23. Dezember 2024
Die Linke steckt in einem Dilemma: Sie ist im Umfragetief, aber als mögliche Partnerin von Regierungen gefragt. In solchen Konstellationen bleibt der Partei kaum Raum für echte Gestaltung – und das hat sie in der Vergangenheit immer wieder geschwächt. Wenn sie wieder an Kraft gewinnen will, muss sie daraus Konsequenzen ziehen.
Die Zukunft der Linken hängt auch davon ab, wie klar sie sich von den linksliberalen Parteien unterscheidet (Symbolbild).
Die Linke steckt derzeit in einer paradoxen Situation. Mit um die 3 Prozent in Umfragen ist sie so schwach wie lange nicht mehr und ihre Existenz als Parlamentspartei steht infrage. Und doch bietet sich ihr vermehrt die Möglichkeit, sich an Regierungen zu beteiligen. Die Schwäche der ehemaligen Volksparteien CDU und SPD, die für die Bundesrepublik historisch ungewohnte Situation eines sich immer mehr ausdifferenzierenden Parteiensystems und der Aufstieg neuer Parteien wie der Alternative für Deutschland (AfD) und dem Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) führen zu neuen Konstellationen, in denen man für Mehrheiten auch auf die Linke angewiesen sein könnte. So konnten die Ministerpräsidenten Mario Voigt (CDU) in Thüringen und Michael Kretschmer (CDU) in Sachsen schlussendlich nur mit Stimmen und Duldung der Linksfraktionen in diesen Bundesländern ihr Amt antreten.
Dies gilt, je nach Wahlergebnis für die Wahl im Februar 2025, möglicherweise auch für die Regierungsbildung auf Bundesebene. Erste vereinzelte Stimmen aus dem linksliberalen Medienspektrum spekulieren bereits über eine Regierungsbeteiligung der Linken als Mehrheitsbeschafferin in einem progressiv-neoliberalen Projekt als Alternative zur Großen Koalition unter Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU). Die Analyse des Politikwissenschaftlers Jan Schlemmermeyer, der eine Dialektik der Krise der Linken diagnostizierte, die Chancen für eine »Gestaltungsmacht auch auf Bundesebene« bereithält, scheint sich oberflächlich betrachtet zu bewahrheiten.
In der Partei die Linke ist, wie auch in der Vorgängerparteien PDS und der WASG, die Frage der Regierungsbeteiligung stark umstritten. Auf der einen Seite treten Sozialreformerinnen für einen pragmatischen Kurs ein und bemühen sich regelmäßig darum zu beweisen, dass die Linke »regierungsfähig« ist. Auf der anderen steht die Parteilinke, die die Rolle einer sozialistischen Partei primär in der Opposition sieht und Reformen zur Verbesserung des Alltags für die arbeitende Klasse vor allem über Druck auf die jeweiligen Regierungen erreichen möchte.
Bisher konnten sich die Reformer trotz des Streits über Möglichkeiten zur Regierungsbeteiligung fast immer durchsetzen. Neben den Hoffnungen auf einen sozialen wie gesellschaftlichen Fortschritt, der mit einer linken Regierungsbeteiligung potenziell verbunden sein könnte, dürften auch die individuellen Karriereaussichten als Minister, Staatssekretärin oder in der Ministerialbürokratie eine Rolle spielen. Auch der ehemalige Parteivorsitzende Martin Schirdewan ist Vertreter des rechten Reformerflügels und möchte die Linke »als sozialistische Gestaltungspartei aufstellen«. Er sieht die Perspektive der Linken darin, »konkrete Reformprojekte [zu] entwickeln«.
»150.000 landeseigene Wohnungen, 3.000 landeseigene Grundstücke und Betriebe wurden privatisiert und verkauft. Die Bezirke wurden in eine destruktive Konkurrenz um die besten Einsparpotenziale gedrängt. Von sozialistischer Gestaltung konnte in Berlin keine Rede sein.«
Doch wie soll die Linke angesichts ihrer historischen Schwäche Reformprojekte entwickeln und durchsetzen, die der Zuschreibung »sozialistisch« gerecht werden? Im besten Fall verbleiben die linken Projekte im Rahmen sozialdemokratischer Reformpolitik. In manchen Fällen handelt es sich nur um zeitlich begrenzte Finanzierungszusagen, die mit einem Federstrich aus dem Haushalt der nachfolgenden Regierung wieder gekürzt werden können. Wenig davon wird dann in der arbeitenden Klasse als eine merkbare Verbesserung des eigenen Alltags wahrgenommen und mit dem Einfluss einer Linken in der Regierung verbunden. Im schlechtesten Fall ist die Linke gezwungen, im Rahmen von Kompromissen oder systemischen Zwängen Politik mitzutragen, die der Idee sozialistischer Politik fundamental widerspricht. Dieser Verrat an den eigenen Idealen verankert sich im kollektiven Gedächtnis derjenigen, für die die Partei eigentlich Politik machen will.
Ein abschreckendes Beispiel dafür war das rot-rote Projekt in Berlin von 2001 bis 2011. Unter dieser Koalition kam es aufgrund der durch die Berliner Bankenkrise verursachten finanziellen Notlage zum beispiellosesten Ausverkauf der Stadt. 150.000 landeseigene Wohnungen, 3.000 landeseigene Grundstücke und Betriebe wurden privatisiert und verkauft. Die Bezirke wurden in eine destruktive Konkurrenz um die besten Einsparpotenziale gedrängt. Von sozialistischer Gestaltung konnte in Berlin keine Rede sein.
Die Politik der PDS war von dem Bemühen geprägt, »das schlimmste zu verhindern«. So spielte die Partei in Berlin die Rolle einer konstruktiven Mitgestalterin des Sozialabbaus und der neoliberalen Sparpolitik. Zwar gibt es dafür aus dem politischen Zentrum bis heute Respektsbekundungen für diesen Pragmatismus, doch hat die Partei ihr damaliges Wahlergebnis von 22,6 Prozent der Stimmen in 2001 in Berlin nie wieder erreicht. Die Rekommunalisierungen zwischen 2016 und 2021 in der Koalition mit SPD und Grünen haben die Verkäufe öffentlichen Eigentums unter Rot-Rot noch lange nicht kompensiert. Das linke Reformprojekt des Mietpreisdeckels, dass als ein Projekt mit Strahlkraft in dieser Koalition von der Linken durchgesetzt werden konnte, ist vor dem Bundesverfassungsgericht aus formaljuristischen Gründen gescheitert.
Ebenfalls wenig eindrucksvoll sieht die Bilanz der Regierungsbeteiligung der Berliner Linken ab 2021 bis zur Wahlwiederholung der Berliner Abgeordnetenhauswahl 2023 aus. Als Preis für die Regierungsbeteiligung stimmte die Linke unter der Führung von Klaus Lederer und Katina Schubert zu, den erfolgreichen Volksentscheid Deutsche Wohnen und Co enteignen in eine Expertenkommission zu verschieben. Die Kampagne Deutsche Wohnen und Co enteignen war ein konkretes, massenwirksames und praktisches Beispiel für sozialistische Politik. Die Expertenkommission, die die kurzlebige Rot-Grün-Rote Regierung einsetzte, sorgte jedoch für eine Entpolitisierung der Vergesellschaftungsfrage. Ihr in nichtöffentliche Sitzungen erarbeitetes Gutachten fiel zwar weitestgehend im Sinne der Kampagne aus, doch inzwischen spricht niemand in Berlin mehr über Vergesellschaftung und die öffentliche Wirkung des Gutachtens ist gleich null.
Insgesamt kann man nicht behaupten, dass eine linke Regierungsbeteiligung völlig wirkungslos wäre. Immer wieder gab es kleinere konkrete Verbesserungen, die sich durchsetzen ließen. Doch verbleiben die Reformen im Bereich der klassischen Sozialdemokratie. Keine der bisherigen Regierungsbeteiligungen hat die Kräfteverhältnisse nachhaltig und langfristig nach links verschoben. Und keine der bisherigen Regierungsbeteiligungen der Linken ist im kollektiven Gedächtnis als eine Regierung hängengeblieben, die den Status quo in Frage stellt.
Leider ist sogar das Gegenteil der Fall. Eine linke Regierungsbeteiligung demobilisiert progressive gesellschaftliche Bewegungen, weil Die Linke als Bündnispartner ausfällt. Wäre der Ausverkauf Berlins so möglich gewesen, wenn die PDS in der Opposition den Widerstand dagegen mitorganisiert und ihr einen parlamentarischen Ausdruck gegeben hätte? Doch auch in anderen Fällen ist das Ergebnis nahezu jeder Regierungsbeteiligung ein schrumpfender Stimmenanteil bei der nächsten Wahl. Deutlich machen könnte man dies an den Ergebnissen der PDS/Linken in Brandenburg, die auch über eine zehnjährige Regierungsbeteiligung ihre Stimmenanteile von 28 Prozent im Jahr 2004 auf 3 Prozent im Jahr 2024 heruntergewirtschaftet hat. Selbst in Thüringen, wo Die Linke mit Bodo Ramelow seit 2015 einen Ministerpräsidenten stellte und 2019 noch vom Amtsbonus dieses Postens profitieren konnte, musste Die Linke 2024 letztlich einen Verlust von über 17,9 Prozent der abgegebenen Stimmen verkraften.
»Noch unrealistischer, ja geradezu naiv ist es, sich Einfluss dadurch zu versprechen, dass man einer CDU-geführten Minderheitsregierung mit den eigenen Stimmen ins Amt verhilft.«
Egal ob auf Bundes- oder Landesebene: Im Bündnis mit den Grünen oder der SPD, der deutsche Version des progressiven Neoliberalismus, sind die Schnittmengen für sozialistische Politik schlicht nicht vorhanden. Hier ist allein eine progressive Politik in kulturellen Bereichen möglich, wie etwa die Durchsetzung von liberalen Antidiskriminierungsprogrammen, bestenfalls gepaart mit Umverteilung im kleinen Rahmen. Jede Regierungsbeteiligung auf Landesebene ist in ihren Möglichkeiten durch die Rahmenbedingungen des neoliberalen Staates immer begrenzt. Die Steuerpolitik und die Bundesgesetze beschränken die Landespolitik ebenso wie die Schuldenbremse. Der Gestaltungsspielraum wäre selbst mit einer absoluten Mehrheit auf Landesebene klein. Als kleinster Partner in einer Koalition ist der Gestaltungsspielraum nur noch symbolisch vorhanden. Noch unrealistischer, ja geradezu naiv ist es, sich Einfluss dadurch zu versprechen, dass man einer CDU-geführten Minderheitsregierung mit den eigenen Stimmen ins Amt verhilft.
Eine Regierungsbeteiligung auf Bundesebene wiederum würde bedeuten, dass Die Linke sich zur EU und NATO bekennen sowie weitere unausgesprochene Glaubenssätze des politischen Zentrums bejahen müsste. Dies wird von den Parteien des Zentrums auch immer wieder so gefordert. Die erkennbaren Bemühungen mancher Reformerinnen und Reformer, in diesen Fragen Aufweichungen der Positionen der Partei und eine Annäherung an den Konsens des liberalen Zentrums zu erreichen, hängen mit dem Bestreben zusammen, »regierungsfähig« zu erscheinen. Darunter fällt neben dem grundsätzlichen Bekenntnis zur kapitalistischen Marktwirtschaft, zur Eigentumsordnung und zu den Bündnissen EU und NATO auch die als »Staatsräson« bekannte unkritische Haltung gegenüber Israel, seinen Kriegsverbrechen im Gazastreifen und dem Besatzungsregime im Westjordanland sowie die Bejahung eines autoritären Anti-Antisemitismus. Hier steht das eigene Selbstverständnis zur sozialistischen Grundpositionen in Frage. Die Linke würde sich den bestehenden linksliberalen Parteien SPD und Grünen weiter angleichen und sich selbst überflüssig machen. Für eine zweite Sozialdemokratie oder noch eine grüne Partei ist kein Platz im deutschen Parteiensystem.
Bereits im vergangenen Bundestagswahlkampf kam die Linke nur über die Grundmandatsklausel in den Bundestag, weil sie nur 4,9 Prozent der Zweitstimmen erreichte. Bei der Europawahl hat sie lediglich 2,7 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten. Das 2023 aus den Reihen der Linken gegründete BSW wächst auf Kosten der Linken und der SPD und konkurriert mit Ihr um ihre ehemaligen Wählerinnen und Wähler. Angesichts dieser Gemengelage erscheint es schwer, über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen und auch die Strategie mit Direktmandaten wieder über die Grundmandatsklausel in den Bundestag einzuziehen, ist ambitioniert.
Die Existenzkrise der Partei lässt vorerst die verschiedenen Flügel der Partei zusammenrücken und die inhaltlichen Streitpunkte, das Verhältnis von Antikapitalismus und pragmatischer Reformpolitik, Außenpolitik zwischen Bekenntnis zur NATO und Antiimperialismus, Regierungsbeteiligung oder revolutionäre Realpolitik, außen vor. Stattdessen konzentriert man sich darauf, die Chancen für einen gemeinsamen Wiedereinzug in den Bundestag zu erhöhen und Einigkeit zu demonstrieren.
Und doch ist gerade die Debatte über die Regierungsbeteiligung immer präsent. »Alle wollen Regieren. Wir wollen verändern«, lautet der Titel des Programmentwurfs, der auf einem Bundesparteitag im Januar beschlossen werden soll. Eine Aussage zur Frage der Regierungsbeteiligung macht der Programmentwurf nicht. Zu hoch gegriffen scheint der Gedanke, mit 3 Prozent in den Umfragen an Regierungsbeteiligung zu denken. Doch je nach Wahlausgang wird Die Linke als Mehrheitsbeschafferin für progressiv-neoliberale Bündnisse gebraucht oder, wie in Sachsen und Thüringen, um das politische Zentrum überhaupt regieren zu lassen. Es ist dann eine neuerliche Gelegenheit zu beweisen, dass Die Linke »regierungsfähig« ist. Der sozialistischen Bewegung ist zu wünschen, dass ihre letzte relevante Organisation, die Partei Die Linke, sich nicht in die Herrschaftssicherung einbinden lässt. Wenn sie sich nicht von den anderen Parteien unterscheidet und ihnen hilft, den Status quo zu festigen, wird sie 2025 vielleicht knapp in den Bundestag einziehen. Ob sie es 2029 aber wieder schafft, wäre dann noch ungewisser.
Fabian Nehring ist Politikwissenschaftler und aktives Mitglied bei der LINKEN in Berlin.