küsten führen. Das Lösen von Problemen schafft eben neue Probleme, die dann ihrerseits gelöst werden müssen. Als Marxistinnen und Marxisten ist uns klar, woran es im Kapitalismus hakt: Solange die Problemlösung profitabel ist, ist alles gut. Wenn das aber nicht der Fall ist, wird das Problem nicht gelöst – selbst wenn es eine Lösung gibt oder geben könnte.
Der Kapitalismus ist keine rationale Gesellschaft, in der die Allokation von Ressourcen demokratisch entschieden wird, um kollektiv erkannte Probleme zu lösen. Vielmehr wird alles Handeln durch das Streben nach Profitmaximierung bestimmt. Diese Analyse bedarf jedoch keines Nachtrags, keiner Korrektur mit der Annahme, Wirtschaftswachstum führe zu einem »ökologischen Bruch«.
In seinen beiden neuesten Büchern verbringt Saito viel Zeit damit, Anhänger dessen, was er den »neuen utopischen Sozialismus« nennt, ins Visier zu nehmen: Leute wie Aaron Bastani, Nick Srnicek und Alex Williams, die argumentieren, dass die technologische Entwicklung im Kapitalismus den Weg für eine sozialistische Zukunft des Überflusses ebnet (der vielzitierte »vollautomatische Luxuskommunismus«). Ironischerweise ist es Saito selbst, der genau das propagiert, was Engels als »utopischen Sozialismus« bezeichnet hatte, nämlich eine stärker lokalisierte Landwirtschaft und ökologischen Kommunalismus.
Saito kritisiert, die besagten Theoretiker seien in frühen Versionen des Marxschen Denkens verfangen (er verweist insbesondere auf die Grundrisse von 1857-58 und das Vorwort von Zur Kritik der Politischen Ökonomie von 1859). Tatsächlich habe Marx selbst seine frühere Vision des »historischen Materialismus« aufgegeben, als der erste Band des Kapital 1867 veröffentlicht wurde (oder zumindest im Laufe der 1870er Jahre).
Man kann gar nicht genug betonen, wie gewagt diese Behauptungen in Marx in the Anthropocene sind. Saito erklärt, dass neue Konzepte »Marx dazu zwangen, seine frühere Formulierung des historischen Materialismus aufzugeben«, dass »er nicht mehr in der Lage war, einen progressiven Charakter des Kapitalismus zu akzeptieren« und dass »Marx sich vollständig vom historischen Materialismus, wie er traditionell verstanden wurde, verabschiedet haben muss«. Diese Abkehr von früheren Ansichten sei für Marx einschneidend gewesen: »Es war keine leichte Aufgabe für ihn. Seine ganze Weltanschauung stürzte in eine Krise.« Später vergleicht Saito diese »Bekehrung« mit Louis Althussers umstrittenem Begriff des »epistemologischen Bruchs« zwischen Marx’ früheren hegelianischen und humanistischen Schriften und einem späteren, rein wissenschaftlichen Marxismus.
Saito erkennt richtigerweise, dass der Schlüsselbegriff in diesen Debatten der Stand der »Produktivkräfte« ist. Der traditionelle historische Materialismus geht davon aus, dass der Kapitalismus eine progressive Rolle in der Geschichte spielt, weil er die Produktivkräfte entwickelt und nicht nur arbeitssparende Maschinen einsetzt, sondern auch eine sozialere und kooperativere Arbeitsteilung sowie kollektive Formen der wissenschaftlichen Erkenntnis begünstigt. Diese Entwicklung schafft die materiellen Voraussetzungen und gesellschaftlich verankerten Produktionssysteme, die zum ersten Mal in der Geschichte den Mangel abschaffen – und so die Grundlage für Sicherheit und Wohlstand für alle legen.
»Mit Blick auf die anzustrebende Demokratisierung der Produktion muss man fragen: Wer ist eigentlich Saito, dass er im Voraus bestimmen will, welche Technologien ›offen‹ stehen und welche nicht?«
Saitos Lesart von Marx’ Ausführungen im Kapital und darüber hinaus – insbesondere der Begriff der »realen« Unterordnung der Arbeit unter das Kapital – beruht auf dem Argument, dass Marx begann, Technologie und Maschinen ausschließlich als Produkt der kapitalistischen Gesellschaftsbeziehungen zu verstehen. Infolgedessen wäre die von Saito als »Produktivkräfte des Kapitals« bezeichnete Technologie in einer sozialistischen Zukunft tatsächlich nur von geringem Nutzen. Sie werde daher »zusammen mit der kapitalistischen Produktionsweise verschwinden«. Er geht sogar so weit, dass der Sozialismus in puncto Technologie »in vielen Fällen nochmals bei Null anfangen« müsse.
Zugegebenermaßen widerspricht Saito seiner eigenen Ansicht an einzelnen Stellen seines Buches aber auch und scheint ausgewählte »marxistische Standardpositionen« zu bestätigen. So schreibt er: »Marx erkennt zweifellos die positive Seite der modernen Technik und der Naturwissenschaften an, die die materiellen Vorbedingungen für die Errichtung des ›Reichs der Freiheit‹ schaffen.«
Diese Inkohärenz verleiht dem Text eine gewisse glaubhafte Abstreitbarkeit: Sie erlaubt es Saito einerseits zu sagen, dass wir nicht weiterhin Technologien verwenden können, die durch kapitalistische soziale Beziehungen »verdorben« sind (denn die Klassenbeziehungen seien einer solchen Technologie eingeschrieben). Andererseits kann er, wenn er auf den Primitivismus angesprochen wird, zu dem seine Argumentation zwangsläufig führt, Bedenken mit der Aussage abwehren, dass einige dieser Technologien in einer gerechten Gesellschaft natürlich weiterhin verwendet würden. Doch wenn einige »kapitalistische« Technologien tatsächlich auch nach der Degrowth-Revolution weiter genutzt werden können, dann entkräftet dies Saitos gesamte Subsumtionsthese.
Selbst wenn wir diesen Widerspruch ignorieren: Was wären die Kriterien, um zu entscheiden, welche Technologien zukünftig genutzt werden können und welche nicht? Saito stützt sich auf Gorz’ Unterscheidung zwischen »offenen« und »verriegelten« Technologien. Hier finden wir unterschiedliche antimodernistische Kritiken der Technologie aus den 1960er und 1970er Jahren, die außerhalb der historisch-materialistischen (oder sogar aufklärerischen) Tradition stehen. Dazu gehören Autoren einer »buddhistischen Ökonomie« wie E. F. Schumacher mit seiner »Small-is-beautiful«-Argumentation. Diese Denker befürworten dezentralisierte (aber vage definierte) technologiearme »angemessene Technologien« (ein Konzept, das zum Beispiel jedes öffentliche Gesundheitssystem ausschließen würde, das zwangsläufig eine gewisse Größe und technische Komplexität aufweist). Außerdem wird auf Theologen wie Jacques Ellul und Ivan Illich verwiesen, die sich komplett gegen die moderne Medizin und die Industriegesellschaft aussprechen.
Bezeichnenderweise sagt Saito: »Ein Paradebeispiel für verriegelte Technologien ist die Kernkraft« – eine Technologie, der aber immer mehr Menschen eine entscheidende Rolle bei der Bekämpfung des Klimawandels und der Luftverschmutzung einräumen.
Des Weiteren muss man mit Blick auf die anzustrebende Demokratisierung der Produktion fragen: Wer ist eigentlich Saito, dass er im Voraus bestimmen will, welche Technologien »offen« stehen und welche nicht? Damit teilt er einen verbreiteten Impuls anderer Degrowth-Denker, im Vorfeld demokratischer Beratungen bereits zu erklären, dass einige Produktionsformen »notwendig« und andere »unnötig« sind. Diese Entscheidung obliegt aber nicht (nur) Akademikerinnen und Ökostrategen.
Saito deutet die Marxistische Tradition in einer bestimmten Weise. Wir müssen uns daher fragen, welche Belege er für Marx’ angebliche Abkehr vom traditionellen historischen Materialismus und dessen Beschreibung einer notwendigen Entwicklung der Produktivkräfte vorlegt. Es zeigt sich: Solche Belege sind dünn gesät. Saito verweist auf eine Passage in Marx’ Vorwort zum Kapital, in der dieser aber lediglich von »der kapitalistischen Produktionsweise und den ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnissen« spricht, wobei die Produktivkräfte allerdings nicht angesprochen werden (Saito würde freilich unterstellen, dass Marx diese inzwischen unter die gesellschaftlichen Beziehungen des Kapitals subsumiert).
Dies steht in der Tat im Gegensatz zu dem berühmten Vorwort von 1859, in dem die Produktionsverhältnisse und die Produktivkräfte als zwei unterschiedliche Konzepte betrachtet werden. Wenn Saito jedoch glaubt, dass dies ein Beweis dafür ist, dass Marx seine Ansicht von 1859 aufgegeben hat, warum zitiert Marx dann später im Kapital das Vorwort von 1859 selbst in einer Fußnote und nennt es dort »meine Ansicht«?
In der Fußnote streicht Marx zwar die Erwähnung der Produktivkräfte, aber später im Kapital bekräftigt er mehrfach deren zentrale Bedeutung für eine sozialistische Zukunft. In Kapitel 22 beschreibt er, wie der Kapitalist dazu neigt, »rücksichtslos die Menschheit zur Produktion um der Produktion willen [zwingen], daher zu einer Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und zur Schöpfung von materiellen Produktionsbedingungen, welche allein die reale Basis einer höheren Gesellschaftsform bilden können, deren Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist«.
Saitos Hauptargument ist allerdings nicht, dass Marx den historischen Materialismus bereits im Kapital aufgegeben habe. Vielmehr sei er im Laufe der 1870er Jahre, also nach der Veröffentlichung, langsam zum »Degrowth-Kommunisten« geworden. Doch auch hier ist die Beweislage sehr dünn – oder wie es in einer Rezension heißt: »Es gibt offen gesagt keinerlei Basis für derartige Behauptungen.«
Stattdessen könnte man sich einfach der Kritik des Gothaer Programms widmen, die erst 1875 veröffentlicht wurde, und in der Marx weiterhin klassische Auffassungen des historischen Materialismus formuliert. Marx argumentiert dort, Merkmale der kommunistischen Gesellschaft müssten auch in der Hinsicht verstanden werden, dass sie »eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt«. Später betont Marx: »In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft […], nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!«
Hier die wichtige Anmerkung: Marx betont, der Kommunismus sei »erst dann« möglich, wenn die Produktivkräfte entwickelt sind.
Was sind also Saitos Belege? Tatsächlich gibt es eine Reihe von Textpassagen aus den Bereichen Geologie, Botanik und Ackerbau, die Marx in seine Notizbücher kopierte und die seine wachsende Sorge angesichts der schwindenden Bodenfruchtbarkeit zeigen. Der größte Teil von Saitos Ausführungen stützt sich jedoch auf einen einzigen Brief von Marx an die russische Sozialistin Vera Sassulitsch im Jahr 1881 und auf sein Interesse an den damaligen russischen Agrarkommunen (dem Mir-System).
Wenn man sich mit einem neuen Thema beschäftigt, sei es in der Schule, an der Universität oder auf eigene Faust, macht man sich Notizen und transkribiert oft große Abschnitte aus einem anderen Artikel oder Buch, die von Interesse sind oder an die man sich erinnern muss. Der Prozess dieser Transkription ist sowohl eine Gedächtnisstütze (denn Schreiben hilft beim Behalten von Fakten) als auch eine Ressource, die man später nutzen kann. Man kann aber daraus nicht ableiten, dass die bloße Transkription eine Zustimmung zu oder Bestätigung dessen ist, was transkribiert wurde.
»Wenn der gesamte marxistische Kanon einen ›Produktivismus‹ befürwortet, bedeutet dies aus Saitos Sicht anscheinend, dass die Lektüre der Schriften von Marx und Engels durch Tausende, ja Millionen von Sozialistinnen und Sozialisten rund 175 Jahre lang falsch war.«
Dennoch führt Saito wiederholt Marx’ Notizen als Beweis für dessen Zustimmung an. Dabei gibt es nur sehr wenige Kommentare von Marx selbst, die über die Transkriptionen hinausgehen und eine solche Behauptung stützen könnten. Da Saito keine weiteren Belege liefert (oder die Leser sich viel Zeit nehmen müssten, um die Marx-Notizbücher in den verschiedenen Sprachen selbst zu lesen): Woher sollen wir wissen, ob es überhaupt eine solche Befürwortung seitens Marx gab?
Dabei wäre es wichtig, dass Saito solche Beweise erbringt, denn außergewöhnliche Behauptungen erfordern außergewöhnliche Belege. Wie Saito selbst fragt: »Wenn Marx wirklich einen Degrowth-Kommunismus vorgeschlagen hat, warum hat niemand in der Vergangenheit darauf hingewiesen, und warum wurde im Marxismus stets der produktivistische Sozialismus vertreten?« Wenn der gesamte marxistische Kanon einen solchen »Produktivismus« befürwortet, bedeutet dies aus Saitos Sicht anscheinend, dass die Lektüre der Schriften von Marx und Engels durch Tausende, ja Millionen von Sozialistinnen und Sozialisten rund 175 Jahre lang falsch war.
Im Sassulitsch-Brief, von dem es mehrere Entwürfe gibt, schreibt Marx, die gemeinschaftlichen Produktionsformen in den russischen Agrarkommunen könnten es Russland ermöglichen, direkt zum Kommunismus überzugehen, ohne den Kapitalismus durchlaufen zu müssen. Es stimmt, dass diese Ansicht im Kontrast zu starreren Interpretationen des historischen Materialismus zu jener Zeit steht, die betonten, dass alle Gesellschaften zunächst vor-sozialistische Stadien der wirtschaftlichen Entwicklung durchlaufen müssten. Im verworfenen ersten Entwurf behauptet Marx auch, der künftige Kommunismus könne vom beobachteten Gemeineigentum und der genossenschaftlichen Produktion als »eine höhere Form des archaischen Eigentumstyps« lernen.
Saito zieht aus Marx’ Bewunderung für die russischen Agrarkommunen aber eine nicht belegbare Schlussfolgerung: Weil diese Kommunen in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung relativ statisch waren, sei Marx der Meinung gewesen, der Kommunismus könne ebenso auf Wachstum verzichten und eine auf ein stabiles Gleichgewicht ausgerichtete Ökonomie anstreben – wie es später dann von Malthusianern im 20. Jahrhundert wie Herman Daly vertreten wurde. Von dort kommt Saito dann zum doch sehr bemerkenswerten Schluss: »Marx’ letzte Vision des Postkapitalismus ist der Degrowth-Kommunismus.«
In einer anderen gewagten These behauptet Saito, da Marx seine Studien zur Ökologie im Geheimen betrieb, habe sein engster Freund und Mitarbeiter Engels nicht einmal gewusst, dass Marx zum »Degrowth-Kommunisten« geworden war. Sogar Engels’ eigene Aussage, Marx habe Engels’ stark historisch-materialistisch geprägten Texte wie den Anti-Dühring gelesen und gebilligt, weist Saito als unglaubwürdig zurück.
Auch hier ist die Annahme, der Brief von Marx an Sassulitsch sei ein Beleg für Marx’ Wende hin zum Degrowth-Kommunismus, nicht überzeugend. So betont Marx im ersten Entwurf des Briefes beispielsweise, dass in Russland der revolutionäre Übergang zum Kommunismus auf Basis der Kommune dennoch von der kapitalistischen Entwicklung der Produktivkräfte profitieren müsse: »Gerade auf Grund ihrer Gleichzeitigkeit mit der kapitalistischen Produktion kann sie sich deren positive Errungenschaften aneignen, ohne ihre furchtbaren Wechselfälle durchzumachen.« Weiter sagt Marx im Entwurf übrigens, das Gemeineigentum könne »den parzellierten Ackerbau allmählich durch eine kombinierte und mit Hilfe von Maschinen betriebene Landwirtschaft ersetzen, zu der die physische Beschaffenheit des russischen Bodens geradezu einlädt«.
Mit anderen Worten: Das russische Mir-System könnte die kapitalistische Entwicklung nur deshalb überspringen, weil die kapitalistische Entwicklung anderswo stattgefunden hatte – ähnlich wie es heute für viele Menschen in ärmeren Ländern üblich ist, Mobiltelefone zu haben, ohne dass sie vorher Festnetz oder gar Telegrafie genutzt hätten. An keiner Stelle der Briefentwürfe hat Marx angedeutet, dass die Menschheit als Ganzes einen nicht-kapitalistischen Weg zum Kommunismus hätte einschlagen können.
Außerdem: Wenn man Marx als den Sozialwissenschaftler behandelt, als den er sich selbst sah (und nicht als den Öko-Propheten, den Saito gerne aus ihm machen möchte), dann muss man seine Thesen und Argumentationen genauso behandeln wie die jedes anderen Normalsterblichen: Sie sind Hypothesen, die anhand von Beweisen in der realen Welt getestet werden müssen. In Russland stellten sich die geringe Größe der Arbeiterklasse sowie die technologische Rückständigkeit in der Bauernschaft später jedenfalls als das größte Hindernis für den Aufbau des sowjetischen Sozialismus heraus.
Nach der endgültigen Befreiung der Bauernschaft aus der feudalen Knechtschaft durch die Revolution von 1917 hatten die Bäuerinnen und Bauern keinerlei Anreiz, einen ausreichenden Überschuss zu produzieren, um die Arbeiterschaft in den Städten zu ernähren. Die bittere Prodraswerstka während des Bürgerkriegs, die Wiedereinführung von Märkten im Rahmen von Lenins Neuer Ökonomischer Politik sowie Joseph Stalins Zwangskollektivierung und die daraus resultierenden Hungersnöte waren alles unterschiedliche Versuche, diese Unterentwicklung zu überwinden. Die Geschichte zeigt, dass unabhängig davon, was Marx über das prä-sowjetische Mir-System dachte, das Überspringen historischer Entwicklungsstufen sich als unmöglich erwies.
Es sollte betont werden, dass Saito in seinem Degrowth-Kommunismus eine Vision des »Überflusses« präsentiert, der Sozialistinnen und Sozialisten nur zustimmen können: Dieser Überfluss wird vor allem als ein Mehr an freier Zeit für die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung definiert. Saito spielt aber herunter, wie zentral Marx’ Ansicht war, dass ein solcher Überfluss nur auf der Grundlage der massiven Revolutionen bei den Produktivkräften möglich war, die der Kapitalismus entwickelt und vorangetrieben hat – allen voran neue Technologie, die Arbeit spart.
Im Kapitalismus sind die Zugewinne aus jeglicher arbeitssparender Technologie fast ausschließlich den Eigentümern der Produktionsmittel vorbehalten. Im Betrieb bedeutet das: weniger Arbeiter für den gleichen Output (also niedrigere Kosten und höhere Gewinne) statt mehr Urlaub für die gleiche Anzahl von Arbeitern bei gleichem Output. Im Sozialismus könnte die Gesellschaft jedoch demokratisch entscheiden, ob dank technologischer Entwicklung mit der gleichen Anzahl von Arbeiterinnen und Arbeitern mehr Produktion in der gleichen Zeit erreicht wird – oder die gleiche Menge an Produkten in weniger Arbeitszeit. In jedem Fall müssen für die Entwicklung des Sozialismus diese arbeitssparenden Technologien aber entwickelt werden beziehungsweise worden sein.
Saitos Arbeit erscheint somit als krampfhafter Versuch, Marx und den Marxismus in eine Umwelt- und Degrowth-Ideologie der 1970er Jahre zu pressen. Um dies zu tun, muss akzeptiert werden, dass alles, was Marx und Engels in den 1840er Jahren gemeinsam geschrieben haben – von der Deutschen Ideologie bis hin zum Kommunistischen Manifest – sowie Engels’ populäre Texte in den 1870er und 1880er Jahren, das Resultat eines fehlerhaften prometheischen Marxismus ist. Alles, was dann noch übrigbleibt, sind recht eigenwillige Lesarten des Kapitals, einige spärliche Notizen Marx’, in denen unzusammenhängende Passagen aus Landwirtschaftstexten niedergeschrieben wurden, und der Brief an Vera Sassulitsch.
Dabei bietet der klassische Marxismus bereits ausreichende Erklärungen für die Beziehung zwischen Kapitalismus und Umweltproblemen. Es besteht keinerlei Notwendigkeit, den Marxismus durch ein fragwürdiges Durchstöbern einzelner Fußnoten und Notizen komplett zu ändern oder neu interpretieren zu wollen.
In der Warenproduktion ist das, was nützlich ist, nicht immer profitabel – und das, was profitabel ist, ist nicht immer nützlich. Wenn es profitabel ist, den Boden mit Nährstoffen zu versorgen, werden Kapitalisten dies tun; wenn nicht, werden sie es nicht tun. Jeder privatwirtschaftliche Produzent von Gütern, die ein Umweltproblem verursachen, hat einen Anreiz, sie weiter zu produzieren sowie gesetzlichen oder gesellschaftlichen Bemühungen entgegenzutreten, die ihn daran hindern könnten.
Deswegen betreiben Unternehmen, die auf fossile Brennstoffe setzen, starke Lobbyarbeit gegen Gesetze zur Emissionsreduzierung, finanzieren Klimawandelleugner und können sogar kriminell handeln. Es gibt keinen Anreiz für private Akteure, Technologien zu entwickeln oder zu produzieren, die zwar für die Gesellschaft von Nutzen wären, dabei aber unprofitabel (oder auch nur unzureichend profitabel) sind.
Wenn im Sozialismus jedoch eine Bedrohung der Ökosysteme durch eine bestimmte Technologie, Substanz oder Praxis entdeckt würde, liegt die Haupteinschränkung für die Abkehr von solchen Technologien nur darin, wie schnell neue Technologien entwickelt werden können, die den gleichen Nutzen, aber keinen Schaden bieten.
Es gibt aktuell mehrere Industriebranchen, die sowohl gesellschaftlich wichtig als auch kohlenstoffintensiv sind – beispielsweise die Aluminium- oder Zementproduktion – und für die wir bisher keine wirklich guten sauberen Alternativen haben (oder zumindest keine Alternativen, die die gesamte Branche abdecken könnten). Doch Märkte bieten meist keinen ausreichenden Anreiz für komplett neue Forschung und Entwicklung, um diese Probleme zu lösen. Eine sozialistische Gesellschaft wäre prinzipiell eher in der Lage, wirtschaftliche Kapazitäten für solche Innovationen bereitzustellen und die eigene Industriepolitik zu nutzen, um Innovationen möglichst schnell vom Labor zur breiten Anwendung zu bringen.
Hinzu kommt, dass Preismechanismen auf den Märkten nicht dazu beitragen, eine umfassende Koordination in der Wirtschaft zu erreichen. Das Ziel ist schließlich die Gewinnerzielung des eigenen Unternehmens und nicht die Lösung eines gesellschaftlichen Problems. Die Dekarbonisierung erfordert aber eine radikale Umstrukturierung der Elektrizitätserzeugung, des Verkehrs, der Industrie, der Landwirtschaft und der Bauwirtschaft mit ähnlichen Zeitplänen.
»Wenn wir einmal die Kontrolle über Produktions- und Investitionsentscheidungen erlangen, können wir uns tatsächlich dafür entscheiden, viele gesellschaftlich nützliche Produktionsformen auszubauen, sprich: wachsen zu lassen – und natürlich andere Formen zu ›degrowen‹.«
Die Einführung von Elektroautos und Wärmepumpen muss synchron mit dem Ausbau neuer sauberer Stromerzeugungskapazitäten erfolgen (sodass es weder zu viel noch zu wenig Kapazitäten gibt). Selbst wenn wir die Produktion von Erdöl für Verbrennungsmotoren einstellen, werden wir weiterhin ein gewisses Maß an Ölproduktion benötigen und können diese nicht von heute auf morgen abstellen; aber die Märkte haben Schwierigkeiten, einen Anreiz zu schaffen, um bei sinkender Nachfrage angemessene Förder- und Verarbeitungskapazitäten weiterhin aufrechtzuerhalten. Besonders auffällig dürfte das werden, wenn wir uns dem Ziel der Emissionsfreiheit annähern.
In diesem Kontext sprechen wir hier vor allem über den Klimawandel, doch ähnliche Diskrepanzen zwischen Marktanreizen und Problemlösung lassen sich bei allen Umweltproblemen beobachten. Tatsächlich tritt diese Schieflage zwischen Preisanreizen und gesellschaftlichen Werten bei praktisch allen Problemen auf (man erinnere sich beispielsweise an die mangelhafte Produktion und Verteilung von Schutzausrüstung wie Masken, die Bereitstellung von Beatmungsgeräten oder die Entwicklung und Produktion von Impfstoffen während der Pandemie).
Die Lösung für einen schnelleren und angemessenen Umgang mit einem neuen Problem ist daher die Abkehr von den Zwängen des Marktes und der Preise und die Hinwendung zu einer demokratischen Wirtschaftsplanung. Degrowth-Vertreter diagnostizieren das Kernproblem des Kapitalismus konsequent im »Wachstum«, während es in Wirklichkeit die fehlende gesellschaftliche Kontrolle über Produktions- und Investitionsentscheidungen ist. Wenn wir eine solche Kontrolle erlangen, können wir uns tatsächlich dafür entscheiden, viele gesellschaftlich nützliche Produktionsformen auszubauen, sprich: wachsen zu lassen – und natürlich andere Formen zu »degrowen«.
Solange Wirtschaftswachstum, egal ob kapitalistisch oder sozialistisch, für Umweltprobleme verantwortlich gemacht wird, dient Saitos neomalthusianische Ideologie den Kapitalisten als nützliche Ablenkung von der wahren Ursache für die Unfähigkeit, mit solchen Problemen angemessen umzugehen. Diese Ursache ist die Anarchie des Marktes. Die Lösung ist sozialistische Planung.
Bleibt die Frage: Welche gesellschaftliche Kraft, welche Gruppe wäre am besten geeignet, diese Befreiung herbeizuführen?
Letztendlich ist klar, dass die Frage, ob Karl Marx ein heimlicher »Degrowth-Kommunist« war, für unsere heutige politische Strategie keine große Rolle spielt. Die Schlüsselfrage sowohl für die klassischen Sozialisten als auch für Saitos Vision eines Degrowth-Kommunismus lautet: Welcher Akteur könnte tatsächlich die Veränderungen herbeiführen, die wir für notwendig halten, um den Klimawandel und andere (ökologische) Probleme anzugehen?
In Systemsturz bietet Saito im letzten Kapitel Die Klimakrise als Hebel seine eigene Sichtweise an, in der er lokale Initiativen wie das »Ausrufen des Klimanotstands« in Barcelona lobt, die ebenfalls Wachstum als Hauptschuldigen ausmachen (es überrascht nicht, dass Barcelona als Epizentrum des Degrowth-Denkens gilt). Saito spricht sich für ein urbanes Leben aus, in dem »lokale Produktion und lokaler Konsum« mit kleinen Arbeiterkooperativen die Wirtschaft bestimmen (aus einem Profil in der New York Times lernen wir, dass Saito selbst »rund einen Tag im Monat« auf einer Urban Farm gärtnert).
Für ihn geht es in erster Linie auch weniger um einen Klassenkampf zwischen Arbeiterschaft und Kapitalistenklasse, sondern um einen Kampf zwischen Weltregionen: »Sich verschlechternde Lebensbedingungen im globalen Süden sind eine Grundvoraussetzung des Kapitalismus, und das Verhältnis von Dominanz und Unterordnung zwischen Nord und Süd ist keine Ausnahme, sondern kapitalistischer Normalbetrieb.«
Auf die folgende Frage, wer genau im Globalen Norden Verantwortung trägt, verweist Saito eher auf sich und auf andere Arbeiter statt auf das Kapital: »Ohne die ausgebeuteten Arbeitskräfte und die geplünderten Rohstoffe des globalen Südens wäre unser Leben im Wohlstand unmöglich.« In Bezug auf die organisatorische Kraft, die wir für den notwendigen Wandel benötigen, blickt Saito auch weit über Japan hinaus auf Bauernorganisationen des Globalen Südens wie Via Campesina oder Initiativen für Ernährungssouveränität.
Das besagte letzte Kapitel liest sich wie eine Abhakliste mit Schlagwörtern der (weitgehend wirkungslos gebliebenen) Linken aus der Zeit um die Jahrtausendwende: Commons, Munizipalismus, gegenseitige Hilfe in der Community, horizontale Solidarität.
»Wenn Saito (und andere) die Arbeiterschaft im Globalen Norden abtun, setzen sie sich von einer entscheidenden Kraft ab, die sowohl an der Wahlurne als auch über Arbeitskämpfe eine schnellere Transformation vorantreiben kann.«
Die urbane Utopie mit kleinen Community-Gärten (die jüngsten Forschungsergebnissen zufolge sechsmal CO2-intensiver sind als die konventionelle Landwirtschaft), gegenseitiger Hilfe und öffentlichem Wohnungsbau mit Solarpanels auf den Dächern hört sich schön an – vor allem für Saitos vermutliche Leserschaft: kosmopolitische, hochgebildete, halbwegs gut situierte Städter. Auffallend ist jedoch, dass in diesem Kapitel und auch in den anderen beiden Saito-Büchern der zentrale Akteur einer marxistischen Politik, die Arbeiterklasse, kaum erwähnt wird und kaum eine Rolle spielt (in Systemsturz taucht der Begriff lediglich viermal am Rande auf).
Wenn Saito die Arbeiterklasse überhaupt erwähnt, dann oft mit Spott für diese Beteiligten an der »imperialen Lebensweise«. Dabei sind es die prekären Massen in der Arbeiterklasse (also die Menschen, die zu sehr ausgebeutet und überarbeitet sind, um Zeit für Urban Gardening zu finden), die die Mehrheit der Gesellschaft bilden – und somit die Basis für jede größere politische Bewegung zur Bekämpfung der Umwelt- und Klimakrisen.
Im abschließenden Kapitel von Systemsturz räumt Saito ein, dass die von ihm gelobten Bewegungen klein sind. Daher setzt er seine Hoffnung auf die sogenannte 3,5-Prozent-Theorie. Diese stammt aus einem Paper, in dem behauptet wird, dass für Bewegungen die Unterstützung von nur 3,5 Prozent der Bevölkerung ausreichen kann, um erfolgreich zu sein. Letztendlich hofft Saito einfach, dass sich mehrere, recht diverse Aktionen und Initiativen zu der einen weltverändernden Kraft addieren werden: »Ob das nun in Form einer Arbeiterkooperative, eines Schulstreiks oder ökologischer Landwirtschaft passiert, ist zweitrangig, Hauptsache, es wird gemacht.« Doch ist es wirklich so zweitrangig, so egal?
Die Arbeiterklasse als Ganzes muss die Basis für eine Massen-Umweltpolitik bilden. Doch wir brauchen auch eine gezielte Strategie, die einen ganz bestimmten Teil der Arbeiterschaft einbezieht, über den Saito so gut wie nichts sagt: die Arbeiterinnen und Arbeiter, die ein eigenes Interesse, gewisse Macht und ein tiefes Wissen haben über die Energie-, Rohstoff-, Transport-, Bau-, Infrastruktur- und Agrarsektoren, die transformiert werden müssen. Kurz: die Industriebeschäftigten, die diese Branchen aufbauen, betreiben und aufrechterhalten.
Sie haben ein besonderes Interesse daran, dass der grüne Wandel ein gerechter Übergang ist und dass niemand zurückgelassen wird. Die meisten Prognosen über die Menge an neuem, sauberem Strom, die für eine vollständige Dekarbonisierung der Weltwirtschaft erforderlich ist, liegen zwischen einer Verdopplung und einer Vervierfachung der derzeitigen Erzeugung. Zwar wird die Menge des aus der Erde geförderten Materials im Zuge der Dekarbonisierung höchstwahrscheinlich zurückgehen (allein schon aufgrund der gigantischen Masse an Kohle, die im Vergleich zu allen anderen Bodenschätzen derzeit gefördert wird), aber die Anzahl der geförderten Materialien sowie der Minenarbeiter wird voraussichtlich in die Höhe schnellen.
Solange es in den Bergwerken kämpferische Gewerkschaften gibt, die strenge Gesundheits- und Sicherheitsstandards, lokale Umweltschutzmaßnahmen und gute Löhne durchsetzen, ist dies ein großer Segen für die Arbeiter ebenso wie für die wirtschaftliche Entwicklung ihrer Gemeinden. Selbst in der Luftfahrt – der Branche, die nach der Zementproduktion wohl am schwierigsten zu modernisieren und zu »greenen« ist – sind mehr Fluglotsen, eine Umschulung von Piloten und Bodenpersonal in Bezug auf saubere Kraftstoffe, Batteriesicherheit und -wartung sowie eine Änderung der Flugpläne für Flugbegleiter wahrscheinlich ein guter Weg zu einer nachhaltigeren Flugbranche. Saito hält jedoch nichts von Gewerkschaften und bevorzugt stattdessen Arbeitergenossenschaften. Schließlich würden »die Gewerkschaften zum Zwecke der Steigerung der Produktivkräfte die Subsumtion unter das Kapital als gegeben akzeptieren«.
Der Fokus auf Industriearbeiter (einschließlich der vielen Buchhalterinnen, Hausmeister, Büroangestellten, Gepäckabfertigerinnen, Kantinen-Mitarbeitenden, Buchungsangestellten und Fahrer – und der bereits erwähnten Flugbegleiterinnen – die man auf den ersten Blick fälschlicherweise als Dienstleistungspersonal einstufen könnte) ist nicht auf eine maskulinistische Romantik zurückzuführen, sondern vielmehr auf eine rein strategische Prioritätensetzung. Es sind diese Arbeiterinnen und Arbeiter, die über das größte formale und implizite Wissen über die klimarelevanten Industriesysteme verfügen (oft auch deutlich mehr als die Managerinnen und Vorgesetzten). Daher wissen sie viel besser als die Heerscharen von Fachleuten in der Wissenschaft, grünen NGOs, Think-Tanks und Medien, welche Klimapolitik und welche Technologien in der Praxis wahrscheinlich funktionieren würden und welche vermutlich scheitern.
Vor allem aber haben sie die Macht, Forderungen nach Dekarbonisierung und einem gerechten Wandel in ihre Arbeitskämpfe einzubeziehen – und sie haben eine gewisse Stärke dabei, in Form von Streiks.
Um es ganz klar zu sagen: Damit sind alle Industriebeschäftigten an der vordersten Front des ökologischen Wandels gemeint – unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit oder der jeweiligen Weltregion; es geht nicht nur um »umweltgerechte Gemeinden«, nicht nur um indigene Völker und nicht nur um Arbeiterinnen und Arbeiter im Globalen Süden. Wenn Saito (und andere) die Arbeiterschaft und die Gewerkschaften im Globalen Norden aufgrund derer Beteiligung an einer »imperialen Lebensweise« lediglich als »Komplizen« bei der ökologischen Ausbeutung der Entwicklungsländer abtun, schneiden sie sich selbst ins Fleisch und setzen sich von einer entscheidenden Kraft ab, die sowohl an der Wahlurne als auch über Arbeitskämpfe eine schnellere Transformation vorantreiben kann.
Es ist ein grundlegender Irrtum zu glauben, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter im Globalen Norden die Menschen im Globalen Süden ausbeuten. Es ist nur eine Neuauflage der seit langem diskreditierten Theorie einer »Arbeiteraristokratie«, der falschen Vorstellung, dass Arbeiter in den Industrieländern von den »Superprofiten« bezahlt werden, die von den schlechter bezahlten Arbeitern in den Entwicklungsländern abgeschöpft werden.
Stattdessen gibt es vielmehr einen »Klassenkampf von oben«, einen Kampf des Kapitals gegen alle Arbeiterinnen und Arbeiter auf dem ganzen Planeten. All diese Arbeitenden haben viel gemeinsam und ein geteiltes Interesse am Kampf gegen die kapitalistische Herrschaft. Saito und andere leisten dem Kapital Schützenhilfe, wenn sie geografische Gräben schaffen oder vertiefen, entlang derer die internationale Arbeiterklasse gespalten wird.
Saitos Kritik ist darüber hinaus nach innen gerichtet und von Schuldgefühlen geprägt. Die ersten Seiten von Systemsturz sind übersät mit Hinweisen auf »unsere reiche Lebensweise« und unsere »äußerst attraktiven« Leben. Es ist klar, dass Saito sich selbst und seine Leserschaft als Teil des Problems sieht. Schließlich haben wir uns ja »zu Komplizen der imperialen Lebensweise gemacht«.
All dies aber – von den Grenzen der Märkte bis hin zum Einfluss und dem Wissen der Industriearbeiter sowie ihrer Macht, ihre Arbeitskraft zu entziehen – ist schnell als eine Ableitung der marxistischen Auffassung erkennbar, dass die Arbeiterklasse für politischen Wandel von zentraler Bedeutung ist.
Es besteht keine Notwendigkeit, dem Marxismus ein »Öko-« voranzustellen, um unsere aktuelle missliche Lage zu verstehen. Die Erklärungen des klassischen Marxismus und die darauf aufbauenden Rezepte zur Korrektur sind bereits ausreichend. Es besteht keine Notwendigkeit an sich, die Wirtschaft zu beruhigen, die technologische Entwicklung zu verlangsamen, die Produktion zu dezentralisieren, sich von der Globalisierung in seine lokale »Bioregion« zurückzuziehen, zu »angemesseneren« Technologien zu wechseln, auf »Megaprojekte« oder Extraktion zu verzichten oder eine »imperiale Lebensweise« oder einen »ökologischen Bruch« mit dem Rest der Natur (der nicht existiert) zu kritisieren.
Der Marxismus hat bereits eine hinreichende Erklärung für die Ursachen der Umweltprobleme; ein Rezept, wie man sie beheben kann; und eine Beschreibung, wer die Macht und das Interesse daran hat, solche Veränderungen herbeizuführen – ohne dabei jemals das sozialistische Projekt für die Befreiung aller Menschen aufzugeben.
Leigh Phillips ist Wissenschaftsjournalist und EU-Korrespondent. Er ist Autor des Buchs Austerity Ecology & the Collapse-Porn Addicts (Zero Books, 2015).