17. Mai 2023
Bei der bevorstehenden Stichwahl in der Türkei geht es um alles: Die prodemokratischen kurdischen Kräfte könnten den Autokraten Recep Tayyip Erdoğan nach 20 Jahren an der Macht aus dem Amt drängen.
Anhänger der Grünen Linkspartei (Yeşil Sol Parti) demonstrieren in Istanbul, 13. Mail 2023.
IMAGO / NurPhotoÜberall auf der Welt wachten die Menschen am Montag zu der Nachricht auf, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zwar knapp die absolute Mehrheit verfehlt hat, voraussichtlich aber noch fünf weitere Jahre an der Macht bleiben wird. In der ersten Wahlrunde am Sonntag erhielt Erdoğan 49,5 Prozent der Stimmen, während sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu 44,9 Prozent erzielte. Für den 28. Mai sind Stichwahlen angekündigt.
Die düstere Lage verdeutlicht, wie sehr die Demokratie in der Türkei geschwächt ist und wie stark die nationalistischen, rassistischen und rechtsextremen Stimmungen sind. Ein Hoffnungsschimmer kommt von der seit langem bedrängten Demokratischen Partei der Völker (HDP), die mit ihrem unnachgiebigen Kampf für fortschrittliche, demokratische Werte erneut ihre Widerstandsfähigkeit bewiesen hat.
Die HDP und die mit ihr assoziierte Grüne Linkspartei traten unter äußerst widrigen Bedingungen zu den Wahlen an, da das autokratische Regime alle staatlichen Institutionen sowie die Presse kontrolliert. Diese Schwierigkeiten wurden in einer gemeinsamen Erklärung von den Wahlbeobachtungsteams der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarats gut umrissen. Darin heißt es, dass die Wahlen am 14. Mai zwar »gut organisiert« waren und größtenteils friedlich verliefen, die Wählerinnen und Wähler jedoch durch die Kriminalisierung und Inhaftierung von HDP-Mitgliedern in ihrer politischen Wahlfreiheit eingeschränkt wurden.
Die Erklärung wies auch auf die von Erdoğan aufgestellten Barrieren hin, die die Opposition massiv einschränkten. So heißt es: »Die seit langem bestehenden Bedenken hinsichtlich der Achtung der Grundrechte auf Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit sowie der Unabhängigkeit der Justiz, die alle für einen demokratischen Prozess von zentraler Bedeutung sind, wurden in der Wahlperiode nicht berücksichtigt.«
Erdoğans regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die alle staatlichen Institutionen kontrolliert, hat gezielte Strategien angewandt, um vor allem die HDP aus dem Wahlkampf auszuschließen. Infolge des laufenden Parteiverbotsverfahrens ging die HDP nicht als eigenständige Partei ins Rennen, sondern musste vermittelt über die Grüne Linkspartei antreten. Sie tat dies, um der drohenden Gefahr einer Schließung durch einen politisch motivierten Gerichtsprozess zu entgehen – ein Schicksal, das bereits acht ihrer Vorgängerparteien ereilt hat.
Die Parteiorganisation der HDP war bereits durch die systematische Repression geschwächt, die seit 2016 ununterbrochen anhält und bei der über 15.000 Führungsfiguren und Mitglieder der Partei verhaftet wurden. Derzeit befinden sich mehr als 4.000 Mitglieder der HDP im Gefängnis. Die Grüne Linkspartei wurde sehr spät zu den Wahlen zugelassen, nämlich erst nachdem der Wahltermin bereits bekannt gegeben worden war. All dies ist Teil von Erdoğans ausgeklügelter Bemühung, uns eine faire Teilnahme am politischen Prozess zu verwehren.
Da ihrer politischen Struktur praktisch alle Ressourcen vorenthalten wurden, trat die Grüne Linkspartei unter ungleichen Bedingungen zu den Wahlen an. Die Wählerinnen und Wähler des linken Flügels konnten sich zwischen zwei Optionen entscheiden – der Grünen Linkspartei und der mit ihr verbündeten Arbeiterpartei der Türkei (TIP), die dem Bündnis für Arbeit und Freiheit angehört. Trotz allem zeigen die Ergebnisse, dass die HDP und ihr Block die Position, die sie bei der Wahl von 2018 erobert hatten, auch diesmal halten konnten.
Die HDP hat mit der Grünen Linkspartei erneut ihre Stellung als drittstärkste Kraft sowohl im Parlament als auch in der Gesellschaft behauptet. Millionen von Bürgerinnen und Bürgern in der Türkei haben uns ihr Vertrauen geschenkt, den Kampf gegen Autokratie und Unterdrückung fortzusetzen und eine demokratische und friedliche Lösung der Probleme des Landes zu fordern. Diese Mission müssen wir jetzt fortsetzen.
Systematische Offensive
Wären die politischen Bedingungen in der Türkei demokratisch und fair, hätte die HDP mit der Unterstützung von mehr als 4.000 inhaftierten Funktionärinnen und Funktionären, ehemaligen Vorsitzenden, Abgeordneten, Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern und Mitgliedern in den Wahlkampf ziehen können. Sie wäre nicht von den türkischen Medien ausgeschlossen worden und hätte ihre Ideen unter gleichen Bedingungen in der Gesellschaft zur Diskussion stellen können. Dies hätte zu einem ganz anderen Ergebnis führen können, und zwar zu einem Alptraumszenario für Erdoğan.
Die Präsidentschaftswahlen selbst fanden unter bemerkenswerten Bedingungen statt. Die HDP und ihr Block unterstützten den Oppositionskandidaten Kılıçdaroğlu von der Republikanischen Volkspartei (CHP), der von allen Medien und staatlichen Plattformen ausgeschlossen war. Mit dieser Hilfe gelang es ihm zumindest, eine Stichwahl gegen Erdoğan zu erzwingen. In diesem Sinne hat der Mythos der Unbesiegbarkeit des Präsidenten wirklich einen Schlag erlitten. Dies ist sein schlechtestes Wahlergebnis.
Jetzt können wir nur hoffen, dass die Menschen in der Türkei trotz aller Manipulation durch nationalistische und religiöse Rhetorik im zweiten Wahlgang nicht erneut einen Mann wählen werden, der ihrem Land so großen Schaden zugefügt hat. Sollte Erdoğan tatsächlich Präsident bleiben, würde das der Bevölkerung nur noch mehr belasten und das Land in eine noch undemokratischere Zukunft führen.
Die Türkei hat in ihrer hundertjährigen Geschichte alle Arten von Herrschaft erlebt: vom säkular-nationalistischen Kemalismus der oppositionellen CHP über Islamismus, Putsche und Militärdiktatur bis hin zu dem zunehmend islamistischen und nationalistischen Autoritarismus Erdoğans. Das Einzige, was noch nicht versucht wurde, ist eine konsequente Demokratie.
Jetzt und in den kommenden Jahren muss die Türkei ihre Ängste überwinden und sich trauen, demokratisch zu sein. Die wichtigsten Inspirationsquellen sind in dieser Hinsicht die HDP und die Grüne Linkspartei sowie der breitere politische Ansatz der kurdischen Freiheitsbewegung. Abseits des Machtkampfes zwischen Erdoğans islamistisch-nationalistischem Block und dem säkular-nationalistischen Block, der ihm gegenübersteht, bleiben wir die wichtigste Kraft, die für Demokratie und eine echte Alternative in der Türkei kämpft. Dies ist eine Alternative, in der Frauen, verschiedene Völker und religiöse Gruppen, also alle Bürgerinnen und Bürger in Frieden zusammenleben können. Nach dem vorläufigen Wahlergebnis zu urteilen, werden unter den 63 Abgeordneten der Grünen Linkspartei 31 Frauen sein. Das zeigt, dass wir es mit diesen Werten ernst meinen.
Hätte der autoritäre, nationalistische und patriarchale Erdoğan nicht das ganze letzte Jahrzehnt damit verbracht, die fortschrittliche Opposition systematisch zu liquidieren, sähe die Situation heute ganz anders aus. Das endgültige Ergebnis wird sich aber erst nach dem zweiten Wahlgang am 28. Mai zeigen. Noch ist nichts entschieden.
Devriş Çimen ist Repräsentant der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Europa.