05. Februar 2024
Europas Mitte-Politiker übernehmen kurz vor der Europawahl immer mehr rechte Standpunkte zu diversen Themen, von Klima bis Migration. Doch die erhoffte Wende in den Umfragewerten bringt das bisher nicht.
Parteitag der europäischen Liberalen (ALDE) in Bucharest, 20. Oktober 2023
Schon vor den Wahlen zum Europäischen Parlament Anfang Juni hat die EU offenbar ihre Mitte verloren: Es scheint, dass das liberale »Zentrum« [im EU-Parlament in Form der Fraktion Renew Europe] nicht mehr das Zünglein an der Waage sein kann.
Den jüngsten Beweis, dass es diese Mitte nicht mehr gibt, erbrachte kürzlich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Seinem Versprechen, die radikale Rechte zu besiegen, ließ er wenig später ein Einwanderungsgesetz folgen, für dessen Verabschiedung er sich auf die Stimmen der Rassemblement National verlassen musste. Sei es wegen seiner neoliberalen Politik, einer mit rechter Propaganda vermischten Rhetorik oder auch wegen solchen offenen Schulterschlüssen mit der radikalen Rechten: Macron hat den Weg für Marine Le Pen geebnet, ihm als künftige Präsidentin nachzufolgen. Ähnliches lässt sich über die niederländische Schwesterpartei VVD sagen, die sich dem Anti-Migrationspolitiker Geert Wilders anbiedert.
Das Paradoxe dabei ist, dass sich die Liberalen als Brandmauer gegen Rechts stilisieren, faktisch aber als Trojanisches Pferd für deren Einfall in den Mainstream dienen. Mehrere der einflussreichsten Mitte-Parteien und -Regierungen in Europa befördern die Normalisierung der radikalen Rechten. Einige übernehmen sogar direkt rechte Propaganda. Bei explizit antisozialer oder klimaschädlicher Politik der vergangenen Monate und Jahre hatten liberale Parteien wie die deutsche FDP stets ihre Finger im Spiel.
Sicherlich befürworten nicht alle liberalen Kräfte eine rechte Programmatik. Doch gerade dieser innere Widerspruch könnte zur Implosion der liberalen Fraktion im Europäischen Parlament führen. Die Anzeichen für eine solche Spaltung sind heute schon sichtbar – und es gibt sicherlich einige, die genau darauf hoffen.
»Wir dürfen nicht in die Falle der Populisten oder der Extremisten tappen«, sagte Macron bei seiner vielbeachteten Rede an der Sorbonne im September 2017. Vielmehr müsse man »das europäische Projekt neu begründen durch und mit den Völkern, mit einem politischen Anspruch, der viel stärker ist als eine einfache Entscheidungsfrage«. Frankreichs Präsident hat beide Versprechen nicht einhalten können: er hat weder den Aufstieg der radikalen Rechten gestoppt noch zu einer Kultivierung der Demokratie in Europa (oder auch nur in seinem eigenen Land) beigetragen. Stattdessen konnte Le Pen bei den beiden Wahlen in Frankreich 2022 – zunächst bei der Präsidentschaftswahl und dann bei der Wahl zur Nationalversammlung – sowohl die Stimmenzahl als auch die Präsenz ihrer Partei in den französischen Institutionen steigern.
Trotz aller Enttäuschung und Frustration stimmten viele linke Wählerinnen und Wähler bei der Stichwahl der Präsidentenwahl für Macron. Er selbst hat dies öffentlich eingeräumt. Leider handelte es sich dabei offensichtlich um eine Einbahnstraße: denn die Nationalratswahlen werden ebenfalls in zwei Runden abgehalten; als es dann darum ging, sich zwischen der Linken (dem Bündnis Nouvelle Union Populaire Écologique et Sociale, NUPES) und der radikalen Rechten zu entscheiden, zogen viele prominente Macron-Anhänger es vor, sich ihrer Stimme zu enthalten, anstatt die Rassemblement National zu stoppen. Die selbst ernannten Liberalen präferierten es also, die Linke – die eine echte Alternative zu ihrer neoliberalen Politik darstellt – zu dämonisieren, anstatt ihr Versprechen einzuhalten, die Rechte zu stoppen.
»Es ist wirklich bemerkenswert, wie der viel gepriesene ›Antipopulist‹ Macron zum großen Förderer der radikalen Rechten wird.«
Es gebe »keinen cordon sanitaire«, also keine Brandmauer mehr, frohlockte Kévin Mauvieux, einer der aktuell 89 Abgeordneten der Le Pen-Partei im französischen Parlament, im Juli 2022. Einen Monat zuvor war ein Foto im Elysée-Palast entstanden, auf dem Präsident Macron der RN-Chefin die Hand schüttelt, nachdem er ihre Bereitschaft zur Beteiligung an einer »Regierung der nationalen Einheit« ausgelotet hatte. Dieser Händedruck am 21. Juni 2022 ist nur ein Beispiel für die erstaunlich entspannte Beziehung zwischen den beiden. In jedem Fall ist es Le Pen gelungen, zwei Mitglieder ihrer Partei, Sébastien Chenu und Hélène Laporte, zu Vizepräsidenten der Nationalversammlung wählen zu lassen – und zwar in einer Abstimmung, bei der diese auf die Stimmen der Mitglieder von Macrons Partei angewiesen waren.
Es ist wirklich bemerkenswert, wie der viel gepriesene »Antipopulist« Macron zum großen Förderer der radikalen Rechten wird. Dabei ist Frankreich keineswegs ein Einzelfall. Im Oktober 2022 wurden beispielsweise die schwedischen Liberalen (Liberalerna) Teil des Regierungskabinetts des Konservativen Ulf Kristersson. Diese Regierungskoalition baut auf die Unterstützung oder zumindest Duldung der sogenannten Schwedendemokraten. Auch hier zeigt sich, dass es kaum noch Berührungsängste gegenüber den Rechten gibt.
Der Rechtsruck bei Europas Liberalen zeigt sich jedoch nicht nur in ihren (informellen) Partnern und der Akzeptanz rechter Positionen. Vielmehr gleichen sie sich auch inhaltlich an. Während liberale Parteien einst auf EU-Ebene als moderat galten und für einen Konsens gegen nationalistische »Souveränisten« und Euroskeptiker standen, soll ihr politisches Überleben nun gesichert werden, indem sie rechte Positionen übernehmen und salonfähig machen.
Das zeigt sich beispielsweise in den Niederlanden. Geert Wilders war einst der Inbegriff dessen, was ein europäischer Liberaler verabscheuen würde: Islamfeindlich, ausländerfeindlich, geradezu allergisch gegen Diversität und darauf erpicht, die Niederlande aus der Europäischen Union herauszuführen. Er kann auch als ein Vorläufer von Donald Trump gesehen werden, dessen aggressiven Populismus er in gewisser Weise bereits vorwegnahm. Wilders’ Identitätspolitik wird mit einem ungezügelten Neoliberalismus kombiniert – eine für die radikale Rechte typische Haltung. Im Wahlkampf im vergangenen Herbst versprach Wilders einmal mehr, die Steuern zu senken und Zuschüsse für Kunst und Kultur zu streichen. Diese neoliberale Agenda kann gewisse Affinitäten und Überlappungen mit der liberalen Sphäre erklären. Bis vor Kurzem war sie aber nicht ausreichend, um Typen wie Wilders zu normalisieren.
»Es ist inzwischen offensichtlich, dass Macron nicht das Bollwerk gegen die radikale Rechte ist, sondern dass seine Partei vielmehr die Rechte geworden ist.«
Doch bereits vor den Wahlen im November, die der niederländische Trump für sich entscheiden konnte, hatte die VVD-Vorsitzende Dilan Yeşilgöz-Zegerius (die den Posten vom scheidenden Ministerpräsidenten Mark Rutte übernahm) erklärt, sie sei auch zum Dialog mit Wilders’ rechter Partei bereit.
»Als Wendepunkt auf Geert Wilders’ Weg zum Wahlsieg (und vielleicht sogar zur Regierungsübernahme) gilt heute die Entscheidung der Vorsitzenden der konservativ-liberalen Partei VVD, Wilders’ Partei die Tür als Koalitionspartner zu öffnen«, schreibt der niederländische Politikwissenschaftler Cas Mudde. »In diesem Moment dachten viele Wählerinnen und Wähler, dass sie genauso gut für Wilders wie für die VVD stimmen könnten.« Mudde zieht daraus den Schluss, dass liberal-demokratische Werte »eher bekräftigt denn als gegeben angenommen« werden müssten. Diese Werte sollten verteidigt werden gegen »den radikalisierten politischen Mainstream, der [die extreme Rechte] weitgehend normalisiert hat«.
Diese Normalisierung bringt uns zurück zu Macrons Regierungstruppe: 2021 bezeichnete der französische Innenminister Gérald Darmanin Marine Le Pen als »zu soft« gegenüber dem Islam. Nun haben die französische Regierung, der Präsident und seine Renaissance-Partei ein neues Einwanderungsgesetz vorgelegt, dessen Inhalt so sehr von rechtsextremer Propaganda durchdrungen ist, dass Le Pen es (durchaus berechtigt) als ihren eigenen »ideologischen Sieg« betrachtet. Die Abgeordneten der Rassemblement National stimmten nicht nur für den Gesetzesentwurf der Regierung – ihre Unterstützung war sogar entscheidend für dessen Verabschiedung.
Die Prognose des European Council on Foreign Relations für die EU-Parlamentswahlen 2024 zeigt, wie hart diese Wahl für die liberale Renew-Fraktion werden dürfte. Nach aktuellem Stand würde sie demnach nur noch 86 statt bisher 101 Sitze im 720-köpfigen Parlament erhalten. In Frankreich würde die Rassemblement National als Siegerin hervorgehen und von 23 auf 25 Sitze zulegen, während die liberale Renaissance-Koalition von Macron von 23 auf 18 Sitze zurückfällt. Diese Vorhersagen erklären zumindest teilweise Macrons jüngste Schritte.
Die Ernennung von Gabriel Attal zum neuen Premierminister im Januar muss entsprechend als Versuch gewertet werden, den Wählerinnen und Wählern die Illusion zu verkaufen, dass sich die liberalen Erfolge der Vergangenheit wiederholen lassen. Attal begann seine politische Karriere in der Sozialistischen Partei und gilt als charismatische Persönlichkeit, die in der französischen Bevölkerung recht beliebt ist. Der neue Premier soll versuchen, weiterhin den zentristischen Ansatz zu verfolgen, der schon bei Macron zu Beginn seiner Amtszeit funktioniert hatte. Man kann Attal tatsächlich als Macron-Klon bezeichnen, aber wir befinden uns eben nicht mehr im Jahr 2017: Es ist inzwischen offensichtlich, dass Macron nicht das Bollwerk gegen die radikale Rechte ist, sondern dass seine Partei vielmehr die Rechte geworden ist.
Die neoliberale Agenda, wie sie zum Beispiel in der unpopulären Rentenreform zum Ausdruck kam, geht bei den französischen Liberalen mit einem zunehmend illiberalen Demokratieverständnis einher. So hat Innenminister Darmanin zwar dafür gesorgt, dass die Polizei die Traktoren bei Bauern-Demos eskortierte, im Gegenzug aber keine Sekunde gezögert, Klima- und Sozialproteste gewaltsam zu unterdrücken. Um die Anhebung des Renteneintrittsalters durchzusetzen, hat die Regierung alle ihr zur Verfügung stehenden Hebel in Bewegung gesetzt – zum Schaden der sozialen und demokratischen Stabilität Frankreichs. Ebenso hat die sogenannte liberale Regierung (allen voran Darmanin) Umweltorganisationen – »Ökoterroristen«, wie der Minister sie nennt – und Menschenrechtsverbände, darunter die traditionsreiche Menschenrechtsliga (Ligue des droits de l‘homme), kriminalisiert.
Entgegen der inzwischen bekannten Tendenz des französischen Präsidenten, seine vermeintlichen Prinzipien zu verschleiern und beliebig zu ändern, weist seine neoliberale Agenda eine gewisse Kohärenz auf, mit der er sowohl der Rechten als auch anderen wichtigen Parteien der liberalen EU-Parlamentsfraktion nahesteht.
Die deutsche FDP ist eine dieser Parteien. Deren Vorsitzender Christian Lindner ist mit seinem Sparkurs im deutschen Finanzministerium auch einer der Hauptverantwortlichen dafür, dass die Reform des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts vermutlich deutlich verwässert wird. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist ein [der deutschen Schuldenbremse ähnliches] Regelwerk, das die staatlichen Ausgaben begrenzt – und damit den allgemeinen Wohlstand untergräbt. Der Europäische Gewerkschaftsbund warnt bereits, dass »die EU-Mitgliedstaaten gezwungen sein könnten, ihre Haushalte im kommenden Jahr um mehr als 100 Milliarden Euro zu kürzen, wenn der Europäische Rat erneut Sparmaßnahmen einführt«.
»Der cordon sanitaire, die Brandmauer nach rechts wurde sukzessive abgebaut.«
Wenn der neue Pakt tatsächlich solche harten Sparmaßnahmen vorsieht und die EU somit weiterhin von Austeritätspolitik geprägt wird, so ist dies vor allem ein Verdienst der deutschen Liberalen. Darüber hinaus hat Lindners Partei es Macron gleichgetan und mehrere wichtige ökologische Dossiers in der EU blockiert (beispielsweise mit ihrer Forderung, dass Atomkraft und Gas in der sogenannten EU-Taxonomie als »grüne Energien« eingestuft werden).
Der EU Green Deal – der zum Lieblingssündenbock der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP) und der radikalen Rechten geworden ist – ist ein guter Lackmustest für die labile Einigkeit der liberalen Fraktion im EU-Parlament. Im Juli 2023 testete EVP-Chef Manfred Weber (von der bayerischen CSU) bereits die Möglichkeit, eine breite rechte Mehrheit in Brüssel zu bilden, indem gemeinsam das sogenannte »Nature Restoration Law« angegriffen werden sollte. Der finnische liberale Europaabgeordnete Nils Torvalds sagte mir gegenüber, er selbst habe im Zuge dessen »den Rubik-Cube lösen« müssen – also eine ausgeklügelte Strategie fahren müssen, um einen Kompromissvorschlag zu finden, mit dem die Liberalen Weber ihre Unterstützung verweigern würden. In diesem Fall wurde der Rubik-Cube gelöst, der Vorschlag abgelehnt und Weber besiegt. Dennoch zeigt sich, dass es bei Renew gerade in Klimafragen zu Spaltungen kommen kann.
2017 hatte Macron seine Partei (auch auf europäischer Ebene) als ein zentristisches »Sammelbecken« präsentiert, das »sowohl links als auch rechts« sein sollte. Es wäre aber naiv zu glauben – wie Macron es uns nach wie vor weismachen will – dass wir uns heute noch in der gleichen Situation befinden wie vor sieben Jahren. Der cordon sanitaire, die Brandmauer nach rechts wurde sukzessive abgebaut; die Liberalen flirten heute mit dem Illiberalismus und der (radikalen) Rechten.
Nach den Wahlen im Juni werden wir die wahre Natur der liberalen EU-Parlamentsfraktion begutachten können. Und angesichts der internen Spannungen ist nicht ausgeschlossen, dass wir auch ihrer Implosion beiwohnen.
Francesca De Benedetti schreibt für die italienische Zeitung Domani über EU-Themen sowie für Vanity Fair Kolumnen zu europäischer Politik. Sie ist Mitbegründerin des internationalen Newsletters European Focus. Ihre Artikel über italienische Politik erschienen unter anderem bei Libération, Balkan Insight, dem International Press Institute und anderen internationalen Medien.